Schuld und Sühne
von
Salara und ManuKu


Teil 29

Seit der Bedrohung durch die Orkhorden vor mehr als vierhundert Jahren hatte sich Bruchtal keiner Gefahr mehr gegenübergesehen, die so groß war wie die durch die Südländer. Glorfindel trug dem Rechnung, indem er Bruchtals Bewohner über den vermutlich bevorstehenden Angriff informierte und sie zu den Waffen rief.

Eine Gruppe der Freiwilligen schützte seitdem zusammen mit einer Abteilung seiner Männer die inneren Bereiche des Tales. Die restlichen waren zusammen mit den erfahrensten Kriegern in mehreren Ringen rund um das Tal verteilt. Glorfindel war nicht gewillt, weitere Männer durch heimtückische Angreifer zu verlieren, also hielt er die Abstände zwischen den einzelnen Patrouillen derart klein, dass sie sich trotz des Schneetreibens im Auge behalten konnten. Auf diese Weise war jedem feigen Überfall bestmöglich vorgebeugt und gleichzeitig ein engmaschiges Wachnetz um das Tal gewoben.

Seit dem Zeitpunkt der Einteilung waren Stunden vergangen. Langsam näherte sich die Sonne dem Zenit ihrer Bahn, doch hinter dem Schleier des neuerlichen Flockenfalls war sie nicht zu erkennen. Eine dicke weiße Schneeschicht überzog inzwischen Berggrate, Baumkronen und jede freie Fläche, doch wo ihn an anderen Wintertagen Kinder juchzend durcheinandergewirbelt hätten, wischten ihn heute nur angespannt wirkende Elbenwachen gelegentlich von Umhängen und Helmen.

Niemand in Bruchtal vermochte an diesem Tag die normale Gelassenheit zu bewahren. Im Gegenteil: das sonst so einladende, friedliche Tal war totenstill und wirkte fast bedrohlich unter dem Druck der Erwartung, die auf allen lastete.

Glorfindel bildete trotz seiner nach außen hin unbewegten Miene keine Ausnahme. Immer wieder unternahm er Kontrollritte zu den Wachen, um – insgeheim zutiefst beunruhigt – festzustellen, dass alles ruhig blieb. Er sehnte den Kampf zwar keineswegs herbei, doch der Warnung des verletzten Wächters nach hätte inzwischen irgendetwas geschehen sollen. Dass nichts passierte, machte den Elben nervöser, als er zugeben wollte.

Grübelnd brachte er sein Pferd zum Stehen und ließ den Blick über die vom Schneefall verschleierten Gebäude schweifen. Das Schloss befand sich fast direkt vor ihm, war jedoch nur als dunkle Masse zu erkennen. Alle anderen Bauwerke konnte er bestenfalls dahinter erahnen; die Kriegerquartiere, die Halle der Heiler...

Beim Anblick dieses Gebäudes begann das Gedankenkarussell in Glorfindel schneller zu rotieren. Dort lag die Antwort auf alles, doch sie war seinem Zugriff entzogen, solange der Verwundete im Heilschlaf lag. Glorfindel wusste, dass ihm nichts anders übrig blieb als auf das Erwachen des Verletzten, dessen Name Nólëthil war, zu warten. Allerdings gingen ihm mit jeder verstreichenden Stunde mehr Fragen durch den Kopf und ihr Drängen ließ sich kaum noch ignorieren.

Warum war der Angriff, vor dem Nólëthil gewarnt hatte, noch nicht erfolgt? Hatte er im Wahn geredet? Hatten sie ihn irgendwie missverstanden? Hielt der heftige Schneefall die Südländer auf? Oder waren Elrond, die Zwillinge, Legolas und der Mensch ihnen womöglich direkt in die Arme gelaufen?

Glorfindel wollte diesen Gedanken gar nicht näher betrachten, obgleich er zumindest auf den ersten Blick die passendste Erklärung für das Ausbleiben des angekündigten Überfalls zu sein schien. Er verwarf diese Möglichkeit wieder, denn sie ergab keinen Sinn. Welches Interesse hatten die Südländer an einer ihnen unbekannten Gruppe Elben? Sie konnten doch kaum damit rechnen, dass Aragorns Entführung bereits entdeckt worden war, oder?

Sind wir die ganze Zeit einem Irrtum aufgesessen?

Es kostete den erfahrenen Krieger überraschend große Mühe, halbwegs ruhig zu bleiben. Irgendetwas, eine lästige kleine Stimme in seinem Hinterkopf, sagte ihm, dass er damit auf der richtigen Fährte war. Immerhin hatten sie das sorgsam inszenierte Täuschungsmanöver offenbar mühelos durchschaut.

„Es war ein törichter Plan. Von Anfang an. Und das sind nun die Folgen..." schimpfte er leise und spürte die Wut hinter seinen Worten.

Sie betraf gleichermaßen die Südländer, Aragorns verrückte Idee, der er von Anfang an nur widerwillig zugestimmt hatte, Elrond, der entgegen seiner Mahnung ohne Begleitschutz fortgeritten war... Vor allem aber richtete sie sich auf ihn selbst. Am liebsten hätte Glorfindel wütend gegen etwas getreten, doch da es viel zu umständlich war, extra deswegen vom Pferd zu steigen, ließ er es.

„Es ist eine Schwäche, dass ich mich immer wieder überreden lasse! Das wird von jetzt an nie wieder passieren," schwor er sich grimmig, dann sah er erneut zur Halle der Heiler hinüber, deren Konturen für einen Moment zwischen zwei Schneeschleiern klarer erkennbar wurden.

Als hätte eine unsichtbare Hand auch die Schleier von seinem Denken fortgewischt, begriff Glorfindel im selben Moment, dass er keine Wahl hatte. Was er tun musste, konnte seinen verwundeten Gefolgsmann das Leben kosten, doch möglicherweise half er dadurch jenen, die aufgebrochen waren, um Aragorn zu retten.

Dass es um Estel mehr als schlecht stehen musste, hatte Glorfindel dem Gesicht des Elbenfürsten angesehen, während dieser mit Legolas und den Zwillingen gesprochen hatte. Glorfindel stand inzwischen lange genug an Elronds Seite, um zu wissen, dass dieser den jüngeren Elben etwas verheimlicht hatte. Seine Intuition sagte ihm, dass es eine Vision zu Aragorns Schicksal war. Anders ließen sich die plötzliche Hast und die Mitnahme des Fremden mit der dunklen Aura nicht erklären.

Der goldhaarige Elb kannte Elrond und dessen tiefe Zuneigung zu Aragorn. Auch ihm war der junge Mensch ans Herz gewachsen, doch Elrond fühlte für Aragorn wie für seine eigenen Kinder, und so wie für sie, würde er auch für ihn jedes Risiko eingehen. Selbst wenn das sein mögliches Verderben bedeutete...

„Ich habe euch ohne Schutz ziehen lassen, doch ich werde diesen Fehler korrigieren!" Die Worte verschwanden als weiße Atemluftwölkchen in der Winterluft, als könnten sie die Ohren seines Freundes tatsächlich erreichen. „Ich muss nur vorher wissen, ob mein Verdacht richtig ist!"

Entschlossen lenkte er sein Pferd zur Halle der Heiler. Zum ersten Mal seit Stunden verspürte Glorfindel wieder das beruhigende Gefühl, den Lauf der Geschehnisse selbst bestimmen zu können.

„Mit Verlaub, aber Ihr wißt nicht, was Ihr da verlangt!"

Der oberste Heiler war offenkundig ungehalten über Glorfindels Ansinnen, den am Morgen gebrachten Elben aus dem Heilschlaf zu holen.

„Er ist sehr schwach und könnte leicht..."

„Ich weiß das alles und trage meine Forderung auch nur schweren Herzens an Euch heran, aber leider lassen mir die Umstände keine andere Wahl. Ich muss wissen, was genau er uns sagen wollte, als wir ihn fanden."

Glorfindel trat auf den Heiler zu, der ihn mit wachsendem Unverständnis musterte. Als er sah, wie der Heiler erneut etwas entgegnen wollte, hob er abwehrend eine Hand.

„Ich kann und darf nichts Genaueres sagen, doch Eile tut Not. Davon hängt nicht nur die Sicherheit Bruchtals, sondern vielleicht auch die von Lord Elrond und seinen Begleitern ab. Nólëthil dient dem Herrn von Bruchtal. Er wäre wie wir alle bereit, sein Leben für dieses Tal zu geben."

Der Heiler sah der Miene Glorfindels an, dass er keine weitere Auskunft mehr bekommen würde. Da es hier aber offenbar um den Herrn von Bruchtal ging, gab er – wenn auch nur zögernd – nach.

„Euer Krieger befand sich im Schock, als man ihn brachte. Die Verletzungen waren sehr ernst und das Mittel, das ich ihm gab, ist stark. Ich kann also nicht dafür garantieren, dass seine Worte überhaupt einen Sinn ergeben werden."

„Weckt ihn dennoch. Ich habe nur eine einzige Frage an ihn, danach kann er in Ruhe gesund werden."

„Eine Frage nur, sagt Ihr? Nun gut! Wartet einen Augenblick!"

Der Elb verschwand in den rückwärtig gelegenen Teil der Halle, wo sich die Räume befanden, in denen Heilmittel gemischt und Verbandsmaterialien vorbereitet wurden.

Während er ungeduldig auf die Rückkehr des Heilers wartete, sah Glorfindel sich in der Halle um. Lediglich zwei der vielen Betten waren momentan belegt. In dem einen lag Miro, in dem anderen sein Wächter. Glorfindel ging langsam zu ihm und blieb neben dem Kopfende der Liegestatt stehen.

Nólëthil war bleich, tiefe dunkle Ringe unter den Augen kündeten von dem durchlittenen Schmerz und die Decke, die nicht ganz bis an das Kinn hochgezogen worden war, ließ die Ansätze der Verbände erkennen, die sich inzwischen um den Brustkorb schlangen. Glorfindel erinnerte sich wieder daran, in welchem Zustand sie den Elben gefunden hatten. Es kam schon einem kleinen Wunder gleich, dass er es überhaupt lebend bis nach Bruchtal geschafft hatte. Spontan regte sich das schlechte Gewissen des Gondoliners wieder. Er wusste, dass er diese eine Antwort brauchte, doch er hoffte, dass der Preis dafür nicht zu hoch war.

Die nächsten Minuten vergingen, ohne das etwas geschah. Gerade, als Glorfindel dem Heiler nachgehen wollte, erschien dieser wieder in der Halle und kam auf das Bett zu. In seiner Hand hielt er eine kleine gläserne Phiole, in der sich eine grünliche Flüssigkeit befand.

„Überlegt Euch Eure Frage gut, Lord Glorfindel. Dieses Mittel gibt Euch höchstens ein paar Minuten. Nicht mehr. Danach wird der Verletzte wieder in tiefen Schlaf fallen."

„Das wird genug Zeit sein!" Glorfindel nickte kurz und verfolgte, wie der Heiler den Kopf seines Patienten anhob und das Mittel langsam und vorsichtig zwischen den leicht geöffneten Lippen hindurch in die Kehle rinnen ließ.

Als die Phiole leer war, bettete er den verletzten Elben sachte wieder auf das Kissen, dann trat er zurück. Die beiden mussten nicht sehr lange warten.

Nach ein paar Minuten, die dem ungeduldigen Glorfindel allerdings wie eine Ewigkeit erschienen, begannen die geschlossenen Lider des Schläfers zu zittern. Gleich darauf drehte er seinen Kopf zur Seite und ein deutlich vernehmbares Seufzen entrang sich den bläulichen Lippen. Nur Sekunden später schlug Nólëthil die Augen auf. Er blinzelte einige Male desorientiert, bis aus den unscharfen Schemen in seinem Blickfeld ein Gesicht hervortrat.

„M...mein Lord, Ihr... w...was..." begann der Elb zu stammeln, doch Glorfindel unterbrach ihn.

„Ganz ruhig. Hör mir genau zu. Du sagtest, Südländer seien nach Bruchtal unterwegs. Wie viele sind es, wie weit waren sie noch von Bruchtal entfernt, als du ihnen in die Hände fielst, und aus welcher Richtung kommen sie?"

„Fünf." Nólëthil konnte nur flüstern, weil das Sprechen ihm fast den Brustkorb zu zerreißen schien. „Es sind fünf. Es war ... am frühen Nachmittag ... sie sind von Nordosten ... auf dem Weg hierher ..."

Seine Kraft war erschöpft und er verstummte. Noch einmal versuchte er Worte zu formen, doch Glorfindel schüttelte nur den Kopf.

„Nicht. Es ist gut. Das ist alles, was ich wissen wollte. Sei versichert, dass ich mich um sie kümmern werde. Nun ruh dich aus. Schlaf wieder..."

Es bedurfte keiner zweiten Aufforderung. Die letzten Worte waren kaum verklungen, als sich Nólëthils Augen bereits wieder geschlossen hatten und der Elb innerhalb von Sekunden in den traumlosen Zustand des Heilschlafes zurückglitt.

Der Heiler tastete nach dem Puls des Verletzten, und als er sich schließlich vergewissert hatte, dass seinem Patienten die enorme Belastung seines geschwächten Körpers nicht noch mehr geschadet hatte, sah er auf. „Ich hoffe, Ihr habt erfahren, was Ihr wissen wolltet, um Lord Elrond zu helfen. Ein zweites Gespräch würde Euren Krieger töten!"

Er starrte Glorfindel herausfordernd an, doch der schien ihm überhaupt nicht zugehört zu haben, denn die blauen Augen des Gondoliners starrten an ihm vorbei in eine imaginäre Ferne.

Nur fünf? Wegen fünf Südländern rüste ich Bruchtal wie für einen Krieg, während Elrond, die Zwillinge, der Prinz und dieser zweifelhafte Mensch einer Übermacht folgen? Und warum sprach Nólëthil von Nachmittag? Es ist noch nicht einmal ganz Mittag...

Es dauerte einige Augenblicke, bis Glorfindel begriff und plötzlich alles zueinander passte. Doch das Verstehen, das sich so verspätet eingestellt hatte, bestätigte die Ahnung, der heraus er hierher gekommen war.

Ich habe immer gespürt, dass etwas nicht stimmte. Warum habe ich es nicht schon erkannt, als wir Nólëthil fanden? Er sprach von Südländern, doch er meinte die, die Estel aus der Grabkammer geholt haben. Von einem neuerlichen Überfall auf Bruchtal war nie die Rede. Wir haben es falsch interpretiert... Wie konnte ich die ganze Zeit über nur so blind sein?

Abrupt kehrten seine Gedanken in die Gegenwart zurück.

„Tut für Nólëthil, was in Eurer Macht steht. Er hat fast mit seinem Leben bezahlt, um uns zu warnen. Wenn es eine Veränderung in seinem Zustand gibt, teilt sie Lord Erestor sofort mit. Er wird sich während meiner Abwesenheit um alles kümmern."

Glorfindel wollte gehen, doch der Heiler legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.

„Der menschliche Junge..." Er sah zu Miro hinüber, der im Nachbarbett lag und ebenfalls friedlich zu schlafen schien.

Ungeduldig folgte Glorfindel dem Blick des Heilers. „Was ist mit ihm?"

„Er ist heute Vormittag erwacht und hat wiederholt nach seinem Begleiter, Prinz Legolas und Estel gefragt." Der Elbenheiler ließ Glorfindel los. „Lord Elrond deutete vor ein paar Tagen an, dass er und Estel in seiner Schuld stünden. Der Junge scheint Estel gekannt zu haben. Ich brachte es daher nicht übers Herz, ihm nun von dessem Tod zu erzählen. Was soll ich ihm sagen, wenn er erwacht und weiterfragt?"

Glorfindel warf einen raschen Blick zu Miro. Der Gondoliner war neben den Zwillingen der Einzige, der Miros Rolle bei der Rettung von Legolas kannte.

„Sagt ihm, dass Prinz Legolas und dieser Mensch unterwegs sind und in ein paar Tagen wieder da sein werden. Was Estel angeht..."

Er sah kurz zum Fenster hinaus. Der Schneefall ließ nach und würde bald ganz aufhören, doch schon die nächsten Tage würden weiteren Schnee bringen. Falls er es schaffte, Elrond und die anderen rechtzeitig einzuholen, und fallses ihnen gelang, Estel zu befreien, würde es immer noch schwer genug werden, Elronds Pflegesohn bei diesem Wetter sicher über die Nebelberge nach Lórien zu bringen. Und selbst danach mußte Aragorn für die Welt tot bleiben – sogar für seine Freunde.

Glorfindel riss sich aus seinen Gedanken. Seine Miene wirkte ernst und unerwartet mitfühlend.

„Wenn Ihr ihn für stark genug haltet, erzählt ihm, dass wir Estel gestern zu Grabe trugen. Geht schonend vor; wenn ich Lord Elrond richtig verstanden habe, hatten er und Estel so etwas wie Freundschaft miteinander geschlossen."

„Es wird ihm Kummer bereiten. Auch den Menschen fällt es schwer, einen Freund zu verlieren," antwortete der Heiler und nickte.

Ohne eine Entgegnung wandte Glorfindel sich brüsk ab und verließ die Halle. Er spürte, wie ihm die erstaunten Blicke des Heilers folgten. Dessen letzter Satz wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf. Als einige Schneeflocken an ihm vorbeischwebten und sein Gesicht wie tröstend streichelten, wurde des Herz des Elben noch schwerer.

„Bitte, Ihr Valar..." Er blieb stehen und sah zum Grau des Winterhimmels empor. „Lasst nicht zu, dass Elrond und die anderen für meine Dummheit büßen."

Mit einem tiefen Atemzug setzte er sich wieder in Bewegung. Es gab viel vorzubereiten.

Nicht einmal eine Stunde dauerte es, bis Glorfindel die nötigen Anweisungen gegeben und eine Anzahl der verlässlichsten Männer und die besten Fährtenleser Bruchtals um sich versammelt hatte.

Als sie aufbrachen, um der am Morgen aufgebrochenen Fünfergruppe zu folgen, hatte es endgültig zu schneien aufgehört und einige zaghafte Sonnenstrahlen stahlen sich durch winzige Wolkenlücken. Das Funkeln des frisch gefallenen Schnees hätte an jedem anderen Tag den ausgeprägten Schönheitssinn des Erstgeborenen Volkes angesprochen, doch Glorfindel hatte den Männern gesagt, um was es ging, und so hatte keiner der Krieger auch nur den flüchtigsten Blick dafür.

Glorfindel warf einen letzten Blick auf die kleine Schar, dann hob er – für alle gut sichtbar – die Hand.

„Ihr wisst, was auf dem Spiel steht, also lasst uns hoffen, dass wir nicht zu spät kommen. Nach Nordosten!"

Er gab das Zeichen und gleich darauf wirbelten Dutzende von galoppierenden Pferdehufen weiße Wolken auf, bis der Wald schließlich alle verschluckte.

Die Heftigkeit des Schneesturms hatte nach Stunden endlich nachgelassen, auch wenn das Schneetreiben immer noch recht dicht war.

Die Wunden Assats waren während der Zwangspause, so gut es ging, neu versorgt worden. Der Mensch hatte sich in dieser Zeit erholt und genügend Kräfte gesammelt, dass die Elben es wagten, mit ihm weiterzureiten. Noch während ihres Rittes büßte der Wind an Kraft und Schärfe weiter ein, und so fiel es der Gruppe nicht schwer, den Weg nach Sîr Ninglor, dem Pass durchs Nebelgebirge, wieder aufzunehmen.

Weitere vier Stunden vergingen, ohne dass etwas geschah. Elrond glaubte bereits, sich doch geirrt zu haben und befürchtete insgeheim, dass sie der falschen Spur folgten, als Legolas, der vorausritt, sein Pferd abrupt zum Stehen brachte. Er beugte sich über den Kopf seines Pferdes hinaus und stand beinahe in den Steigbügeln seines Tieres. Dem Pferd war dieses Verhalten seines Reiters wohl bekannt und so verharrte es bewegungslos.

Legolas' Blick ging in die Ferne und seine Augen verengten sich, als er versuchte, die verschiedenen Schemen auszumachen, die der treibende Schnee zu einem Ganzen verschmelzen lassen wollte.

„Rauchschwaden..." flüsterte er schließlich und wies mit der Hand in die Ferne. „Dort drüben!"

Die Bruchtaler Elben folgten seinem Hinweis mit ihren Blicken. In der angegebenen Richtung wurde es felsiger, doch die Bäume standen immer noch verhältnismäßig dicht beieinander und gaben eine gute Deckung. Lediglich nur für die scharfe Elbensicht wahrnehmbare, vor dem Grau des Himmels fast verschwindende, dünne Qualmfäden verrieten, dass sie sich etwas oder jemandem näherten.

„Ein Lagerfeuer?" Elladan brachte sein Pferd neben dem von Legolas zum Stehen und sah den Waldelb hoffnungsvoll an.

Der nickte nur und wandte sich an Elrond. „Wir sollten jetzt absteigen und uns weiträumig von der Seite nähern. Wenn das die Südländer sind, haben sie wahrscheinlich Wachen aufgestellt."

Elrond spähte ein weiteres Mal durch das Schneetreiben, dann wies er nach rechts. „Ich denke, von dort aus haben wir vielleicht einen besseren Blickwinkel auf das Lager."

Die jüngeren Elben und Assat folgten dem Blick des Elbenherrn, der auf eine etwas abseits gelegene felsige Erhebung deutete.

In schweigender Zustimmung ritten sie dorthin.

Sie sahen sofort, dass der Platz sich bestens eignete, um ihre kleine Gruppe bis zu einem möglichen Befreiungsversuch Aragorns vor den wachsamen Augen der Südländer zu verbergen.

Nachdem sie ihre Pferde versorgt und Assat gebeten hatten, als Wache in ihrem provisorischen Lager zu bleiben, beschloss Elrond, zusammen mit seinen Söhnen und Legolas das Lager Gomars zu erkunden.

Sie kamen nicht sehr weit, denn der Lagerplatz war strategisch perfekt gelegen und bereits mit minimaler Bewachung bestens geschützt. Als sie schließlich in einiger Entfernung wie befürchtet Wachen entdeckten, die ihnen ein unbemerktes Näherkommen unmöglich machten, zogen sie sich lautlos wieder zurück. Sie schwiegen, als sie zu Assat und den Pferden zurückkehrten.

Der Mensch starrte die Gruppe Elben neugierig an, merkte jedoch an den ernsten Gesichtern, dass die Situation nicht besonders gut aussah.

„Was jetzt, Ada? Wie sollen wir an Estel herankommen?" Elladan konnte sich nur mühsam beherrschen, denn seine Sorge um den jungen Menschen wuchs von Stunde zu Stunde. „Wir müssen das Lager stürmen. Besser, wir versuchen es so, als gar nichts zu tun. Vielleicht ist unser kleiner Bruder schon tot und wir..."

„Nein!" Elladan verstummte, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Überrascht sah er zur Seite.

Elrohir war dicht an ihn herangetreten und sah ihm fest in die Augen.

„Hör mir gut zu, Elladan. Estel ist nicht tot! Er lebt! Du weißt das so gut wie ich, denn du würdest es wie ich fühlen, wenn es anders wäre. Estel wird zwar einmal mehr mitgenommen und zerschunden sein, doch seinem Namen alle Ehre machen und unsere Hoffnungen in ihn bestätigen. Wir werden den Glauben an seine Rückkehr erst aufgeben, wenn sein entseelter Körper in unseren Armen liegt. Hast du mich verstanden?"

Die Augen des jüngeren Zwillings blitzten entschlossen. Gleichzeitig schlossen sich seine Finger um Elladans Oberarm, als wollte er ihn mit Gewalt dazu bringen, die Hoffnung nicht vorschnell aufzugeben.

Es war, als hätte Elladan diese Ermahnung gebraucht, denn er nickte wortlos und wandte sich ab, um seine Fassung wiederzugewinnen. Zufrieden mit dem Erreichten sah Elrohir zu seinem Vater weiter.

„Was unternehmen wir nun, Ada?" Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass Elrohir von ihm einen Plan für ihr weiteres Vorgehen erwartete.

Elrond schwieg zunächst, schloss die Augen und ging nochmals in Gedanken all das durch, was er über die Südländer wusste. Nichts schien jedoch einen Ansatzpunkt zu bieten. Mehr als je zuvor würden sie nun jedem Fremden überaus mißtrauisch begegnen, wenn er nicht gerade mit dem Ruf eines Kriegsherrn ausgestattet war. Doch genau damit konnten die Elben nicht dienen. Ratlos schloss er für einen Augenblick die Augen. In seinen Visionen hatte alles so klar geschienen, doch hier – im Licht – ergab keines der vagen Bilder mehr einen Sinn. Nicht einmal Assats Anwesenheit. Der Gedanke an den Menschen brachte eines der Visionsbilder plötzlich zurück.

Die Schlange... drohend vor Aragorns Körper aufgerichtet...

Mit einem Mal fiel alles an seinen Platz und Elrond wusste, was sie zu tun hatten.

Als er seine Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf Assat. Intensiv forschte er im Gesicht des Menschen nach einem Hinweis, dass seine gerade getroffene Entscheidung richtig war.

Assat schien sich des plötzlich in ihn gesetzten Vertrauens auch bewusst zu werden, denn seine Gestalt straffte sich und er nickte dem Elben knapp zu. Elrond hatte nur diese Bestätigung gebraucht.

„Einer von uns wird ins Lager der Südländer gehen," sagte er, und sein Blick wich keine Sekunde lang von Assat.

„Wieso sollten wir uns ihnen ausliefern?" Verständnislos runzelte Elrohir die Stirn.

„Nicht wir werden gehen. Ein Gleichgesinnter wird in ihr Lager spazieren." Elrond lächelte geheimnisvoll, doch es dauerte nur einige Momente, bis das Begreifen bei den anderen kam.

„Ihr meint Assat, nicht wahr?" Legolas wirkte nicht wirklich überrascht. „Das ist der Grund, aus dem Ihr ihn mitnahmt!"

Der Elbenfürst nickte und sah erneut zu Assat hinüber.

„Ich wußte, dass Ihr einen wichtigen Einfluss auf die kommenden Ereignisse haben würdet, doch erst jetzt sehe ich, welchen. Wir können es schaffen, Estel zu befreien, doch dazu brauchen wir jemanden, der sich den Südländern nähern kann, ohne deren Verdacht zu erregen. Eure dunkle Aura, Assat, ist so stark, dass wir Elben sie kaum ertragen können. Auch den Instinkten der Südländer wird sie nicht verborgen bleiben. Sie werden Euch als einen Gleichgesinnten empfangen. Mit einer gewissen Vorsicht, sicher, doch sie werden Euch ins Lager lassen."

Nun wandten sich auch die Blicke der übrigen Elben dem Menschen zu. Bisher hatten die Zwillinge ihn nur als Ballast angesehen und ausschließlich deswegen geduldet, weil ihr Vater darauf bestand. Doch nun begann in ihnen die Hoffnung aufzukeimen, dass er ihnen die Möglichkeit verschaffen würde, ihren Bruder aus den Händen der Südländer zu befreien.

Elladan trat an den Menschen heran. Zum ersten Mal seit Beginn der Reise musterte er ihn ganz genau und Assat erwiderte den Blick mit all der Aufrichtigkeit und jenen Gefühlen, die sich in den letzten Tagen in ihm angesammelt hatten.

„Werdet Ihr uns helfen?" Zum ersten Mal, seit Assat ihm begegnet war, lag ein bittender Unterton in der Stimme Elladans.

Dem Menschen entging das darin mitschwingende Friedensangebot nicht und so nickte Assat wortlos. Zu seinem Erstaunen verneigte sich Elladan kurz vor ihm und ging wieder an die Seite seines Bruders.

„Wie sieht Euer Plan aus, Lord Elrond?" Assat sah fragend zu Elrond.

„Ihr werdet ins Lager der Südländer reiten und euch als Reisender ausgeben, dem während des Schneesturms das Packtier mit dem Proviant verloren gegangen ist. Als Schlange Mittelerdes habt Ihr einen weitverbreiteten Ruf. Nicht nur in dieser Gegend, wie ich hoffe. Die Südländer sind schon sehr lange von ihrer Heimat fort. Vielleicht hat sich Euer Ruf auch bis zu ihnen herumgesprochen."

Legolas, der den Erklärungen bisher stumm gelauscht hatte, trat nun an Assats Seite und strich ihm nachdenklich das Haar aus dem Nacken. Der Mensch zuckte zusammen und sah den Elbenprinzen irritiert an.

„Was soll das denn?"

Es arbeitete in Legolas' Gesicht, als er – unbeeindruckt von Assats Reaktion – dessen dunkle Haarflut ein weiteres Mal zurückstrich. „Das soll keine Beleidigung sein, Assat, aber Menschen neigen dazu, nicht immer das Offensichtliche zu bemerken. Ich denke, wir müssen den Südländern vielleicht ein wenig auf die Sprünge helfen."

Die Fingerspitzen des Elben strichen über Assats Brandmal. „Wir sollten das Mal der Schlange ein wenig hervorheben."

Elladan begriff, worauf der Elb hinauswollte – und grinste. „Nun, wenn jemand in der Kunst des Haarflechtens geübt ist, dann bist du das, Legolas. Also dann... mach dich an die Arbeit!"

„Auch in Bruchtal dürfte man inzwischen wissen, was ein Zopf ist..." In gespielter Empörung warf der Elbenprinz den feixenden Zwillingen einen bösen Blick zu, zog Assat jedoch bereits mit sich zu einem niedrigen Felsen, auf den er ihn hinabdrückte, um besser arbeiten zu können.

Elrond beobachtete es mit einem leisen Lächeln, dann wandte er sich an seinen ältesten Sohn. „Auch du wirst dich an die Arbeit machen müssen, Elladan, denn wir beide werden Assat ins Lager begleiten. Dafür brauchen wir eine Verkleidung, die unsere elbische Natur verbirgt. Sie würde nur den Verdacht der Südländer wecken. Wir werden Assats..."

Er zögerte kurz.

„Wir werden uns als seine Leibwächter ausgeben."

Elladan nickte und begann alle Umhänge und jede mitgeführte Ersatzkleidung zusammenzusuchen. Währenddessen nährte sich auch der jüngere Zwilling seinem Vater.

Ada, was ist mit mir?" Elrohir hatte das unbestimmte Gefühl, vergessen worden zu sein. „Erwartest du etwa, dass ich hier bleibe und nichts tue?"

Elrond hatte diese Worte gefürchtet – schon lange, bevor diese Entwicklungen überhaupt ihren Anfang genommen hatten. Zu deutlich waren die Bilder seiner ersten Vision in sein Gedächtnis gebrannt.

Elrohir, getroffen von der Klinge des Vaters... sterbend...

Entschlossen, den vorhergesehenen Tod des jüngeren Zwillings um jeden Preis zu verhindern, trat der Elbenherr dicht an diesen heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Es ist vielleicht das letzte Mal, das wir uns sehen, mein Sohn. Er unterdrückte das Bedürfnis, Elrohir in die Arme zu schließen und sah ihn stattdessen mit dem härtesten Blick an, den er zustande bringen konnte.

„Das ist genau das, was ich von dir erwarte. Sollten wir nicht erfolgreich sein und die Valar beschließen, dass unser und Estels Dasein in Mittelerde ein Ende finden soll, musst du nach Bruchtal zurückkehren. Dann bist du für das Tal und unser Volk verantwortlich."

„Aber, Ada..." Elrohirs Stimme klang erstickt, doch Elrond ließ dessen Protest gar nicht erst laut werden.

„Nein! Elrohir, ich habe noch nie etwas so ernst gemeint! Ich bin jetzt nicht mehr dein Vater, sondern der Fürst, dessen Anordnungen du Folge zu leisten hast. Das ist auch keine Bitte, sondern eine Weisung. Du und Prinz Legolas, ihr bleibt hier. Sollte ich bis zum nächsten Sonnenaufgang nicht zurück sein oder sich Südländer diesem Ort nähern, werdet ihr von hier verschwinden! Sofort, für immer und ohne zu zögern! Hast du mich verstanden?"

Elrohir sah weg. Er konnte einfach nicht glauben, was er da eben vernommen hatte. Vom eigenen Vater war er soeben wie ein Untergebener weggeschickt worden. Dabei ging es um das Leben seiner Familie!

Ich wusste nicht, dass Vater meinen Fähigkeiten misstraut, dachte Elrohir zutiefst enttäuscht, doch noch eindeutiger hätte er mir das nicht klarmachen können. Warum hat er mich überhaupt mitgenommen?

Elrond sah überdeutlich, wie verletzt sein jüngerer Sohn war – und es brach ihm fast das Herz, nicht anders handeln zu dürfen. Da er Elrohirs Leben retten wollte, glaubte er jetzt hart bleiben zu müssen.

„Sieh mich an, Elrohir Peredhil, und antworte mir, wie ich es erwarten kann. Hast du mich verstanden?"

„Ja." Das Wort war fast nicht zu hören, denn Elrohir weigerte sich nach wie vor, seinen Vater anzuschauen.

„Gut. Dann vergiß es nicht."

Noch immer lag seine Hand auf Elrohirs Schulter, doch nun gruben sich die schlanken Finger des Elbenherrn hart in sie hinein, als er zu Legolas hinübersah. Ihn zu überzeugen würde schwieriger werden.

„Euch kann ich nichts befehlen, mein Prinz. Nur Euer Wort kann ich fordern – und das tue ich jetzt. Versprecht mir, nach Bruchtal zurückzukehren, wenn ich nicht mehr wiederkomme. Sorgt dafür, dass Elrohir mit Euch geht. Gebt mir das Wort Eures Hauses darauf, damit ich ruhig aufbrechen kann."

Legolas wirkte geschockt, als er Elronds Worte in sich einsinken ließ. Was ließ den Herrn von Bruchtal zu einer solchen Maßnahme greifen? Sah er denn nicht, dass Elrohir am Boden zerstört war? Und dann diese seltsamen Worte...

Eine Vision..., begriff Legolas. Anders war Elronds seltsames Verhalten nicht zu erklären. Der Halbelb wusste etwas, das ihn sogar annehmen ließ, dass er nicht mehr zurückkommen würde, da war Legolas sich sicher. Was auch immer es war: es schloss zwar Elrohir ein, nicht jedoch Elladan, sonst wäre auch dieser per Befehl zum Bleiben gezwungen worden.

Trotz dieses Grundes nicht gewillt, sich durch einen vorschnellen königlichen Schwur um mögliche Hilfschancen für Aragorn oder dessen elbischen Pflegevater zu bringen, wog der Prinz seine Antwort sorgfältig ab.

„Nun gut, wenn Ihr darauf besteht... Solltet Ihr und Eure Begleiter bis Sonnenaufgang des morgigen Tages also nicht zurückgekommen sein, werden Elrohir und ich diesen Ort verlassen. Das schwöre ich bei der Ehre meines Hauses, mein Lord."

Elrohir hatte Legolas' Worten mit wachsendem Unglauben gelauscht. Lag ihm denn so wenig an Aragorn?

Ich konnte mich dem Wunsch Vaters nicht widersetzen, doch Legolas hätte es gekonnt. Mit seiner Hilfe hätten wir ihn, meine Brüder und den Menschen von außerhalb des Lagers hilfreich unterstützen können, doch nun macht sein Ehrenwort dies unmöglich.

Elrohirs Mut sank spürbar, als er endgültig jede Hoffnung auf ein Hintertürchen schwinden sah. Elrond, dessen Hand noch immer auf der Schulter seines Sohnes lag, spürte es deutlich. Nun, wo er sich nach besten Kräften vergewissert hatte, dass zumindest dieser Teil seiner Visionen nicht Wahrheit werden konnte, gestattete er es sich schließlich, Elrohir in die Arme zu schließen.

Einige Sekunden lang blieb der jüngere Zwilling steif und reglos, dann brach jeder Widerstand und er schlang die Arme um den Vater.

„Ich werde dir nie verzeihen, dass du mich dazu gezwungen hast, Ada," sagte er leise in die Halsbeuge Elronds hinein, wissend, dass dieser ihn genau verstand.

Und das tat Elrond auch, denn er strich seinem Sohn sanft über den Rücken.

„Ich weiß," flüsterte er zurück. „Verzeih mir, Elrohir, aber ich hatte keine andere Wahl."

Noch ehe dieser Gelegenheit bekam, genauer nachzufragen, löste Elrond sich von ihm und trat an Assats Seite. Nun, da der gewagte Plan gefasst war, wie sie sich ins Lager der Südländer schmuggeln würden, und alle entsprechenden Vorbereitungen getroffen waren, blieb ihnen nur noch eines zu tun: aufzubrechen.

Es dauerte nicht lange und Assat sowie Elrond und Elladan saßen auf ihren Pferden.

Legolas hatte die Haare des Menschen seitwärts nach hinten geflochten und sie zusätzlich noch zu einem Pferdeschwanz weggebunden. Selbst ein Blinder musste nun das Brandmal der Schlange sehen.

Die beiden Elben hatten ihre Köpfe und die Gesichter mit Tüchern verhüllt. Lediglich für die Augen war ein Schlitz frei geblieben. Sie hatten durch diese Aufmachung ein fast südländisches Aussehen angenommen. Nicht einmal die Farbe der Augen machte dies zunichte, denn dank ihrer grimmigen Entschlossenheit, wirkten ihre sonst leuchtend grauen Augen dunkel und verschleiert.

Sie waren bereit! Es konnte losgehen.

Der Schnee verschluckte jeden Laut, als die drei fortritten.

Legolas und Elrohir standen nebeneinander und sahen den drei Reitern schweigend nach.

„Warum?" Elrohir sah den Waldelb nicht an, doch Legolas wusste auch so, was der Zwilling meinte.

„Du hast nicht richtig zugehört, Elrohir..." Ein Lächeln schlich sich auf Legolas' Züge. „Dein Vater, den Valar sei Dank, übrigens auch nicht. Sonst wäre ihm nämlich aufgefallen, dass ich ihm zwar mein Wort gab, mit dir von hier fortzugehen, dass dabei jedoch nie die Rede von dem Wohin war."

„Du hast vor, das meinem Vater gegebene Wort zu brechen?" Elrohir fuhr zu Legolas herum und starrte ihn mit großen Augen an, doch der schüttelte den Kopf.

„Nein, durchaus nicht. Ich schwor ihm, dass wir von hier fortgehen würden, und das werden wir auch. Nur eben nicht nach Bruchtal, sondern..." Legolas zeigte mit einer Kopfbewegung in die Richtung, in der ihre Gefährten eben verschwunden waren. „...dorthin. Irgendwo da draußen ist Estel und er lebt noch. Solange ich ihn dort weiß, bringt mich keine Macht Ardas von hier fort. Nicht einmal der mächtige Fürst von Bruchtal. Wie du siehst, ist das kein Wortbruch, Elrohir."

Erleichterung ließ diesen lächeln. Das war eine viel bessere Aussicht als noch vor Augenblicken. Damit konnte er leben – und eine Zeitlang sogar abwarten...

Elrond und seine Begleiter ritten in weitem Bogen von ihrer Position fort und kamen aus einer anderen Richtung an das Lager heran. Die Wachen konnten sie schon von weitem sehen. Als sie dicht genug an das Lager herangekommen waren, wurden sie zum Anhalten aufgefordert.

Der Schneefall war nun ganz zum Erliegen gekommen und die Sonne brach an diesem Spätnachmittag endlich wieder durch die Wolken.

Einer der Wachen, ein recht junger Mann, näherte sich der kleinen Gruppe, forderte einen Kameraden durch Zuruf jedoch auf, ihm Deckung zu geben. Sein eigener Bogen war gespannt und zielte auf die Neuankömmlinge.

„Wer seid ihr und was wollt ihr hier?" Misstrauisch warf er einen Blick auf die zwei vermummten, gefährlich aussehenden Männer, die hinter dem ersten ritten.

„Ich bin Assat von Ardaneh und dies hier sind meine Leibwächter." Assat wandte sich leicht zu seinen beiden Gefährten um. Dabei bekam die Wache einen besonders guten Blick auf das Branding am Hals.

„Die Schlange..." rief er überrascht aus und sein Bogen senkte sich ein Stück. „Ihr seid die Schlange von Mittelerde! Ich habe von euch gehört. Das Haus meiner Geburt stand in der Nähe von Ardaneh."

Elrond atmete unmerklich auf. Die erste Klippe schien fast umschifft. Vielleicht meinten es die Valar gut mit ihnen.

„Was führt euch in diese abgelegene Gegend?" Der junge Mann winkte einen der Männer heran, die mit ihm Wache hielten.

„Wir sahen die Rauchzeichen eures Lagerfeuers. Da uns während des Schneesturms unser Lasttier mit dem Proviant verloren ging, dachten wir, ihr könntet uns ein wenig Nahrung überlassen. Nur soviel, dass wir bis zur nächsten bewohnten Behausung gelangen. Wir wollen über die Nebelberge zurück nach Ardaneh. Dort warten dringende Geschäfte auf mich."

„Ich verstehe," sagte der Mann grinsend und begann sich auszumalen, was für dunkle Geschäfte das wohl sein mochten.

Sein Kamerad trat an ihn heran und so wurde er wieder ernst. „Übernimm meinen Platz in der Wache. Ich werde diese Männer ins Lager führen."

Ohne die mürrische Miene der anderen Wache weiter zu beachten, führte der junge Mann die drei Neuankömmlinge ins Lager. Bei ihrem Anblick griffen einige der Südländer alarmiert zu ihren Waffen, doch die Wache hob beruhigend die Hände.

„Kein Grund zur Panik. Das ist Assat von Ardaneh, die Schlange Mittelerdes!"

Ein Raunen lief durch die Männer. Über die Hälfte von ihnen waren neu angeworbene Söldner aus diesen Landen, denen der Ruf der Schlange Mittelerdes nicht unbekannt war.

Morags Blick verdunkelte sich hingegen, als er die drei ihm fremden Männer sah. Fremde, die ganz zufällig ihren Weg kreuzten? Jetzt und hier? Stirnrunzelnd ging er auf die Gruppe zu, um die sich einige seiner Kameraden gescharrt hatten.

„Was geht hier vor?"

Assat, der inzwischen ebenso wie seine beiden Begleiter vom Pferd gestiegen war, verbeugte sich leicht vor ihm, doch sein Blick war unerschrocken, dunkel und ließ keinen Respekt erkennen. Irritiert sah Morag ihm genauer ins Gesicht.

„Ich bin Assat von Ardaneh. Dies sind meine beiden Leibwächter. Wir ersuchen um eine Rast und ein wenig Proviant."

Die Wache, die sie ins Lager begleitet hatte, wandte sich an Morag und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nach Sekunden nickte der Südländer, doch sein Gesicht war noch immer undeutbar.

„Man kennt euch in dieser Gegend als Schlange Mittelerdes. Ihr habt einen sehr schlechten Ruf bei den braven Bürgern..."

Er musterte Assat einen Augenblick mit stechendem Blick, dann lachte er plötzlich. „Gut für Euch, dass wir keine braven Bürger sind."

Die umstehenden Männer fielen in sein Lachen ein und alle begleiteten die drei Neuankömmlinge dann zum Lagerfeuer, wo man ihnen Platz machte.

Elrond und Elladan ließen ihn allein gehen. Sie selbst zogen sich unauffällig zurück und blieben, ihrem Bedienstetenstand entsprechend, pflichtbewusst bei den Pferden. So hatten sie beinahe das ganze Lager im Blick und außer den Pferden niemanden im Rücken.

Es dauerte nur Sekunden, bis sie in einiger Entfernung die an einen Baum gefesselte und von einem Mann bewachte Gestalt eines Menschen ausmachten.

Rivar!

„Da, sieh nur..." Elladans geflüsterte Worte ließen Elrond zusammenzucken, denn sein Sohn hatte unbewusst Sindarin benutzt.

„Ich habe ihn auch gesehen," unterbrach er ihn daher sofort auf Westron und bedachte den jüngeren Elben mit einem vielsagenden Blick. „Wir können noch nichts tun! Nicht, ehe wir wissen, wo Estel ist!"

Elladan begriff seinen Fehler sofort und blieb von nun an stumm, doch das änderte nichts daran, dass beide Elben neben der Sorge um Aragorn, den sie nirgendwo erblickten, nun auch Angst um den alten Einsiedler hatten. Selbst auf die Entfernung sah man, dass es alles andere als gut um ihn stand und ihn nur die Stricke aufrecht hielten.

Während die beiden Elben dazu verdammt waren, zu warten, und nichts tun konnten, außer suchende und finstere Blicke durch die Gegend zu schicken, hatte Assat sich zu den Kriegern ans Feuer gesetzt.

Er nahm deutlich wahr, wie seine beiden verhüllten Begleiter immer wieder intensiv gemustert wurden. So viel Aufmerksamkeit war gar nicht gut, befand Assat, und schon einen Moment später bekam er Gelegenheit, etwas gegen die Neugier der Männer zu tun.

„Wo habt Ihr die beiden Burschen gefunden?" fragte einer der Südländer Assat und wies auf die vermummten Elben. „Sind sie so gefährlich, wie sie aussehen?"

Assat warf einen betont flüchtigen Blick zu seinen angeblichen Leibwächtern hinüber. „Die beiden? Ich kann ihnen mein Leben anvertrauen, wenn es sein muss. Sie haben es mir mehr als nur einmal gerettet."

„Sind sie so hässlich oder warum verstecken sie ihre Gesichter?" spottete einer der jüngeren Männer, der neben Assat am Lagerfeuer Platz genommen hatte.

Assat packte ihn blitzschnell am Kragen und zog ihn dicht zu sich heran. Seine Augen funkelten, als er den überraschten Mann ansah und mit Genugtuung Furcht in dessen Blick erkannte.

„Wage es nicht, dich über meine Männer lustig zu machen, du Schönling."

Assat warf den Mann mit einem kräftigen Stoß von seinem Platz, so dass dieser rücklings zu Boden fiel. Diese Aktion brachte ihm anerkennende Lacher von allen Seiten ein. Er hatte den richtigen Weg gewählt, begriff er, und holte zu einer frei erfundenen Geschichte aus.

„Sie verloren ihr Antlitz, als man in Ardaneh einen Brandanschlag auf mein Leben verübte."

Diese wenigen Worte genügten, um die gespannte Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen. Zufrieden fuhr er fort, die ersonnene Geschichte zur Deckung der Elben und ihrer Verkleidung zum Besten zu geben.

„Ich war durch die starke Rauchentwicklung bewusstlos geworden und wäre in meinem Haus verbrannt, wenn es den beiden nicht gelungen wäre, mich aus einem der Fenster auf die Strasse hinunter zu lassen. Nur wenige Augenblicke später verstärkten sich die Flammen, doch es gelang ihnen, mir trotzdem noch zu folgen und der Flammenhölle zu entkommen. Ich brach mir ein Bein bei dem Sturz aus dem Fenster, doch diese beiden Männer verloren ihr Gesicht. Große Teile ihres Körpers und ihrer Hände sind gezeichnet von dem feigen Anschlag jener Attentäter, die ehrlos genug waren, sich hinter dem Feuer zu verstecken, anstatt sich mir Auge in Auge zu stellen. Seit jenem Tag weichen sie kaum von meiner Seite, und jeder, der für mich eine Gefahr für Leib oder Leben darstellt, wird von ihnen gnadenlos zur Strecke gebracht, stellvertretend für jene feigen Brandstifter."

Nun waren die Blicke, die zu den beiden vermummten Gestalten hinüber wanderten, anerkennend, und es blieb Gomars Männern nicht verborgen, dass eine Hand der beiden Leibwächter wachsam am Knauf ihrer Schwerter ruhte.

Assat indessen atmete innerlich auf, als er merkte, dass seine Geschichte angenommen worden war.

Da sich zunächst keine Gelegenheit ergab, aktiv zu werden und etwas über das Schicksal Aragorns zu erfahren, begann Assat den Männern auf deren Wunsch hin einige Geschichten aus seiner bewegten kriminellen Vergangenheit zu erzählen. Das so entstehende Vertrauen der Südländer konnte nur gut für ihr wagemutiges Vorhaben sein, den Menschen zu befreien.

Was ihn während seiner Erzählungen jedoch mehr und mehr beunruhigte und schnell kalte Schauer über seinen Rücken laufen ließ, waren die verhaltenen Schmerzensschreie, die irgendwann aus der Höhle am Ende des Lagers kamen und keinen der Männer zu stören schienen, denn nicht einer der Männer Gomars wandte seinen Blick hinüber.

Ganz im Gegensatz zu den beiden Elben. So verhalten manche der Schreie auch waren: die Stimme, die sie erzeugte, kannten sie nur allzu genau, und sie mußten sich so gewaltsam wie noch nie zuvor zwingen, keine ihrer aufwallenden Emotionen nach außen hin deutlich werden zu lassen.

Sie hatten Aragorn gefunden. Er lebte offenkundig noch, doch es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was dort drinnen gerade mit ihm geschah.

Während Assat die Männer mit seiner Geschichte ablenkte, wanderte Elronds Blick zum Himmel.

Es war früher Mittag.

Erst wenn in etwa fünf Stunden die spätherbstliche Abenddämmerung einsetzte, konnten Elladan und er daran denken, sich unbeobachtet fortzuschleichen und versuchen, in die Höhle zu kommen, um Aragorn zu befreien. Bei Tageslicht bedeutete dieses Unternehmen puren Selbstmord.

Die Elben hatten keine andere Wahl, als abzuwarten.

Vor ihnen lagen höchstens fünf Stunden, doch Elrond wusste, dass sie ihm und Elladan die wahre Bedeutung des Wortes Ewigkeit beibringen würden...

wird fortgesetzt