Es wird eine weitere Geschichte nach „Schuld und Sühne" geben, die jedoch erst veröffentlicht wird, wenn sie zu Ende geschrieben ist. Dann gibt es alle paar Tage ein Update und ihr müsst nicht so lange warten wie bei dieser Story. ;) Dann fühlt sich keiner im Stich gelassen, auf die Folter gespannt, auf eine Geduldsprobe gestellt... etc. ;))
von
Teil 28
Es war früher Vormittag, als die Südländer die Felsgruppe zu ihrem zeitweiligen Lager erkor, doch es hätte auch jede andere Tageszeit sein können. Rivar wäre sich dessen nicht bewusst gewesen. Für ihn lief die Zeit inzwischen in anderen Bahnen und er hatte längst vergessen, ob er sich erst Tage oder schon Wochen in Gomars Gewalt befand.
Seine Tage waren die Anzahl der Misshandlungen durch Gomar oder dessen Schergen, seine Stunden die Perioden, die er dazwischen bei Bewusstsein war. Seine Minuten bemaßen sich nach dem unerträglichen Pochen der entzündeten Brandwunden, den Schmerzen der unzähligen Striemen und Schnitte am gesamten Körper und dem immer tiefer werdenden Taubheitsgefühl in seinen Gliedern, hervorgerufen durch die dauerhafte, stramme Fesselung.
Den Aufbruch aus dem Waldlager hatte er bei vollem Bewußtsein erlebt, der Ritt hingegen war von einem Dämmerzustand überdeckt worden, aus dem ihn erst das Gefühl, grob aus dem Sattel gezerrt zu werden, geweckt hatte.
Ehe er noch oben oder unten bestimmen oder sich gar über seinen neuen Aufenthaltsort orientieren konnte, hatte man ihn bereits mit dem Rücken gegen einen Baum gepresst. Gleich darauf schlangen sich weitere Stricke über jene, die seine Handgelenke bereits hinter dem Körper fixierten, und ehe er auch nur einen einzigen, nutzlosen Gedanken an Gegenwehr verschwenden konnte, schnürten erneut Seile seinen Körper an den Stamm. Sogar unterhalb Rivars Kinn wanden sich Stricke um seinen Hals, so dass dem alten Einsiedler nicht einmal die Erleichterung vergönnt war, den müden Kopf auf die Brust sinken zu lassen.
So blieb dem zu Tode erschöpften, ausgehungerten, durstigen und völlig unterkühlten Mann nur der hilflose Blick auf jenes dunkel gähnende Höhlenloch, in das Gomar und sein Helfershelfer Aragorns leblosen Körper getragen hatten.
Gern hätte Rivar zum letzten Mal die Flucht zurück in jenes angenehme Vergessen angetreten, das alle Schmerzen tilgte, doch seit er Arathorns Sohn in Gomars Klauen wusste, kämpfte er gegen den Sog an, der ihn dorthin zurückholen wollte. Zuviel hatte Rivar damals in Gomars Verliesen gesehen, zu deutlich dessen Irrsinn nun am eigenen Leib verspürt, um das Schicksal des jungen Mannes einfach ignorieren zu können.
Der Wind trieb Schneeflocken an ihm vorbei. Ein paar blieben immer wieder auf seiner Haut haften, schmolzen dort und liefen schließlich als Wassertropfen an ihm herab. Doch Rivar fror nicht mehr. In den ersten Momenten, nachdem man ihn des spärlichen Schutzes der alten Decke beraubt hatte, hatte er gefroren. Das Zittern hatte allerdings schnell aufgehört und von der eisigen Kälte waren nur die weißen Wölkchen seines Atems und eine Taubheit geblieben, die jener ähnelte, die seine Fesseln erzeugten.
Rivar hatte zu lange in den Wintern dieses nördlichen Landstriches gelebt, um nicht zu wissen, dass dies die ersten Vorzeichen des Erfrierens waren. Noch eine Stunde oder zwei, dann würde er einfach einschlafen – ohne Schmerz, unwiderruflich... und nie wieder aufwachen.
Nein, riss er sich zusammen. Ich darf nicht einschlafen! Ich muss leben. Vielleicht gelingt es mir ja doch irgendwie, Gomars Zorn ganz auf mich zu richten, weg von dem Jungen...
Festgehalten von dem unerfüllbaren Traum, das Leben Aragorns auf irgendeine Art zu retten, begann Rivar an seinen Fesseln zu arbeiten. Der rationale Teil von ihm wusste, dass es aussichtslos war, doch die Hoffnung ließ ihn das vergessen. Das grobe Seil scheuerte in den ohnehin aufgerissenen Wunden, ließ sie bluten und verursachte ein Brennen, das den Einsiedler zwar wach hielt, ihn gleichzeitig aber auch weiter schwächte.
Seine Handgelenke hatten nicht einmal einen Millimeter Spielraum, doch Rivar gab nicht auf. Er stemmte sich unablässig gegen die Stricke und konzentrierte sich dabei so sehr darauf, dass er nicht bemerkte, wie sich ihm jemand von der Seite her näherte.
„Du kannst die Fesseln nicht abstreifen. Und wenn doch, kämst du keine zwei Schritte weit. Gib es auf."
Rivar erstarrte, als hätte ihn ein Schwall eisigen Wassers getroffen. Er sah auf. Vor ihm stand Fari'yan und musterte ihn mit undeutbarem Blick.
Erleichtert, dass es niemand anderer als sein ehemaliger Freund war, entspannte Rivar sich ein wenig.
„Lass mich in Ruhe und geh zurück zu deinesgleichen. Ich sag's nochmal: das verstehst du nicht."
„Oh doch, ich denke schon." Fari'yan sah flüchtig zum Höhleneingang hinüber. „Glaubst du denn, mir ist nicht aufgefallen, wie sehr dich der Anblick von Gomars neuem Gefangenen erschüttert hat? Es heißt, das sei der Sohn dieses Aradoran. Das ist wahr, oder? Er ist der Grund, aus dem wir noch immer hier sind."
„Aragorn ist zwanzig. Er war noch nicht einmal geboren, als das damals geschah. Es ist Unrecht, ihn für etwas büßen zu lassen, das sein Vater tat."
„Es ist nicht an uns, über Recht oder Unrecht zu befinden," unterbrach ihn Fari'yan. „Wir sind geboren, um zu dienen, zu gehorchen und..."
„Ihr seid geboren, um zu sterben. Um wie dummes Vieh abgeschlachtet zu werden, wenn es diesem Irren gefällt!" Rivars Stimme hatte trotz der unüberhörbaren Erschöpfung nun einen groben Tonfall angenommen.
„Wir sterben für unsere Tradition, für unseren Herrn, du hingegen für deinen Verrat." Die Worte Fari'yans klangen viel überzeugter, als der Mann es tatsächlich war. „Unsere Traditionen verlangen, dass Gomar die erlittene Schmach mit dem Blut des Schuldigen abwäscht! Das weißt du genauso gut wie ich. Du bist immer noch ein Südländer, einer von uns..."
„Ich bin keiner von Euch," unterbrach Rivar ihn. „Nicht mehr. Und das ist wahrscheinlich das Beste, das mir je passieren konnte. Die alten Traditionen sind so überlebt wie Gomars Traum von unbegrenzter Macht, wie seine Meinung, nur mit Gewalt, Furcht und Blut regieren zu können. Ich habe gesehen, dass es auch anders geht. Und dass es besser funktioniert. Sag mir nicht, dass du all das nicht auch satt hast, denn es wäre eine Lüge. Es wird Zeit für etwas Neues, etwas Besseres, und du weißt das..."
Rivar war zunehmend leiser geworden und verstummte schließlich ganz. Das Sprechen und der neuerliche Blutverlust hatten die wenigen Kraftreserven, die sein Körper noch besaß, fast verbraucht.
„Ach, und das Bessere wärst dann wohl du?"
Aus der Frage tropfte ein Sarkasmus, der verbergen sollte, dass Fari'yan durch Rivars unbeugsame Haltung längst zum Nachdenken gebracht worden war. Wenn sein ehemaliger Freund bereit war, alles aufzugeben und sogar dafür zu sterben, musste mehr dahinterstecken als nur fehlgeleitete Loyalität.
„Nein..." flüsterte Rivar, dann begann er unerwartet zu lachen. Doch es war das geisterhafte, abgehackte Lachen eines Todgeweihten. „Das Bessere, das diese Welt braucht, ist ... jung und voller Kraft... vor allem jedoch... voller Hoffnung für diese Welt..."
Die Worte des alten Mannes wurden immer öfter von pfeifenden Atemzügen unterbrochen, die die gemarterte Brust heftig hoben und senkten. Erst nach einer längeren Pause deutete Rivar schwach mit dem Kopf zur Höhle.
„Ich ... spreche von ... Aragorn ... er ist noch ... so jung und ... sollte viele ... Jahre unbeschwerten ... Lebens ... vor sich haben..."
Fari'yans brauchte der Kopfbewegung Rivars nicht zu folgen. Er wusste, dass Morag den jungen Gefangenen in die Höhle gebracht hatte. Die langen Jahre in Gomars Diensten hatten den Südländer mit einer untrüglichen Ahnung dafür ausgestattet, was dort drin gerade geschah. Noch hörte man keine Schreie, doch das würde bald geschehen.
Sein Herz krampfte sich allerdings angesichts des mitleiderregenden Anblicks zusammen, den Rivar bot. Der hatte seinen ehemaligen Gefährten genau beobachtet und sah ihn nun flehentlich an. „Hilf ... du ihm ... ich bitte dich ... ich halte ... wohl nicht ... mehr ... lange genug durch ..."
Fari'yans Blick huschte über Rivars Gestalt und erkannte die Wahrheit in dessen Worten.
Die Männer hatten ihrer Wut, weder mit ihm noch mit dem neuen Gefangenen ein wenig „Spa" haben zu dürfen, Ausdruck verliehen, indem sie den zum Verräter erklärten Rivar ungeschützt dem aussetzten, was sie selbst am meisten hassten: der Kälte.
Die zitternden Lippen des Mannes nahmen durch die niedrigen Temperaturen bereits eine bläuliche Farbe an und das Gesicht war gespenstisch bleich. In seinem Zustand würde Rivar keine Stunde mehr leben.
Fari'yan sah sich suchend um. Die Decke, die er seinem ehemaligen Gefährten vor ihrem Aufbruch umgehängt hatte, lag am Boden. Es war einfach, sie Rivar wieder umzulegen, es ihm auf diese Art ein klein wenig angenehmer zu machen – und doch begab Fari'yan sich damit möglicherweise in Lebensgefahr, wenn die falschen Augen ihn sahen.
Ich kann ihn doch nicht einfach so erfrieren lassen... Auch wenn so ein Tod sicher viel gnädiger wäre als der, der ihn sonst erwartet...
„Wie stellst du dir das vor?"
Hin und her gerissen zwischen widersprüchlichen Empfindungen spähte Fari'yan kurz zur Höhle hinüber, doch Gomar war weder dort noch anderswo zu sehen.
„Denkst du, ich spaziere einfach in die Höhle, tippe Gomar an und stoße ihm mit einem 'Verzeiht, Herr, aber es ist das Beste für diese Welt!' ein Messer ins Herz?"
„W...wenn ... du ... m...meinst ...d...du ... schaffst ... das..." Rivars Lächeln war so zittrig wie seine Stimme.
Der Südländer schüttelte über diese Art schwarzen Humors traurig den Kopf. „Du bist so verrückt wie er, mein alter Freund, weißt du das?"
Langsam hob Fari'yan eine Hand und legte sie prüfend auf Rivars Oberkörper. Wie erwartet war es, als berühre er einen Eisblock. Was das Betteln des Mannes nicht bewirkt hatte, vollbrachte schließlich diese eine Berührung: sie besiegte Fari'yans Angst und erweichte sein Herz für einen Augenblick.
Der Südländer bückte sich, hob die Decke auf, schlang sie Rivar nach kurzem Zögern dann um den zitternden Oberkörper und steckte die Ränder, so gut es ging, hinter den Stricken fest.
„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas für den Jungen tun kann oder weshalb ich es überhaupt auch nur für eine Sekunde in Erwägung ziehe, und ich verspreche dir nicht das Geringste."
Fari'yan wandte sich um, warf dem im Windschatten eines Felsens außer Hörweite stehenden Wächter einen raschen Blick zu und ging dann zu den anderen zurück. Sie hatten unmittelbar neben einem Felsvorsprung ein kleines Lagerfeuer entzündet, um das sie sich nun zusammendrängten.
Rivar sah ihm mit neu erwachter Hoffnung nach, während sein geschundener Körper die kümmerliche Wärme aufsog, die ihm die Decke schenkte. Beide ahnten nicht, dass Gomar, der von außen nicht zu sehen war, die kleine Szene tatsächlich aus der Tiefe der schattenerfüllten Höhle heraus mitangesehen hatte...
Während Gomar um Aragorn herumlief, um diesem mit genau durchdachten Worten immer neue seelische Wunden beizubringen, wurde er zufällig Augenzeuge der vertraulich wirkenden Unterhaltung seines Kriegers mit Rivar. Gereizt blieb er stehen und verfolgte die Szene.
Es war nicht die Tatsache, dass jemand mit dem Verräter sprach; das taten viele seiner Leute, und meist, um ihn zu verhöhnen. Dagegen hatte Gomar nichts. Viel mehr ärgerte ihn, dass sich unter seinen Männern offensichtlich Mitleid für Rivar zu regen begann. Er, der Aragorns Vater einst geholfen hatte, ihm alles zu nehmen, verdiente in Gomars Augen höchstens den Tod, nicht aber Mitleid. Er beschloss, diesem Mann die ärgerliche Regung gnadenlos auszutreiben, sobald er mit Aragorn fertig war.
Das brachte seine Gedanken zurück zu seinem Gefangenen.
„Wo war ich stehengeblieben?"
Gomar nahm die unterbrochene Wanderung wieder auf und streifte Aragorn mit einem abschätzenden Seitenblick.
Das Gesicht des jungen Mannes war – abgesehen von einigen schnell dunkler werdenden Blutergüssen – totenbleich, die aufgerissenen, blutenden Lippen zu einem kaum sichtbaren Strich zusammengepresst. Seine grauen Augen hatten inzwischen beinahe die Färbung des sie umgebenden Gesteins angenommen. Und das wütende Funkeln in seinem Blick zeigte Gomar, dass Aragorn noch weit davon entfernt war, gebrochenen zu werden. Doch Gomar wusste, dass er das ändern konnte.
„Ach ja... bei den Erzählungen über deinen Vater. Wie alt warst du, als er starb? Drei Jahre? Älter? Jünger?"
Aragorn machte keine Anstalten zu antworten, und wo er zuvor von Gomar mit sadistischem Nachdruck dazu gezwungen worden war, überging der das diesmal überraschenderweise mit einem Schulterzucken.
„Zu klein jedenfalls, als dass er dir von ... gewissen Dingen ... hätte berichten mögen, nehme ich an."
In Gomars Verstand hatte eine neue Idee Gestalt angenommen. Er trat wieder neben seinen Gefangenen und ging neben ihm in die Knie, doch wider Erwarten rührte er ihn nicht an. Unbehagen machte sich in Aragorn breit.
„Zum Beispiel davon, dass ich Spiele liebe. Du hast es ja selbst schon bemerkt, nicht wahr? Eines unserer Lieblingsspiele bestand zum Beispiel darin, herauszubekommen, mit wie vielen Körperteilen ich eine seiner Informationen erkaufen musste."
Er sah ein kurzes Aufblitzen in Aragorns Augen. Sicher wusste er, dass sein Vater vergleichsweise unversehrt aus den Südlanden zurückgekehrt war. Gomar lächelte boshaft. Es war an der Zeit, die Schraube ein ganzes Stück anzuziehen.
„Natürlich waren stets die Körperteile anderer, nutzloserer Gefangener der Einsatz unseres Spiels, sonst wäre es zwangsweise sehr kurz ausgefallen. Das wiederum lag nun so ganz und gar nicht in meinem Interesse, wie du verstehen wirst. Dein Vater war nicht sehr gut in diesem Spiel. Genaugenommen sogar sehr schlecht, denn er mochte die Regeln nicht und mußte für meinen Geschmack viel zu oft an sie erinnert werden."
Gespielt gedankenverloren, insgeheim aber voll konzentriert, sah Gomar bewusst an Aragorn vorbei.
„Ich wüsste zu gern, ob du ein besserer Spieler als er bist. Immerhin bist du ja vom erstgeborenen Volk aufgezogen worden. Es ist aber auch zu schade, dass ich gerade keinen lebenden elbischen Gefangenen habe. Elben sollen gewisse ... Verluste ... ja angeblich viel länger als Menschen ertragen können, wenn man sich nur gut genug um sie kümmert. Es wäre wirklich interessant zu erfahren, wie lange ein Elb unser Spiel ertragen hätte. Ich hätte den letzten eben doch nicht so schnell töten sollen. Er wäre sicher ein motivierender Einsatz für dich gewesen. Tja, der Fluch der guten Tat... Aber wer weiß: vielleicht findet sich ja ein ausreichender Ersatz? Zufällig habe ich da draußen noch einen Gefangenen, von dem ich weiß, dass du ihn kennst. Was denkst du: wäre er ein guter Einsatz für ein Spielchen zwischen dir und mir?"
Aus den Augenwinkeln konnte Gomar zufrieden verfolgen, dass das ohnehin bereits blasse Antlitz Aragorns nun so weiß wie der Schnee wurde, der draußen noch immer in dichten Flocken vom Himmel fiel.
„Was soll die Drohung?" Aragorns Stimme klang erstickt und tonlos. „Keine Informationen von mir, könnten dir irgendwie von Nutzen sein. Du willst mich büßen lassen, also tu mit mir, was du willst, aber lass Rivar zufrieden. Ich muss ihn nicht sehen, um zu wissen, dass du ihn bereits genug gequält hat."
„Im Gegenteil, Aragorn..." Wieder betonte Gomar den Namen auf eine abstoßend intensive Weise. „...er hat noch nicht genug für seinen Verrat an mir gebüßt."
Plötzlich sah Gomar ihn direkt an. Er näherte sich Aragorn so weit, dass dieser den süßlichen Geruch wahrnehmen konnte, der auf Gomars Atem lag.
„Du möchtest Rivar wirklich nicht sehen? Also ich finde, es ist eine gute Idee, wenn ihr beide euch in die Augen schaut. Quasi als meine Leidensgenossen..."
Gomar wandte sich ab und ging zum Höhleneingang. Er rief der Wache etwas zu, das Aragorn nicht verstehen konnte und ging nach draußen.
Wenige Augenblicke später erklang ein gequältes Stöhnen, als jemand durch den Eingang ins Innere gestoßen wurde und einen Moment reglos auf der Erde liegen blieb. Hinter der Gestalt betrat Gomar die Höhle und mit einem triumphierenden Grinsen auf dem Gesicht, zog er den Mann auf dem Boden in die Höhe. Sein Arm schlang sich um den Hals des Erschöpften und der entsetzte Aragorn erkannte in dem blutigen, zerschundenen Wesen, das man irgendwann mal als Mensch bezeichnet hätte, Rivar wieder.
„Rivar?" flüsterte Aragorn entsetzt und versuchte zu erkennen, ob der ältere Mann ihn in seinem Zustand überhaupt noch wahrnahm. Der Freund seines Vaters reagierte jedoch nicht.
„Was hast du mit ihm gemacht?" Aragorns Stimme war dunkel und voll unterdrückter Wut, als er Gomar anstarrte, als wäre dieser plötzlich zu Saurons Inkarnation geworden.
Gomar ignorierte den jungen Mann. Er hielt Rivar umklammert und schien einzig auf dessen Reaktion auf Aragorn gespannt zu sein.
„Nun, was habe ich dir angetan," knurrte der Südländer dicht an Rivars Ohr. „Erzähl deinem jungen Freund doch mal, was alles noch auf ihn wartet."
Der alte Mann öffnete die Augen und der Blick, der Aragorn traf, erschütterte ihn zutiefst.
Rivar war ein gebrochener Mann.
Für einen Moment sah es so aus, als wollte Rivar etwas sagen, doch dann traten Tränen in seine Augen und er wandte sich beschämt ab.
„ER hat mir erzählt, wo wir dich finden. Ich hätte dankbar für diese Information sein sollen, doch ICH habe ihn dazu gebracht, sich nach dem Tod zu sehnen. Jedes Mal aufs Neue."
Gomar lachte, als hätte er gerade einen besonders guten Witz gemacht. Dann stieß er Rivar wieder nach draußen in die Arme der Wache, die dort wartete.
Dann sah er sich suchend draußen um, bis er Morag erblickte. Dieser stand inzwischen bei den anderen am Lagerfeuer und wärmte sich an den spärlichen Flammen die Hände. Auf ein Zeichen eilte er zu ihm.
„Ich habe eine Verwendung für den Verräter gefunden. Sorge dafür, dass man ihn besser vor der Kälte schützt und er etwas zu essen und zu trinken erhält. Tut, was nötig ist, denn er darf vorerst nicht sterben, verstanden?"
„Ja, Herr."
Gomar ging wieder in die Höhle und blieb vor Aragorn stehen.
„Vielleicht weißt du jetzt, was auf dich wartet. Dein Vater ist nicht mehr da, um für seinen Frevel zu büßen. Doch ich habe ja dich. Du wirst seinen Platz einnehmen und erfahren, was ich ihm zugedacht hatte..."
Der Südländer merkte am einsetzenden Zittern, dass seine Wut bei der Erinnerung an die vergangenen Ereignisse außer Kontrolle zu geraten drohte. Doch das konnte er nicht zulassen. Noch nicht. Erst wollte er die Jahre der ihm geraubten Macht mit der Angst des jungen Mannes bezahlt haben. Mühevoll zwang er sich in die ruhige Fassade zurück.
„Du hast Recht mit dem, was du vorhin gesagt hattest. Es gibt nichts, das ich von dir erfahren will. Meine einzige Absicht ist es, dich büßen zu lassen. Langsam. Es soll Jahre dauern, damit ich es richtig genießen kann. Und es wird weh tun."
Aragorn spürte Gomars Atem während des Sprechens über sein Gesicht streichen. Vom Todesschlaf noch immer überreizt, von der Annahme, seine elbische Familie verloren zu haben, gequält und konfrontiert mit der Aussicht auf ein langes, grausames Leiden, ertrug er diese Nähe nicht.
Übelkeit stieg in ihm empor. Er wollte das Gesicht abwenden, doch mit einer blitzartigen Handbewegung packte Gomar ihn unterhalb des Kinns, drückte seinen Kopf daran so weit wie möglich zurück und verhinderte gleichzeitig jede Bewegung. Finger gruben sich tief und schmerzhaft in Aragorns Wangen, als Gomar ihn zwang, ihn weiter anzusehen.
„Du gehörst jetzt mir. Dein Leben gehört mir. Ich mache damit, was mir beliebt: ich töte dich, ziehe dir die Haut in Streifen vom Körper oder lasse dich in einer verlassenen Ecke meiner Heimat verrotten..."
Einen Augenblick starrte Gomar seinen Gefangenen intensiv an. Endlich sah er in dessen Miene die ersten Anzeichen jener Furcht, die den Zusammenbruch des eigenen Willens einleitet. In der Vergangenheit hatte er diesen Ausdruck schon oft bei anderen erblickt, doch noch nie hatte er ihn so mit Vorfreude erfüllt wie jetzt.
„Ein paar Dinge haben dir die Elben nicht beigebracht. Zum Beispiel Furcht oder Demut. Oder gar Gehorsam... Das alles wirst du von nun an lernen und du wirst mich dafür hassen!"
Schlagartig ließ er Aragorn los. Dieser versuchte vergeblich ein schmerzerfülltes Aufstöhnen zu unterdrücken, als sich Gomars Finger erneut in die Schnitte auf seiner Brust gruben. Die gerade versiegende Blutung begann neue rote Bahnen über die alten zu ziehen.
„Dieses Mal hier..."
Er hob die blutbeschmierten Finger, sah sie sich einen Moment lang ungerührt an und wischte sie sich dann am Gesicht des jungen Mannes ab, der dieser Berührung vergeblich zu entkommen suchte.
„Ich werde die Wunde offen halten, bis sie vernarbt und diese Narben dich für dein ganzes restliches Leben als meinen Besitz kennzeichnen."
Gomar sah, wie die grauen Augen Aragorns dessen Abscheu widerspiegelten. „Du hältst das bereits für grausam? Dann warte erst mal ab, was die Zukunft noch alles für dich bereithält!"
Zufrieden mit dem deutlich sichtbaren Schrecken seines Opfers sah Gomar zum Höhlenausgang, dann erhob er sich plötzlich.
„Noch in dieser Stunde wirst du lernen, wie man um Gnade bettelt. Dafür werde ich dir nicht einmal ein Haar krümmen. Dein Freund da draußen ist bestimmt mehr als bereit, dir zu zeigen, was ich von dir erwarte."
Ohne Aragorn noch eines Blickes zu würdigen, steuerte Gomar auf den Ausgang zu. Er verhielt seinen Schritt auch nicht, als dieser ihm seine flehentlichen Bitten nachschickte.
„Nicht! Wartet. Tut Rivar nichts. Ich bitte Euch..."
Gomar blieb erst stehen, als er sich aus Aragorns Sichtfeld wusste. Dass Aragorn ihn plötzlich respektvoller anredete, war ihm nicht entgangen, doch er wurde dadurch um keinen Deut milder gestimmt.
„Das soll eine Lektion für dein ganzes Leben werden," murmelte er und ließ seinen Blick durchs Lager schweifen.
Der Südländer suchte jenen Krieger, den er noch vor kurzem in Rivars Nähe gesehen hatte. Er machte Fari'yan schließlich bei den Pferden aus. Einen Moment lang wirkte Gomar nachdenklich, dann pressten seine Lippen sich zu schmalen Strichen zusammen. Er rief seine Männer zusammen, um ihnen zu zeigen, welche Konsequenzen verfehltes Mitleid nach sich zog.
Aragorn hatte schon vorher gewusst, dass Gomar seine Bitten ignorieren würde. Dennoch hatte er es wenigstens versucht. Der Gedanke, dass Rivar nur seinetwegen weiteren Qualen ausgesetzt war, vertiefte das Gefühl von Verzweiflung in ihm. Noch unerträglicher jedoch war die erzwungene Hilflosigkeit.
Aragorns Herz hämmerte und ließ den schmerzenden Brustkorb ebenso eng werden wie die Fesseln, die ihn an den eisigen Stein banden.
Er hatte die Unausweichlichkeit seines bevorstehenden Leidens in der Miene des Südländers gesehen. Gnade war von ihm nicht zu erwarten, daran hatten weder die seit seinem Erwachen gefallenen Worte noch die subtile Grausamkeit in seinen Taten einen Zweifel gelassen.
Was immer ihn oder Rivar auch erwarten mochte: es würde schlimm werden. Sehr schlimm sogar. Dazu musste man nicht wie Elrond über die Gabe der Voraussicht verfügen.
Vater...
Der Gedanke an seinen Pflegevater tat weh und ließ Tränen der Trauer emporsteigen. Unwillig, dem Südländer weitere Zeichen von Schwäche zu zeigen, grub Aragorn die Fingernägel in die Handballen, bis dieser Schmerz stärker als sein Kummer war.
Was mochte Elrond und den anderen nur zugestoßen sein? Wie hatten die Südländer ihn über sie hinweg in die Hände bekommen?
Etwas in Aragorn weigerte sich zwar hartnäckig, an den Tod Elronds zu glauben, doch die Lage, in der er sich befand, ließ kaum einen anderen Schluß zu. Wenn sie wirklich gestorben waren, dann seinetwegen.
Ein immenses Schuldgefühl ergriff von ihm Besitz und zum ersten Mal in seinem Leben verfluchte er es, eine menschliche Natur zu haben. Elben konnten ihre Seele einfach ziehen lassen, wenn das Leid zu groß für sie wurde. Ihm als Mensch jedoch war dieser Weg versagt. Er musste an Ort und Stelle bleiben und so langsam sterben, wie es dem kranken Hirn dieses Südländers gefiel.
Ilúvatar, hilf mir, das Kommende zu ertragen, bat er lautlos, während sein Blick kurz das graue Tageslicht streifte, das schwach in die Höhle hereinschimmerte.
Ein schwach vernehmbares Knallen ließ ihn aufschrecken. Es wiederholte sich nach einer kurzen Pause. Dann ertönte es ein drittes Mal. Und diesmal begleitete ein kaum vernehmbarer Schrei diesen Ton.
Das Knallen einer Peitsche, begriff Aragorn und seine schreckensstarr geweiteten Augen huschten zum Eingang. Doch mehr als ein paar gelegentlich vorbeiwirbelnde Schneeflocken und die entfernten Schemen von Felsen und Bäumen sah er nicht.
„Elbereth, das hat er gemeint!" Der Satz glich mehr einem Stöhnen und wurde vom neuerlichen Klatschen der Peitsche fast übertönt. Der hinzukommende Schrei war lauter und kündete von unerträglichem Schmerz.
Aragorn glaubte zu wissen, wessen Schreie er da vernahm, und ihm wurde kälter, als jeder Eissturm es bewirkt hätte.
„Hör auf," flehte er leise mit jedem neuen Knallen und zerrte ergebnislos an seinen Fesseln. „Hört doch auf. Bitte hört auf. Es geht doch um mich, nicht um ihn. Nehmt mich! Seid doch gnädig und hört auf..."
Er war immer lauter geworden, bis gellende Schreie aus seinen Worten geworden waren. Doch diese verhallten offenbar ungehört in den Tiefen der Höhle.
Und während das Klatschen der Peitsche und die Schmerzensschreie weitergingen, hatte Gomars Prophezeiung sich erfüllt.
Aragorn bettelte...
wird fortgesetzt
