„Schon wieder ein Update?" fragt ihr euch. „Warum?"
Es sieht nach einem wunderschönen Tag aus und das ist Grund genug! ;)
Zwei kurze Anmerkungen zu Fragen:
Das Kapitel wird ungefähr 34 Kapitel haben.
Die Grabinschrift Aragorns ist aus dem Soundtrack-Booklet der grünen Limited Edition mit Ledereinband.
von: Salara und ManuKu
Teil 27
Mehrere Stunden von der schutzsuchenden Fünfergruppe um Elrond entfernt, kämpfte sich auch der Südländertrupp durch das zunehmend winterlicher werdende Land. Die auch bei Tage weiter sinkenden Temperaturen verwandelten den Wind in eisige, über die bloße Haut schabende Messerklingen und ließen die Atemluft von Mensch und Tier zu weißen Wolken gefrieren. Erneut begann dichter Schnee zu fallen.
Gomar, der an der Spitze seiner Männer ritt, nahm all das jedoch nur am Rande wahr. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf Aragorn gerichtet, der vor ihm auf dem Pferd hing und nicht den Eindruck machte, als würde er jemals wieder erwachen.
Doch Gomar wusste es inzwischen besser. Wieder und wieder hatte er in den vergangenen Stunden seine Fingerspitzen zum Hals des jungen Mannes wandern lassen, um dort nach jenem einen verräterischen Pulsschlag zu fühlen, und die Regelmäßigkeit, mit der dieser eine Lebensimpuls kam, trug sehr dazu bei, die Vorfreude des Südländers auf seine so lang ersehnte Vergeltung noch zu schüren. Bilder voller Gewalt und Blut tanzten durch Gomars von Rachedurst trunkenes Hirn und mischten sich zu einem Reigen des Irrsinns. Äußerlich blieb er ruhig und gelassen, doch innerlich vibrierte er förmlich vor Erwartung.
Während er sein Pferd mit einem heftigen Ruck am Zügel davon abhielt, eigene Wege einzuschlagen, ruhte Gomars andere, inzwischen unbehandschuhte Hand erneut an Aragorns Hals.
...vierundzwanzig ... fünfundzwanzig ... sechsundzwanzig... zählte der Südländer in Gedanken, als ein weiterer Pulsschlag ihn unterbrach.
Sechsundzwanzig! Kürzer als beim letzten Mal! Jetzt war er sich sicher: Der junge Mann würde in Kürze erwachen!
Das Grinsen, das sich dabei auf seine Züge schlich, war verzerrt und machte seine Miene zu einem Spiegel seiner gewalttätigen Gedanken.
Bald schützt dich der Schlaf nicht mehr. Dann gibt es nur noch dich und mich. Du wirst bezahlen für die Tat deines Vaters...
„Herr?"
Man musste kein Hellseher sein, um zu begreifen, das dies ein wirklich ungünstiger Moment war, Gomar aus seinen Gedanken zu reißen. Doch das schnell schlechter werdende Wetter ließ Morag keine andere Wahl. Lange konnten die Tiere sich nicht mehr gegen den Wintersturm stemmen.
„Herr, bitte hört mich an..."
Gomars Kopf fuhr zu Morag herum. Die dunklen Augen des Südländers glühten in einem unheilverkündenden Feuer. „Was willst du?"
Morag blinzelte, während ihm die Eiskristalle vom Wind wie Nadeln in die Augen getrieben wurden. „Das Schneetreiben wird immer dichter, Herr. Die Kälte hat zudem den feuchten Boden gefrieren und uneben werden lassen. Die Pferde finden kaum noch einen sicheren Halt. Die Gefahr, dass eines stürzt und sich dabei so verletzt, dass wir es töten müssen, ist zu groß. Wir müssen rasten, bis sich das Wetter wieder beruhigt."
Einen Moment lang sah Gomar aus, als wollte er seinem Untergebenen die Kehle mit der bloßen Hand herausreißen, doch dann spähte er mit schützend zusammengekniffenen Augen in die Umgebung. Er beobachtete, wie mühsam seine Leute ihre Tiere gegen das Schneetreiben ankämpfen ließen.
Langsam, gleichsam widerwillig, nickte er. „Du hast Recht. Wir müssen uns nach einem geeigneten Lagerplatz umsehen."
Rasch glitt Gomars Blick in die Runde. Sie befanden sich noch immer im Wald, doch die Stämme standen nicht mehr ganz so dicht beieinander wie noch ein paar Stunden zuvor. Bald würde der Wald sich ganz lichten und offenem Gelände Platz machen. Das Gebirge musste inzwischen bereits ein deutliches Stück näher herangerückt sein, doch der Schnee ließ keine genauere Sichtorientierung zu. Lediglich einige einzelne Felsen am Weg verrieten, dass die Reiter sich wirklich den Bergen näherten.
Das Land hier ist zu offen, als dass die Bäume uns noch genügend Schutz vor dem Unwetter bieten könnten. Ich wünschte, wir hätten die Nebelberge schon erreicht. So jedoch verlieren die Gefangenen nur vor der Zeit ihr Leben. Sie sollen zwar sterben, doch durch meine Hand, nicht durch Schnee und Kälte...
Noch während er verdrossen diesem Gedanken nachhing, trat in einiger Entfernung eine zunächst undefinierbare dunkle Masse aus dem Einheitsgrau heraus. Als Gomar näher darauf zu ritt, erkannte er, dass es sich um eine zusammenhängende Felsformation handelte. Sie schien stellenweise mehr als zwanzig Meter Höhe zu haben und dehnte sich offenkundig über ein beachtlich großes Gebiet aus. Instinktiv wusste der Südländer, dass er nach einem schützenden Platz wie diesem gesucht hatte.
„Dorthin!"
Er deutete auf die Felsgruppe und lenkte sein Tier in die entsprechende Richtung. Aus den Augenwinkeln sah Gomar, dass die Männer ihm dichtauf folgten. Zweifellos waren sie dankbar, für einige Zeit dem Wüten der Elemente entkommen zu können.
Nach nur wenigen Minuten hatten die Südländer die Felsformation erreicht. Der Ort erwies sich als nahezu ideal, denn Felsen rahmten ihn an zwei Seiten ein, während die beiden anderen offenen Flanken von genügend Bäumen bewachsen waren, um sowohl die Pferde an ihnen festzumachen als auch um in Notsituationen halbwegs annehmbar zur Verteidigung und Deckung zu dienen.
Gomar hatte sein Tier inzwischen gezügelt und sich umgesehen. Erst jetzt, da die hohen Felswände den Schneefall abschwächten, erkannte er, dass an einer Stelle eine mannshohe Öffnung im Fels gähnte.
Gomar wusste, dass die meisten Höhlen wilde Tiere verbargen, doch er war entschlossen, sie für sich als Zuflucht zu erobern. Er hatte nicht die Absicht, wie seine Leute im Freien zu lagern. Kurzentschlossen wandte sich der Südländer zu den drei Männern um, die direkt hinter ihm ritten. „Entzündet eine Fackel, dann kommt mit mir. Morag, du gibst auf meinen Gefangenen acht."
Er warf seinem Untergebenen die Zügel zu, stieg ab und schlich mit seinen Leuten vorsichtig zur Höhle hinüber, in der sie schließlich mit gezückten Waffen verschwanden. Nach einer Weile tauchten sie wieder auf. Sie hatten zwar einige ausgebleichte Knochen in den Tiefen gefunden, doch ansonsten keine Spur eines Raubtieres. Während die Krieger sich wieder den anderen anschlossen, blieb Gomar im Eingang stehen und winkte die Reitergruppe zu sich.
„Die Höhle ist verlassen, der Platz sicher. Wir schlagen hier das Lager auf, bis das Unwetter nachlässt."
Gomar wartete, bis die Gruppe in den Felsenkessel eingeritten und abgestiegen war, dann ging er zu Morag zurück. Der war bereits dabei, den Aufbau des Camps zu organisieren.
„...und je ein Mann als Wache auf die Felsen links und rechts. Sucht euch einen Platz, von dem aus ihr die gesamte Umgebung überblicken könnt. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, sind unliebsame Überraschungen. Die anderen schaffen die Pferde an eine windgeschützte Stelle und versorgt sie. Keine Zelte – dafür bleiben wir nicht lange genug. Und entzündet ein Lagerfeuer, aber haltet es klein. Den Verräter bindet da drüben fest."
Morag deutete auf einen Baum, der rechts neben dem Höhleneingang stand und gut von dort aus zu sehen sein würde. Er war nun lange genug Gomars rechte Hand, um zu wissen, dass sein Herr BEIDE Gefangene im Blick haben wollte, auch wenn seine Aufmerksamkeit zur Zeit einzig auf Aragorn gerichtet zu sein schien. „Ein Mann zu seiner Bewachung."
Routiniert machten sich alle an die Arbeit. Morag, der noch immer die Zügel von Gomars Pferd hielt, wandte sich seinem Anführer zu.
„Was befehlt Ihr für den anderen Gefangenen, Herr? Soll mit ihm in gleicher Weise verfahren werden wie mit dem alten Mann?"
Gomar schüttelte wortlos den Kopf, während sein bösartiger Blick keine Sekunde von Rivar wich. Dieser, inzwischen mehr tot als lebendig, war im Sattel zusammengesackt und schien nur noch von den Stricken gehalten zu werden, die ihn an das Reittier fesselten. Sein Kopf rollte wie bei einer Puppe haltlos von einer Seite zur anderen, als ihn die Männer losschnitten, aus dem Sattel zogen, die dünne Decke von seinen knochigen Schultern streiften und dann sicher an den bezeichneten Stamm fesselten.
„Nein..."
Mit Gomars Erwiderung hatte Morag fast schon nicht mehr gerechnet. „Hilf mir, ihn in die Höhle zu schaffen, Morag, und sorge dafür, dass meine Sachen ebenfalls hineingebracht werden. Bevor wir wieder von hier aufbrechen, werde ich einiges davon brauchen."
Morag wusste instinktiv, welche Teile seiner Ausrüstung Gomar meinte. Gomar war es leid, zu warten. Er wollte seine so lange erträumte Rache zumindest schon einmal kosten – hier und jetzt!
Gewaltsam unterdrückte er jeden Gedanken an das unvermeidlich Kommende, als er hastig die notwendigen Anweisungen gab, sich dann den bewusstlosen jungen Mann auf die Schultern lud und hinter seinem Anführer die Höhle betrat.
Während Morag langsam weiter ins Höhleninnere ging, ließ er seinen Blick aufmerksam umherschweifen. Das Gemisch aus dämmerigem Tageslicht und flackerndem Fackelfeuer erhellte den von kleinerem Gesteinsschutt, Schmutz, Knochenresten und altem Laub bedeckten Boden und eine erstaunlich hochhängende Decke. Weiter hinten tanzten Schatten über raue steinerne Wände und natürlich entstandene Säulen. Hinter ihnen schien es tiefer in die Höhle hineinzugehen, doch sicher war Morag sich dessen nicht.
„Leg' ihn dort ab." Gomar deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf eine der Säulen, während er den Männern entgegensah, die gerade seine Besitztümer hereinbrachten. „Die Sachen kommen nach rechts. Entfacht mir ein Feuer, dann lasst uns allein."
Die Krieger erledigten die ihnen aufgetragenen Arbeiten rasch und verschwanden wieder wortlos.
Der bewusstlose Aragorn lag inzwischen an die Steinsäule gelehnt am Boden. Morag war einen Schritt zurückgetreten und wandte sich wieder seinem Anführer zu. Als er jedoch sah, was Gomar da gerade aus einem der Bündel kramte, verschluckte er die Frage, die ihm bereits auf der Zunge lag. Es war Sytharm, die Droge, von der Gomar während der Jahre ihrer Suche abhängig geworden war. Morag hatte ihre Auswirkung auf seinen Herrn oft genug beobachten können und wusste, dass sie die ohnehin nur noch mühsam im Zaum gehaltene Aggressivität Gomars weiter verstärken würde. Sein Blick wanderte zu Aragorn zurück, dessen Züge im flackernden Zwielicht noch jugendlicher erschienen als bei Tageslicht.
Vielleicht nimmt Gomar so viel, dass er ihn in einem Wutanfall schnell tötet. Bitte, ihr Götter, ich habe genug Blut gerochen, zu viele Menschen unter Qualen sterben sehen. Es muss aufhören...
Aber irgendwie vermochte Morag nicht daran zu glauben, dass ihm der Anblick eines gepeinigten Aragorn erspart bleiben würde.
„Ahhh..." Gomar schloß gerade genießerisch für einige Sekunden die Augen, als sich jenes wohlvertraute und schon so lang entbehrte Feuer der Droge heiß durch seine Adern fraß. Doch wo sie ihn zuvor mit angenehmer Schläfrigkeit gelockt hatte, heizte sie ihn nun auf, schärfte seine Sinne auf fast schmerzhafte Weise, bis er jede einzelne Faser seines Körpers spüren konnte. Er selbst, sein ganzer Körper, jeder Gedanke... alles pulste im Rhythmus des Herzens.
Es war dieser Moment, in dem Gomar die Reaktion seines Gefolgsmannes wahrnahm, ohne sie eigentlich wirklich zu sehen. Morags verabscheuende Blicke schienen fast wie Dornen über seine sensibilisierte Haut zu kratzen. Sorgfältig stöpselte er die fast leere Flasche wieder zu und schob sie hinter seinen Gürtel, stand noch einen Moment lang reglos da, dann war er mit zwei langen Sätzen neben Morag.
Noch ehe dieser Zeit zum Reagieren bekam, hatte Gomar bereits seinen Dolch gezogen und die Spitze an die Kehle seines Stellvertreters gepresst, während er die andere Hand um den Nacken schlang und so dessen Hals noch fester an die Klinge presste. Mit jedem Atemzug, den Morag nun tat, grub sich die Dolchspitze tief in seinen ungeschützten Hals, ohne ihn jedoch wirklich zu verletzten. Nur etwas mehr Druck oder eine unbedachte Bewegung und das würde sich ändern.
Mit ungläubigem Blick und so starr wie die Felsen hinter ihm, wechselte sein Blick zwischen der Waffe und der Miene seines Herrn hin und her. „Was..."
Morags Stimme klang unerwartet heiser, doch er wagte es nicht, sich zu räuspern und unterdrückte den Drang, gegen eine plötzlich ausgetrocknete Kehle anzuschlucken. „Was habe ich getan, um das zu verdienen, Herr?"
Gomar fühlte Morags Furcht, spürte sie unter seinen Fingerkuppen vibrieren und hätte beinahe aufgestöhnt. Das war das Gefühl, das er brauchte wie die Luft zum Atmen: Macht! Macht über andere! So viel Macht in einer einzigen Geste...
„Du wagst es, über mich zu urteilen!"
„Aber ich würde niemals..." Morags Protest erstickte unter dem Druck der Dolchklinge sofort wieder. Dennoch blieb er so reglos und angespannt stehen, dass seine Muskeln zu schmerzen begannen.
„Lüg mich nicht an!" donnerte Gomar. „Ich kann es sehen. Konnte es immer sehen. Es sind deine Augen. Sie verraten dich. Die Augen verraten jeden. Man muss nur genau genug hineinsehen. Doch du weißt gar nicht, was es heißt, WIRKLICH zu sehen. Du bist blind wie all die anderen da draußen. Wenn du wahrhaft sehen könntest, würdest du niemals über mich urteilen. Ich werde jetzt dafür sorgen, dass du fühlst, was ich fühle, und damit wahrhaft zu meinem Vertrauten wirst. Nimm die Flasche aus meinem Gürtel und trink. Trink sie aus."
Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, verstärkte er den Druck seiner Dolchklinge geringfügig. Sie bohrte sich einige Millimeter in die Haut Morags. Der konnte fühlen, wie ein Blutstropfen aus der Wunde perlte und den Hals hinablief. Dann ein zweiter. Der Stahl des Dolches brannte wie ein Feuerpfeil in seinem Fleisch.
Wenn ich das tue, werde ich wie er. Wenn nicht, tötet er mich...
Morag zögerte – für Gomar eine Sekunde zu lange. Wieder wurde der Druck am Morags Hals stärker. Mehr Blut floß. „Trink, sage ich!"
Noch nie hatten Morags Hände gezittert, doch als er das Fläschchen endlich aus dem Gürtel seines Anführers gefischt hatte, merkte er, dass sie bebten. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Morag Angst, doch nicht die Stahlklinge an seinem Hals rief sie hervor, sondern der Blick in Gomars Augen. Das Irrlichtern darin war kaum noch zu ertragen.
Ich will nicht selbst so werden. Eher sterbe ich...
„Nein!" Das Wort war seinem Mund entschlüpft, kaum dass er den Gedanken zu Ende geführt hatte.
„Du wagst es, dich mir zu widersetzen?"
Maßlose Wut lag in Gomars geknurrter Frage, doch für Morag klang sie bereits wie ein Todesurteil. Wenn er jetzt nicht die rechten Worte fand, konnte er sich die Klinge Gomars ohnehin gleich mit eigener Hand in den Hals treiben.
„Ja, Herr, das tue ich!" Morag zwang sich, Gomars Blick standzuhalten. „Ich schwor Euch Treue und Gehorsam, als wir vor vielen Jahren hierher aufbrachen. Meinem Schwur folgend habe ich Euch bis heute ergeben gedient. Doch gehorchte ich jetzt Eurem Befehl, könnte ich das nicht mehr, denn von nun diente ich der Droge, nicht Euch! Außerdem bin ich dieses Mittel nicht gewohnt. Es würde mich auf Stunden betäuben, nicht beleben wie Euch. Tötet mich, wenn Ihr glaubt, an meiner Ergebenheit Zweifel haben zu müssen, doch ich schwöre, dass ich Euch so ergeben wie am ersten Tag Eurer Suche bin und es immer sein werde..."
Sekundenlang herrschte Schweigen, ohne dass einer der beiden sich rührte. Dann ließ Gomar seinen Untergebenen los. Ohne die Klinge zurück in die Scheide zu stecken, nahm er Morag das Fläschchen aus den – plötzlich völlig ruhig gewordenen – Händen.
„Gut verteidigt, Morag! Nicht, dass deine Argumente sehr klug gewählt waren, aber zumindest merke ich einmal mehr, dass du ein geschickter Redner bist. Ein Talent, das dir für den Moment dein Leben rettet. Allerdings lag zumindest etwas Wahres in deinen Worten: du WIRST sterben, sollte ich jemals erneut Zweifel an dir haben. Das ist MEIN Schwur!"
Mit dem Daumen schnippte Gomar den Korken fort, dann setzte er das Steingutfläschchen an und leerte es in einem einzigen Zug. Anschließend warf er es achtlos fort. Das Klirren der Scherben auf dem felsigen Boden verhallte leise in den Tiefen der Höhle.
Morag, gerade noch einmal davongekommen, stand noch immer wie erstarrt an Ort und Stelle. Sein klopfendes Herz wollte sich nur zögernd beruhigen, vor allem angesichts des Bildes, das sich ihm nun bot.
Gomar hatte nämlich seinen Blick wieder auf die Dolchklinge gerichtet, an der ein Blutstropfen – Morags Blut – wie in Zeitlupe die Schneide hinablief. Im Fackellicht wirkte die Flüssigkeit fast schwarz. Ein nachdenklicher Ausdruck kroch langsam über Gomars Gesicht, als er sich auf einen größeren Stein setzte und der Bahn des Tropfens mit voller Konzentration folgte.
„Wie langsam es fließt... fast als zögere es, zur Erde zu fallen... hast du Blut schon jemals so langsam fließen sehen, Morag..."
Trotz der zielgerichteten Anrede antwortete Morag nicht. Er glaubte, dass Gomar sich mit dem letzten Schluck Sytharm endgültig in jenen Rauschzustand zurückkatapultiert hatte, in dem er sich während der vergangenen Jahre schon so oft befunden und der so manchen unglücklichen Krieger das Leben gekostet hatte. Er wollte nicht der nächste auf dieser Liste werden. Mit finsterem Blick sah er wieder zu Aragorn hinab. Dieser lag noch immer so da, wie er ihn liegengelassen hatte.
Langsam kniete Morag sich neben Aragorn und legte die Fingerspitzen suchend an dessen Halsschlagader. Inzwischen kamen die Pulsschläge viel schneller hintereinander, als es am vergangenen Abend in der Grabstätte noch der Fall gewesen war. Der Krieger begriff, dass es bis zum Erwachen nicht mehr lange dauern konnte.
In einem Punkt machte Morag sich seit Gomars Angriff eben nichts mehr vor: egal, wann der junge Mann die Augen nun tatsächlich aufschlug – er würde diese Höhle wahrscheinlich nicht mehr verlassen. Gomar wollte Aragorn sterben sehen; mehr noch, er wollte dieses Sterben zu einem Schauspiel machen.
Das zu verhindern lag nicht in Morags Macht und er hatte es auch nicht vor. Immerhin waren sie durch den Vater dieses Mannes nun schon seit über 20 Jahren in diesem eisigen Land und sehnten sich von Tag zu Tag stärker heim. Sicher, er verabscheute die ans Sadistische grenzende Besessenheit seines Anführers, doch dass der Sohn des Verräters den Tod verdient hatte, stand auch für Gomars rechte Hand fest.
Er holte sich ein Seil, dann zog er Aragorn so weit in eine sitzende Position hoch, dass er dessen Hände hinter dem Rücken kreuzen, fesseln und schließlich noch sicher an die Steinsäule binden konnte. Nachdem auch die Füße gefesselt waren, trat er zurück und lehnte sich wartend an eine der Felswände.
Die Geduld der beiden Südländer wurde auf keine harte Probe gestellt, denn kaum eine Viertelstunde später begann Aragorn sich zu bewegen...
Aragorns traumloser Todesschlaf wurde von einem Augenblick zum anderen durch eine Flut von Sinneseindrücken beendet. Sie drangen beinahe gleichzeitig in die Schwärze ein und stürzten wie eine gewaltige Woge über dem schutzlosen Bewußtsein des Menschen zusammen.
Hilflos dem Bombardement von Geräuschen, Gerüchen und Empfindungen ausgeliefert, versuchte er ihnen zu entfliehen, doch es war fast so, als steckte er in einem Sumpf fest. Jede Bewegung war so gut wie unmöglich. Er schaffte es kaum, seinen Kopf ein Stück zur Seite zu drehen, und war bereits nach dieser einen Bewegung erneut erschöpft.
Was ist mit mir? Bin ich krank?
Aragorn konnte sich an nichts erinnern, also entschloss er sich, die Augen zu öffnen und sich umzusehen. Bestürzt musste er Augenblicke später feststellen, dass die Lider ebenfalls aus Blei zu sein schienen. Sie blieben fest über seinen Augen geschlossen und versagten trotz aller Bemühungen ihren Dienst.
Wo bin ich? Was ist geschehen? Warum besitze ich keine Kraft?
Panik begann sich in ihm breit zu machen und die verwirrenden Bilder, die scheinbar ohne Ordnung durch seinen Geist huschten, verstärkten sie noch.
...ein Gesicht, dass sich über ihn beugte ... es war ihm vertraut, doch noch ohne Namen... Schmerz und Liebe spiegelten sich in blaugrauen Augen, die ihm Kraft gaben ... jemand hielt ihn fest ... ein von gedämpftem Licht erfülltes Zimmer ... Schmerzen, deren Stärke ihm den Atem nahm ... silbriges Haar umrahmte ein abgewandtes Antlitz ... Legolas, so verloren, alleingelassen ... eine hitzige Diskussion, die er mit... Elrond ... seinem Vater ... führte ... sein Vater ...
„Ada..." Das Wort, geboren aus der Bilderflut in seinem Kopf, entschlüpfte Aragorns Lippen beinahe ohne dessen Zutun, und es war nicht mehr als ein Hauch, kaum lauter als das Fauchen des Wintersturms vor der Höhle, doch es genügte, um die Aufmerksamkeit der beiden Südländer zu erregen.
Keine Sekunde später hasteten sie auf ihn zu, doch Aragorn, der noch immer nicht die Kraft besaß, die Augen zu öffnen, vernahm nur den Klang der mit schwerem Leder besohlten Schuhe auf dem Höhlenboden. Für seine noch überreizten Sinne klang es wie das Getrappel einer ganzen Tierherde und er war froh, als es irgendwo in seiner Nähe verstummte.
Aragorn verlor den Gedanken an die Schritte fast augenblicklich wieder, während er sich – nach wie vor gelähmt, blind und orientierungslos – weiter auf die Geräusche in seiner Umgebung konzentrierte.
Er vernahm ein prasselndes Knacken. Vielleicht war das ein Feuer, doch sicher war er sich dessen nicht, denn er spürte keine Hitze und roch auch keinen Rauch. In einiger Entfernung hörte er noch ein anderes, kaum wahrnehmbares Geräusch, das er erst nach längerer Überlegung als das Plätschern von Wasser identifizierte.
Wasser...
Jetzt, wo er darüber nachdachte, spürte er erst, welchen Durst er hatte. Für einen einzigen Schluck Wasser hätte Aragorn in diesem Augenblick bereitwillig alles gegeben, doch selbst wenn jemand zu diesem Tauschhandel bereitgewesen wäre: dem jungen Mann fehlte schlichtweg die Stimme, seinen Wunsch nach Wasser zu äußern. So nutzte er das winzige Quentchen Kraft, das er inzwischen angesammelt hatte, dazu, krampfhaft gegen das Brennen in seiner Kehle anzuschlucken.
Die Lippenbewegung war den beiden Südländern natürlich nicht entgangen. Im nächsten Augenblick tasteten Finger an seinem Hals nach einem Puls.
„Er kommt endlich zu sich."
Aragorn vernahm die Stimme dicht neben sich, doch sie kam wie aus weiter Entfernung. Noch ehe er in seiner nur langsam wiederkommenden Erinnerung nach einem zum Klang passenden Gesicht suchen konnte, fühlte er sich am Kinn gepackt. Jemand hob seinen Kopf an. Schüttelte ihn heftig, schmerzhaft und unwillig. Ließ ihn gleich darauf wieder los. Kraftlos, wie er noch immer war, konnte Aragorn nichts dagegen tun, dass sein Kopf nach vorn fiel.
„Mach' die Augen auf!" Die Worte waren grob. Voller Wut. Und so laut, dass ihr Klang fast noch mehr schmerzte als der derbe Griff zuvor.
Nur zu gern wäre Aragorn der Aufforderung gefolgt, doch noch immer besaß er nicht genügend Kraft dafür.
Stille kehrte ein, doch nur für einen Moment. Dann vernahm er das Rascheln von Stoff auf Stoff. Jemand war in seiner Nähe. Wiederum blitzte für eine Sekunde ein Bild auf. Diesmal jedoch konnte er es zuordnen, konnte sich an den Moment entsinnen, als er das erste Mal fiebernd erwacht war und Elrond neben sich vorgefunden hatte...
...Elrond, der neben ihm saß ... die Hand des Elben lag auf seiner Stirn ... „Sieh mich an, Estel!"...
„Du sollst mich ansehen!"
Die Worte schienen direkt aus seiner Erinnerung zu kommen und der fremde Tonfall verschmolz mit Aragorns Erinnerung, wurde für die verwirrten Sinne des jungen Mannes zu Elronds Stimme.
Sein Pflegevater... Wie gern hätte er ihm diesen Wunsch erfüllt.
„Vater?"
Er schluckte krampfhaft, denn das eine Wort schien seine ausgedörrte, brennende Kehle immer noch nur mühsam verlassen zu wollen. Inzwischen war der Durst unerträglich für Aragorn geworden. Er schluckte verzweifelt, wieder und wieder, doch er erreichte damit nichts weiter, als seine Qual zu vergrößern.
„Wasser..." Die Bitte war so leise, dass er sich selbst kaum verstand, doch er war froh darüber, doch noch die Kraft zum Reden gefunden zu haben.
Einen Moment lang herrschte Stille.
„Geh!" Wieder war es diese Stimme, und jetzt erkannte Aragorn auch, wie herrisch sie klang.
Er vernahm, wie Schritte sich von ihm entfernten. Wieder näher kamen. Jemand hob seinen Kopf an, presste ihm etwas an die Lippen. Einen Wasserschlauch. Dankbar trank er, und mit jedem Schluck, der nicht daneben, sondern in seine brennende Kehle hinabrann, kehrte ein wenig mehr Bewußtsein zu ihm zurück.
„Genug!"
Enttäuschung machte sich in Aragorn breit, denn der Schlauch wurde fortgenommen. Wieder pendelte sein Kopf hin und her, als man ihn losließ, doch diesmal fiel er zur Seite.
„Und nun mach' endlich die Augen auf!"
Die Kühle des Wasser lag noch in seiner Kehle. Sie gab Aragorn die nötige Kraft, der ungeduldigen Aufforderung zu folgen.
Langsam schob er die Lider einen Spalt breit auseinander.
Zuerst war alles verschwommen, ein Meer aus grauen Schlieren und wenigen helleren Flecken, doch als er mehrmals blinzelte, nahm das Bild vor seinen Augen endlich schärfere Konturen an, bis es sich zum Anblick von Felsgestein verfestigte.
Stein? Wieso? Vater, wo...
Aus seinem verwirrten Bewußtsein schälte sich spontan eine neue Erinnerung. Sie war so machtvoll, dass er die beiden Südländer, die durch ihre dunkle Kleidung perfekt mit der Höhlendämmerung verschmolzen und schweigend seine Reaktionen beobachteten, schlichtweg übersah.
Für Aragorn war mit einem Schlag weiteres Wissen greifbar geworden: sein Streit mit Elrond und wieviel Mühe es ihn gekostet hatte, den Elbenherrn davon zu überzeugen, dass es auf lange Sicht keine andere Möglichkeit als diesen vorgetäuschten Tod gab.
Er war so überzeugt davon gewesen, den perfekten Plan gefunden zu haben. Erst, als er im „Sterben" den Schmerz in den Gesichtern seiner Brüder erblickte, war für einen Moment das Bedauern erwacht, dass Elrond sich hatte überreden lassen. Doch in jenem Augenblick hatte es kein Zurück mehr gegeben.
Und das gab es für Aragorn jetzt noch viel weniger als zuvor, denn sein noch immer halb betäubter Verstand hielt das Gestein, auf das sein Blick gerade fiel, für einen Teil der Grabkammer. Dass er sich bereits in einer halb sitzenden Position befand, entging ihm dabei in seinem Dämmerzustand.
Bin ich etwa noch eingeschlossen? Vater hat mir doch versprochen, dass ich erst im Freien wieder erwachen würde.
Um die aufsteigende Furcht gewaltsam zurückzudrängen, schloss Aragorn erneut kurz die Augen und atmete tief durch.
Er muss sich bei der Zubereitung des Trankes vertan haben.
Ein schmerzhaft heftiger Schauder durchlief jede Faser seines Körpers. Auf die eisige Winterluft, auf die nun ebenfalls einsetzenden Schmerzen, die von den Schnitten auf der Brust herrührten, sowie die gleichzeitige Wiederaufnahme der normalen Lebensfunktionen reagierte Aragorns Körper mit einem Schock. Er schob das Empfinden der eisigen Kälte auf seiner Haut auf den Gedanken, lebendig begraben zu sein.
Plötzlich war Panik in ihm; eine Panik die so stark war, dass es ihm das Herz abzuschnüren drohte. Er riss die Augen wieder auf – und bereute es sogleich, denn der staubige Fels kam immer näher und näher, drohte ihn fast einzuschließen. Die Stimme, die ihn eben noch aus seiner Bewusstlosigkeit gerissen hatte, war bereits völlig vergessen.
Was, wenn Bruchtal erneut überfallen wurde und das Schlimmste geschehen ist? Was, wenn keiner mehr lebt, der weiß, dass ich hier eingeschlossen bin?
Der Gedanke war unerträglich für Aragorn.
„Nein! Ich will ... hier raus..."
Er begann zu keuchen, als kämpften seine Lungen bereits um die letzten Luftreserven. Er presste die Lider wieder zusammen, um den Stein nicht mehr ansehen zu müssen, der – wie in seinem Alptraum – weiter unerbittlich auf ihn zuzukommen schien.
Es dauerte etliche Sekunden, bis er sich endlich etwas beruhigt hatte, der anfängliche Schock nachließ und seine natürliche Gelassenheit wieder die Oberhand gewann. Aragorn begriff, dass er sich der Panik nicht ergeben durfte, sondern aufrichten und nach einem Ausweg suchen musste, doch bevor er dazu kam, die Augen wieder zu öffnen, ließ ihn jene Stimme zusammenfahren, an die er inzwischen nicht mehr mit einer Silbe gedacht hatte.
„Ich bin es leid, zu warten. Ich weiß, dass du wach bist, also mach' die Augen auf oder ich schneide dir die Lider aus dem Gesicht, auf dass du sie nie wieder schließen kannst!"
Weniger die Worte ließen das Blut in Aragorns Adern gefrieren, sondern vielmehr der Tonfall, in dem sie geäußert wurden. Die Stimme des Sprechers war von einem Klang gefärbt, der die geäußerte Drohung zu einer durch und durch ernst gemeinten Ankündigung machte.
Für die Dauer eines Herzschlages erstarrte Aragorn, dann öffnete er die Augen ein weiteres Mal. Wieder sah er als erstes nur den dunklen Felsboden, doch dann hob sich schwach das schwarze Leder zweier Stiefelspitzen davon ab. Etwas an der Perspektive erschien Aragorn jedoch falsch, also nahm er allen Willen zusammen und hob seinen Kopf, soweit es ihm möglich war.
Erst, als sein Blick unversehens in ein ihm unbekanntes Gesicht fiel, begriff der junge Mann, was ihn irritiert hatte: Er saß fast aufrecht, wo er doch eigentlich auf einem steinernen Altar liegen sollte.
Es war, als hätte ihn eine unsichtbare Faust getroffen.
Mit fieberhaften Blicken spähte er an sich hinab, sah die Stricke, die seine Knöchel zusammenbanden, sah die achtlos aufgeschnittene Tunika, die inzwischen getrockneten Blutspuren, die von den in die Brust geschnittenen Symbolen abwärts führten...
Reflexartig wollte er die Schnittwunden mit den Fingerspitzen berühren – und begriff erst jetzt, dass ihn etwas an dieser Bewegung hinderte. Ungläubig versuchte er seine Handgelenke frei zu bekommen, als ihm gleich darauf das Beißen viel zu eng gezogener, grober Fesseln die ganze Wahrheit klar machte und ihn endgültig aus seiner Benommenheit riss.
Er stellte sein Zerren ein, sah wieder auf und studierte dieses Gesicht, das ihm so fremd war. Angesichts der unheilvoll glühenden dunklen Augen und der zufrieden wirkenden Züge bedurfte es allerdings keiner Erklärung mehr. Aragorn begriff mit schnell wachsender Verzweiflung, dass er den Südländern schließlich doch noch in die Hände gefallen war!
Was ist nur geschehen? Was ist mit Bruchtal passiert? Was mit Vater? Er hätte nie zugelassen, dass sie mich bekommen. Lasst ihn noch am Leben sein, ich bitte euch, ihr Valar. Lasst sie alle noch am Leben sein...
Die Frage nach dem Schicksal seiner Familie brannte auf Aragorns Seele. Sie ließ ihn alles andere, inklusive der Gedanken an sein eigenes Los, zunächst zurückdrängen.
„Wie..."
Aragorns Stimme war die Fassungslosigkeit deutlich anzuhören. Er hätte sich am liebsten selbst dafür geohrfeigt, sie dem Südländer zu zeigen, doch sie ließ sich einfach nicht unterdrücken. Aragorns Seele, die Liebe zu seiner Familie, verlangte nach dieser Antwort. Er räusperte sich und setzte noch einmal an.
„Wie ist es dir gelungen, mich zu finden?" Aragorns Stimme war heiser und brüchig. „Niemand wußte, dass ich noch am Leben bin. Außer mein Vater und sein Ratgeber. Was ist mit den beiden? Was habt ihr mit ihnen gemacht?"
„Dein... dein Vater?" Gomar riss überrascht die Augen auf und starrte Morag an, der – ebenso fassungslos wie sein Anführer – nur hilflos mit den Schultern zuckte.
„Dann hat der Verräter mich also doch angelogen, als er mir sagte, Aradoran wäre tot!" Rasender Zorn legte sich über Gomars Gesicht. Er wandte sich um und spähte kurz ins Freie. „Das soll er mir büßen!"
Sein Blick schnellte gleich darauf zu Aragorn zurück, der inzwischen gar nichts mehr verstand.
Aradoran? Wieso Aradoran? Und welcher Verräter? Wen meint er...
Plötzlich dämmerte es ihm. Der Einzige, der neben den eingeweihten Elben die Bedeutung des Namens Aradoran kannte, war Rivar.
Schlagartig fielen weitere Puzzleteilchen an ihren Platz und das Begreifen ließ Aragorns Kehle eng werden.
Niemand hatte ihm etwas davon erzählt, doch es konnte einfach nicht anders sein: während er todkrank im Fieberkoma gelegen hatte, musste Rivar den Südländern in die Hände gefallen sein! Er war der einzige Außenstehende, der wusste, dass Arathorn sich einst Aradoran genannt hatte und sein Sohn, Aragorn, noch am Leben war!
Was hatten die Südländer bloß mit Rivar gemacht, um diese Information von ihm zu bekommen?
Allein der bloße Gedanke machte Aragorn krank, doch er wusste, dass er dem alten Mann nicht helfen konnte. Das Einzige, das er tun konnte, war den Irrtum aufzuklären und Rivar so vielleicht weitere Quälereien zu ersparen. Ein Blick in Gomars verzerrte Züge ließ jedoch wenig Hoffnung zu.
„Rivar hat dich nicht angelogen. Mein Vater... Aradoran, wie du ihn nennst... ist schon lange tot. Ich sprach von meinem Pflegevater, Elrond von Bruchtal, einem Elben. Er ist neben seinem Berater der Einzige, der wusste, dass mein Tod nur vorgetäuscht war. Doch das hätten die beiden niemals einem anderen verraten..."
Plötzlich blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, als er trotz seiner sich nur langsam ordnenden Erinnerungen die volle Tragweite seines Satzes zu begreifen meinte. Er befand sich zweifellos in der Gewalt der Südländer, also war das Geheimnis offenbar keines mehr. Das konnte nur eines bedeuten...
Für einen Moment bekam Aragorn keine Luft, als er im Geiste Elrond vor sich sah, grausam zugerichtet, gebrochen an Leib und Seele, nur um ihm dieses Wissen zu entreißen.
„Was habt ihr ihnen angetan? Wo ist mein Pflegevater jetzt?" flüsterte er und starrte Gomar mit aufgerissenen Augen an. „Lebt er noch?"
Gomar antwortete nicht. Ohne seinen Stellvertreter eines Blickes zu würdigen, trat er ganz dicht an Aragorn heran, ging dann neben ihm in die Knie und beugte sich so weit vor, dass nur eine Handbreit Platz zwischen seinem Antlitz und dem seines Gefangenen war. Lange Momente sah er forschend in die Augen des jungen Mannes, der sichtbar verzweifelt auf eine Auskunft zum Schicksal der Elben hoffte.
Der Balsam, der mein Blut beruhigt, ist die Furcht, die ich in dir sehe. Darauf habe ich so lange gewartet, fünfundzwanzig elende Jahre lang. Für jedes einzelne davon soll deine Angst mich entschädigen. Ich will noch mehr von ihr, und ich werde mehr bekommen. Viel mehr...
Seine Augen verengten sich und gaben seinen Zügen ein berechnendes Aussehen. Ohne einen Moment von Aragorn fortzuschauen, winkte Gomar nachlässig mit einer Hand.
„Ich brauche dich vorläufig nicht mehr, Morag. Geh. Lass uns allein und komm erst wieder, wenn ich ausdrücklich nach dir rufe."
Als Morags Schritte verhallt waren, grinste der Südländer Aragorn an, was den jungen Mann nervös schlucken ließ. In den Tiefen seiner silbergrauen Augen waren nun tatsächlich erste Spuren von Furcht sichtbar. Er versuchte, sie zu unterdrücken, doch das Wissen um die Ereignisse, die diesen Südländer zu seiner so erbarmungslosen Rache getrieben hatten, ließ ihn ahnen, was auf ihn zukommen würde.
Gomar, der ihn nach wie vor aufmerksam beobachtete, entging das nicht. Sein Grinsen vertiefte sich.
„Du hast Angst...", stellte Gomar zufrieden fest. Es klang fast so, als würde ihn das überraschen.
Aragorn war entschlossen, sich keine Blöße mehr zu geben, und schwieg daher. Der Südländer schien allerdings auch nicht ernsthaft eine Antwort erwartet zu haben, denn er fuhr spielerisch mit einem Finger über Aragorns ungeschützte Kehle.
Hin und zurück. Hin und zurück.
„Sie ist noch nicht intensiv genug, glaub mir."
Hin und zurück strichen die Finger in gleichmäßigem Rhythmus über Aragorns Kehle. Hin. Zurück...
Er musste alle Willenskraft zusammennehmen, um nicht vor der Berührung zurückzuschrecken. Gomar spürte trotzdem, was in seinem Gefangenen vorging. Im nächsten Moment legte er ihm die ganze Hand um den Hals. Der Druck, den er dabei ausübte, war so bemessen, dass eine flache Atmung möglich war und es dennoch wie eine sich langsam schließende Schraubzwinge wirkte. Aragorn konnte nicht verhindern, dass er schließlich zu keuchen begann.
„Du solltest wirklich Angst haben, denn ich bin entschlossen, die Zeit, die der Schneesturm uns hier festhält, zu nutzen. Aragorn ... Wenn mich der Verräter nicht angelogen hat, ist das dein Geburtsname, richtig?"
Selbst wenn Aragorn genug Luft bekommen hätte, wäre Schweigen seine Antwort gewesen. Gomar hingegen schien auch keine Bestätigung zu erwarten, denn er fuhr gleich darauf fort: „Was für ein stolzer Name. So stolz wie sein Träger bisher war..."
Mit einer Schnelligkeit, die Aragorn nicht erwartet hatte, schnellte plötzlich Gomars andere Hand vor. Sie legte sich über Mund und Nase des jungen Mannes und beraubte ihn so jeder Luftzufuhr.
Gomars schwarze Augen fokussierten sich auf die seines Gefangenen, der sich verzweifelt hin und her wand, um dem klammernden Griff irgendwie zu entkommen. Erfolglos. Die Fesseln ließen kaum eine Bewegung zu.
„Und siehe da, wie schnell Stolz überwunden werden kann. Du müsstest dich jetzt sehen... Verblüffend... Es gibt keinen Unterschied zwischen Menschen und Elben... So etwas Simples wie das Atmen macht alle Völker in Sekunden zu einer einzigen, wimmernden Rasse..."
Inzwischen tanzten helle Flecken vor Aragorns Augen. Er spürte, wie seine Bewegungen schwächer wurden. Noch ein paar Augenblicke würde es dauern, bis alles schwarz um ihn werden würde. So hatte es sich auch angefühlt, als Glorfindel ihm damals während des Übungskampfes die Luft genommen hatte.
Wie lange ist das her? Tage? Wochen?
Es hätten genauso gut auch Jahrzehnte sein können. In Aragorns benommenem Verstand hatten die Fakten noch keine endgültige Reihenfolge einnehmen können. Das Bild vor seinen Augen begann zu verschwimmen und machte imaginären Bildern Platz.
Gomar, der am Flattern von Aragorns Lidern gesehen hatte, dass sein Gefangener kurz davor war, das Bewußtsein zu verlieren, nahm genau in diesem Moment seine Hand von Aragorns Gesicht. Er wartete gerade lange genug, um ihm ein paar keuchende Atemzüge zu gestatten, ehe er den vorherigen Zustand wieder herstellte.
Erneut begann Aragorn sich erfolglos gegen das Abschneiden der Atemluft zur Wehr zu setzen, doch Gomar hatte beschlossen, ein Spiel daraus zu machen.
Er wartete, bis Aragorns Bewegungen zu erschlaffen drohten, und gewährte ihm dann einige kostbare Atemzüge, die gerade ausreichten, den jungen Mann für eine weitere Runde dieses perfiden Zeitvertreibs zu kräftigen, doch jedes Wort unmöglich erscheinen ließen.
„Siehst du, auf diese Art erhält man mit etwas Geduld jede gewünschte Information. Bei besonders sturen Gesprächspartnern kann man der Redefreude natürlich auch ein wenig nachhelfen. So zum Beispiel..."
Unerwartet nahm Gomar die andere Hand von Aragorns Kehle. Doch noch ehe dieser froh über die vermeintliche Erleichterung sein konnte, spürte er, wie sich Fingerspitzen in die Schnittwunden auf seiner Brust gruben. Blut floss erneut über seinen Körper und ein feuriger Schmerz rann durch Aragorns Muskeln, doch er bäumte sich vergeblich auf. Sowohl die Fesseln als auch Gomars Hand auf seinem Gesicht hielten ihn an Ort und Stelle. So verhallte das schmerzerfüllte Stöhnen beinahe ungehört. Nur Aragorns Augen spiegelten den Schmerz wieder, während er seinen Peiniger wutentbrannt anstarrte.
„Eine kleine Verletzung wie diese hier reicht schon, um die Motivation weiter zu erhöhen, wie du selbst merkst. Es gibt so viele Möglichkeiten. Wunden wie diese bieten sich für Experimente geradezu an..."
Gomars Worte begannen in Aragorns Ohren zu hallen.
Der sah, dass sein Gefangener erneut kurz vor einer Ohnmacht stand, und zog seine Hände wiederum fort. Diesmal jedoch ließ er Aragorn zu Atem kommen.
„Wie hat es sich angefühlt, hmm? Beängstigend? Quälend?" Er schnaubte leicht amüsiert. „Gewöhn' dich an dieses Gefühl; du wirst es noch oft spüren, bis du endlich sterben darfst..."
Er studierte Aragorns Gesichtsausdruck, sah den Mix aus Entschlossenheit, Furcht und Hass in den noch viel zu jugendlichen Zügen – und erinnerte sich wieder an die Frage seines Gefangenen.
„Du bist doch ein kluger Kopf, soweit ich das einschätzen kann. Dann streng' deinen Verstand mal an. Du bist jetzt hier und nicht in deiner Grabkammer, in der du zu erwachen glaubtest...Was, denkst du, war nötig, um zu erfahren, dass du noch lebst?"
Er verstummte, als er sah, dass Tränen in Aragorns Augen stiegen, die dieser ergrimmt wegzublinzeln versuchte. Begreifend, dass er offenbar einen Nerv getroffen hatte, beschloss Gomar die Pein seines Gefangenen noch zu verstärken.
„Elben, Menschen... Nordländer, Südländer... Wo ist der Unterschied? Alle sterben mit den gleichen Ängsten. Sogar das unsterbliche erstgeborene Volk macht da keine Ausnahme. Wusstest du, dass man die Furcht in ihren Augen genauso sehen kann wie in denen jedes normalen Menschen, wenn der Tod eintritt? Doch, wirklich! Ich konnte mich selbst davon überzeugen!"
„Dann..." Aragorns Stimme war heiser, als er – ganz, wie Gomar es gehofft hatte – seinen eigenen Schluß aus den Worten des Südländers zog. „... sind ... sie tot? Wirklich? Elrond auch?"
Der Südländer umging die Antwort geschickt.
„Ich weiß nicht, wie viele Elben tot sind oder wie sie hießen, und es ist mir auch völlig gleichgültig. Dich wollte ich, und dich habe ich bekommen! Vielleicht erleichtert es dich zu hören, dass der letzte Elb, der mir in die Hände fiel, nicht einmal Zeit hatte, sein Schwert zu ziehen und einen raschen Tod fand. Soviel Glück hatten nicht alle, und du ganz sicher nicht... Du wirst dank des Verbrechens deines Vaters leiden. Dein Tod wird langsam sein, denn du wirst für ihn mit büßen müssen. Ich kenne tausend Arten, Qualen zu verlängern... Aragorn..."
Gomar zog den Namen in die Länge wie eine Liebkosung.
„Wirklich ein stolzer Name! Zu schade, dass niemand ihn mehr aussprechen wird, der dir lieb und teuer ist. Du gehörst jetzt mir. Ich bringe dich in meine Heimat. Für viele Jahre wirst du mein Besitz sein, bis ich deiner leid bin und dich töten werde..."
Zum ersten Mal seit den vielen Jahren, die Gomar nun schon fern seiner Heimat war, streichelte so etwas wie Zufriedenheit sein Herz, als er sah, wie der junge Mann verzweifelt die Augen schloss, um den Kummer über den vermeintlichen Tod seines Pflegevaters zu verbergen.
Der Blick des Südländers ging kurz zum Höhleneingang, vor dem noch immer Schneeflocken ihren Weg zur Erde nahmen. Solange es schneite, saßen sie hier fest, doch jetzt hatte er eine Methode gefunden, die ungeplante Wartezeit zu nutzen. Zum ersten Mal konnte er einer Zwangspause etwas Positives abgewinnen.
Gomar sah zu Aragorn zurück, dem Schock und Schmerz nun deutlich ins Gesicht geschrieben standen, auch wenn die grauen Augen ihn nun trotzig anfunkelten. Die Seelenqual fraß noch immer an dem jungen Mann, das sah er deutlich. Sie allein mit Worten weiter zu schüren, bis die Seele tiefe Wunden trug, würde leicht sein, eine Fingerübung für ihn, der einst selbst eine solche Wunde erlitten hatte.
Er erhob sich und begann durch die Höhle zu laufen, immer darauf bedacht, in Aragorns Sicht zu bleiben. Keine Reaktion des jungen Mannes sollte ihm entgehen.
„Weißt du eigentlich, dass ich deinen menschlichen Vater fast ein halbes Jahr lang bei mir hatte? Ich genoß seine Gesellschaft ... Tag für Tag ... Nacht für Nacht ... Schrei für Schrei..."
wird fortgesetzt
