Schon wieder ein Monat um? Hm? Dreht sich die Erde plötzlich schneller um die Sonne? Wurde ein neuer Kalender eingeführt? Haben wir eine andere Zeitrechnung? Spielt unsere innere Uhr verrückt? Fragen über Fragen, auf die Salara und ich keine Antworten finden! ;)
Also akzeptieren wir den Zuruf der aufmerksamen Isadora und updaten pflichtgemäß und etwas schuldbewusst...
Ganz liebe Grüße an all unsere geduldigen Leser!
Schuld und Sühne
von: Salara und ManuKu
Teil 30
Inzwischen war es Nachmittag geworden und das schnell schwächer werdende Licht zeigte, dass die Dunkelheit bald einsetzen würde. Aufgeputscht von dem in seinem Blut kreisenden Sytharm und der Gewalt, die er in den letzten Stunden an Aragorn ausgelassen hatte, trat Gomar vor den Höhleneingang, um sich im Schnee das Blut von den Händen zu waschen.
Er fühlte sich frei und unglaublich wohl in seiner Haut. Endlich war er am Ziel seiner nun schon zwanzig Jahre dauernden Reise angekommen. Gomar genoss es unsagbar, dem Sohn des Verräters all das anzutun, was er sich seit Jahren in seinen Träumen ausgemalt hatte.
Der Südländer atmete die klare kühle Abendluft ein und warf einen Blick ins Lager.
Der größte Teil seiner Männer hatte sich um das Lagerfeuer geschart.
Gomar wollte sich schon abwenden und in die Höhle zurückkehren, als er den Neuankömmling entdeckte. Seine Instinkte ließen ihn sofort misstrauisch werden und so ging er langsam hinunter zum Lagerfeuer.
Seine Männer erhoben sich sofort, als sie ihres Anführers gewahr wurden. Als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt, wandten sich die meisten wieder ihren Aufgaben zu.
Auch Assat stand auf, denn das Verhalten der Südländer ließ keinen Zweifel offen, wer der finster dreinblickende Mann war, der ans Lagerfeuer getreten war.
„Ihr müsst der Anführer dieser Männer sein," stellte Assat fest und hatte Mühe, vor dem sichtbaren Wahnsinn in den Augen des Südländers nicht zurückzuschrecken. „Mein Name ist Assat. Einige Eurer Männer kennen mich unter dem Namen Schlange von Mittelerde."
„Ich hörte schon von Euch," antwortete Gomar nach einer Pause knapp. Er hatte den Fremden genau abgeschätzt und trat nun dicht an Assat heran. Sein stechender Blick suchte den Assats, den es all seine Kraft kostete, diesen Augen stand zu halten.
Assat hätte schwören können, dass der Südländer bis in seine erhellte Seele sehen und erkennen konnte, dass er sich gewandelt hatte.
Nach endlosen Momenten entließ ihn Gomar aus seiner Aufmerksamkeit und warf einen kurzen Blick zu den beiden vermummten Gestalten bei den Pferden. Natürlich waren auch sie ihm nicht entgangen.
„Sind das Eure Männer?" fragte Gomar und erwiderte ihre drohenden Blicke unbeeindruckt.
„Es sind seine Leibwächter, Herr," antwortete Morag.
In knappen Worten wiederholte er diesem, was Assat erzählt hatte und schloss dann mit den Worten: „Während des Sturms verloren sie ihr Lastpferd. Sie wollen etwas Proviant erstehen, um es über die Nebelberge bis in die nächste Stadt zu schaffen."
Gomar gefiel die Anwesenheit der Fremden in seinem Lager nicht, doch da es sich nur um drei Männer handelte und seine eigene Truppe weit in der Überzahl war, schienen sie keine Gefahr für ihn darzustellen. Ohnehin hatte er jetzt andere Dinge im Kopf.
Der Südländer sah Assat ein letztes Mal prüfend an, dann wandte er sich wieder ab und ging zurück zur Höhle. Dass ihm dessen Begleiter unverwandt nachstarrten, bemerkte er dennoch aus den Augenwinkeln.
Schließlich blieb er stehen und wandte den Kopf ganz offen in ihre Richtung. Sekundenlang maßen sich ihre Blicke in stummem Zweikampf, der erst davon beendet wurde, als die beiden vermummten Fremden deutlich widerstrebend fortsahen. Das änderte jedoch nichts daran, dass Gomar sich weiterhin von ihnen belauert fühlte.
Er spürte, wie seine Haut zu kribbeln begann. Etwas an den beiden war beunruhigend. Es war zum einen ihre angespannte Haltung, zum anderen ihr Schweigen und die Hände, die wachsam am Griff der Waffen ruhten...
Je länger Gomar die beiden anstarrte, desto sicherer bekam er den Eindruck, dass sie nur auf den besten Moment warteten, ihm mit gezücktem Messer an die Kehle zu gehen.
Nun hatte Gomar nicht eine so gnadenlose Ausbildung durchlaufen, um instinktive Warnzeichen leichtfertig zu ignorieren. Noch hatte er seine Heimat nicht erreicht, noch war die bis dahin zurückzulegende Entfernung groß und damit die Chance vorhanden, seine beiden Gefangenen wieder zu verlieren. Doch er unterschätzte nie seine Gegner. Zu lange hatte er in diesem ungastlichen Teil Ardas ausgeharrt, um den Verräter – oder in diesem Fall dessen Sohn – in die Hände zu bekommen, als dass er sich diesen mühsam errungenen Triumph jetzt durch eigene Achtlosigkeit einfach nehmen lassen wollte.
Etwas stimmte nicht mit den Dreien. Eine innere Stimme riet Gomar, dass es nichts schaden konnte, zu erfahren, wen sie sich da wirklich ins Lager geholt hatten und ob die Qual eines jungen Menschen Eindruck auf diese angeblich so bösen Schurken haben würde. Er musste auch nicht sehr lange über den passenden Köder nachdenken. Da der am Baum gefesselte Rivar keine unerwarteten Aktionen ausgelöst hatte, gab es nur noch eine Möglichkeit, zu erfahren, ob die Schlange von Mittelerde vielleicht gerade dabei war, ihre Giftzähne zu gebrauchen...
„Morag!" Gomars Stellvertreter war in Augenblicken an seiner Seite und sah ihn fragend an.
„Komm mit. Es gibt etwas für uns zu tun..."
Aragorn wusste nicht mehr, wie lange er schon in dieser Höhle gefangengehalten wurde. Die letzten Stunden waren für ihn inzwischen zu einem nicht enden wollenden Albtraum geworden. Er wusste nicht einmal, wie oft er das Bewusstsein verloren hatte oder ob es seine Schreie gewesen waren, die er glaubte gehört zu haben.
Es war, als hätte es all die vergangenen Jahre nie gegeben und seine gesamte Existenz habe sich auf das Hier und Jetzt, die Höhle, den Schmerz und die immer neuen Grausamkeiten des Südländers, reduziert.
Gomar genoß es sichtlich, seinen Gefangenen zu quälen, und der Südländer erwies sich als ausgesprochen erfinderisch in dieser Hinsicht. In den wenigen lichten Momenten, in denen Aragorn klar denken konnte, bezweifelte sein Verstand es, so etwas Einfaches wie zum Beispiel Waffenputzzeug jemals wieder ohne Grauen ansehen zu können.
Irgendwann hatte sein geschwächter, geschundener Körper zu versagen gedroht. Froh darüber, endlich in den Schutz einer tiefen Bewusstlosigkeit fliehen zu können, hatte Aragorn die näher kommende Schwärze begrüßt. Doch Gomars Erfindungsreichtum hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Sehend, dass sein Gefangener seinem Zugriff zu entgleiten drohte, hatte Gomar ihm brutal eine schwarze, ölig schmeckende und in der Kehle brennende Mixtur eingeflößt.
Die begrüßte Ohnmacht war daraufhin aus Aragorns Reichweite gewichen und trotz aller folgenden Pein auch fortgeblieben. Seither war er so wach, als würde er nie wieder einschlafen können. Zudem wurde der junge Mann nun von gesteigerter Empfindlichkeit gepeinigt. Nun setzte schon ein einfacher Schlag seine Nervenenden in Flammen, so als hätte man ihm glühende Eisen ins Fleisch gepresst. Gomar schien das genau zu wissen, denn von da an verlegte er sich aufs Prügeln.
Gomar hatte ihn geschlagen, verhöhnt, kurz in Ruhe gelassen, wieder geschlagen – und das über einen schier endlosen Zeitraum.
Inzwischen zuckte Aragorn schon bei jedem Geräusch zusammen. Auch diesmal wieder. Es kam vom Höhleneingang, doch er wandte den Kopf nicht mehr hin, um zu sehen, wer kam. Inzwischen waren seine Augen von den vielen brutalen Schlägen geschwollen und verschiedene Platzwunden, aus denen Blut sickerte, entstellten sein Gesicht, sodass er kaum noch etwas sehen konnte.
Aragorn war noch nie einem Menschen begegnet, der so viel Haß und Gewalt in sich vereinte wie dieser Südländer. Selbst ein Ork nahm sich dagegen noch harmlos aus, denn dem fehlte die Intelligenz, mit der dieser Mann zu Werke ging. Alles war von ihm genau durchdacht: jede Bewegung, jede Bemerkung, jeder Stich, Schnitt oder Schlag...
Auch, was er denken sollte, wusste Aragorn inzwischen nicht mehr. Glaubte er anfangs noch, dass seine Familie von den Südländern getötet worden war, während er im todesähnlichen Schlaf gelegen hatte, so war er sich dessen jetzt nicht mehr sicher. Vielleicht war alles nur ein weiterer quälender Trick, den Gomar anwandte, um sich an seinem Schmerz zu weiden? Der Südländer war scharfsinnig und sadistisch genug für so ein hinterhältiges Vorgehen. Doch andererseits war da auch diese erschreckende Brutalität in Gomar, die Aragorn glauben ließ, dass der Tod seiner Familie eine Fingerübung für den Südländer gewesen war.
Der junge Mann schüttelte den Kopf und versuchte Klarheit in seine verworrenen Gedanken zu bringen. Ihm war schwindlig und der Heiler in ihm wusste, dass die Schläge Gomars so heftig gewesen waren, dass er innere Verletzungen davongetragen haben musste.
Wieder tauchten Bilder vor seinem Auge auf. Er ahnte, dass sie nicht echt waren, und doch quälten sie ihn mit ihrer Intensität.
Er sah plötzlich Elrond an der hinteren Wand der Höhle stehen. Der Elb sah ihn mit seinem warmen beruhigenden Lächeln an und Aragorn wollte sich in seine Arme flüchten, wie er es als Kind immer getan hatte, um sich von der Präsenz des Elben auffangen zu lassen. Doch Elronds Lächeln erstarrte in diesem Augenblick und aus den Mundwinkeln lief ein dünner Blutfaden am Kinn hinunter.
„Nein..." flüsterte Aragorn. „Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Ada..."
Er schloss die Augen, um dieses Trugbild seines Geistes auszulöschen. Als er die Augen wieder öffnete, kniete Gomar vor ihm.
Aragorn zuckte erneut zusammen.
„Hast du mich vermisst?" fragte der Südländer zufrieden und strich eine schweißnasse Haarsträhne beinahe zärtlich aus dem Gesicht des jungen Mannes. Dann berührte er dessen Wange.
Wenn etwas noch unerträglicher an Gomar war als sein Sadismus, dann war es sein dauernder Wechsel zwischen Brutalität und Vertrautheit. Für Aragorn war das fast noch schlimmer. Ihm wurde bei diesen Berührungen übel und auch jetzt hätte er sich am liebsten übergeben.
„Dein Blut hat sich erhitzt bei unserem kleinen Spiel. Wir sollten vielleicht beide zusammen etwas kühle Luft schnappen. Es dämmert schon und die ersten Sterne sind zu sehen."
Aragorn wandte den Kopf aus Gomars Hand, erntete dafür einen brutalen Schlag mit dem Handrücken. Er stöhnte leise, während sein Kopf einmal mehr zur Seite kippte.
„Du weisst immer noch nicht, wer hier das Sagen hat, nicht wahr?" flüsterte Gomar. „Aber das lernst du schon noch. Wir haben viel Zeit. Zuerst müssen wir beide etwas überprüfen. Morag, hilf mir."
Er winkte seine rechte Hand herbei. Gemeinsam banden sie den Gefangenen los und schleppten ihn nach draußen. Da Aragorn sich kaum auf den Beinen halten konnte, wurde er mehr gezogen, als dass er selber ging.
Die kühle Luft tat dem geschundenen Gesicht des Mannes gut und so wandte er sein Gesicht zum Himmel. Doch alles, das weiter weg war, blieb für seinen Blick verschwommen. Selbst der Blick auf Earendil blieb ihm verwehrt.
So bemerkte er auch nicht die Blicke, die nun von allen Seiten auf ihm ruhten. Wäre er sich der zwei verhüllten Gestalten bewusst gewesen, deren Augen ihn keinen Moment verließen, wäre sein Herz sicher leichter geworden. Dann hätte die Hoffnung, die aufzugeben er beinahe bereit war, wieder ein Teil von ihm werden und den Wunsch verdrängen können, diese Welt zu verlassen.
So jedoch ließ er es kraftlos über sich ergehen, an einen Baumstamm gesetzt und dann daran gefesselt zu werden.
„Die Luft wird ein Wunder vollbringen, Aragorn. Ich denke, du wirst staunen..."
Gomar hockte erneut vor ihm und hob den auf die entblößte, blutige Brust zurückgesunkenen Kopf mit zwei Fingern an. Die Berührung war so sanft, dass sie den jungen Mann unwillkürlich an seinen Elbenvater erinnerte und es einen Moment dauerte, bis er sich daran erinnerte, wer ihn da so sanft behandelte. Rein aus Reflex scheute er wieder zurück, im gleichen Moment einen neuen Schlag erwartend – und spähte nach Sekunden müde durch seine geschwollenen Augen, weil die inzwischen gewohnte Reaktion unerwartet ausblieb.
„Diesmal nicht." Gomar wusste, was sein Gefangener dachte. „Schläge haben uns nicht weitergebracht, doch das wird sich nun ändern."
Er streichelte noch einmal über die Wange seines Gefangenen, dann stand er auf, warf einen Blick in die Runde – und ließ dabei nie die Neuankömmlinge aus dem Blick.
„Morag, ein Seil!"
Als dieser das Gewünschte brachte, winkte Gomar ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Morag nickte mehrmals, wandte sich schließlich ab und ging zu seinen Männern hinüber. Einige von ihnen wählte er aus und gemeinsam zogen sie sich an die entfernteste Position des Felskessels zurück, wo er sie in leisen Worten zu instruieren begann.
Während die Elben ihre gesamte Aufmerksamkeit Aragorn zuwandten, beobachtete Assat die Männer mit zunehmend misstrauischeren Blicken. Zwar hatte ihn der Anblick des blutüberströmten jungen Mannes ebenso geschockt wie die Elben, die wie erstarrt wirkten, doch die neue Aktivität der Südländer versetzte ihn in allerhöchste Alarmbereitschaft. Seine Erfahrungen aus den zurückliegenden Jahren, seine Instinkte, erworben in zahllosen, zum Teil lebensgefährlichen Unternehmungen, schrieen ihm drei Worte zu: WEG VON HIER!
Nichts schien jedoch darauf hinzuweisen, dass man sie durchschaut hatte, denn die Krieger um Morag nickten nach einer Weile und zerstreuten sich dann wieder, ohne ihm oder seinen Begleitern nun mehr Aufmerksamkeit als zuvor zu schenken.
Auch Morag kehrte zu seinem Herrn zurück, nachdem er zuvor etwas aus einer der seitlich abgestellten Satteltaschen geholt hatte. Assat konnte zwar nicht erkennen, um was es sich handelte, doch für den Moment war er einfach nur darüber erleichtert, offenbar zu viel in alles hineingedeutet zu haben. Er sah wieder zu Aragorn zurück.
Gerade legte Gomar diesem mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck den Strick lose um den Hals, dann schlang er ihn hinter dem Stamm zusammen, verknotete ihn, steckte ein stabil aussehendes Stück Holz in diesen Knoten und knotete es noch einmal zusätzlich fest. Mit Hilfe dieses Gebildes drehte Gomar nun die Enden mühelos mit einer Hand soweit zusammen, bis das Seil Aragorns Hals fest an den Baum presste.
Der junge Mann keuchte und die zerschnittene, blutüberströmte Brust hob und senkte sich heftig, je enger das Seil sich zuzog. Schließlich hakte Gomar das als Griff dienende Holzstück hinter einen hervorstehenden Astrest des Baumes, der damit zu einer Halterung wurde, und ging dann zu seinem Gefangenen nach vorn.
„Du hattest deine Gelegenheit, mir freiwillig gehorsam zu sein. Da du dich nach wie vor halsstarrig zeigst, muss ich es dir eben auf diese Art beibringen."
„Du ... bist wahnsinnig..." stieß Aragorn zwischen den Atemzügen hervor und spähte dabei ungeachtet seiner Furcht vor neuen Quälereien direkt in Gomars Gesicht. Trotz seines eingeschränkten Sehvermögens konnte er das Aufflackern kalter Wut in den Zügen des Südländers ausmachen. Aragorn wusste, was das hieß – und vermochte eine neuerliche Welle der Angst nicht zu unterdrücken.
„Habe ich dir erlaubt, zu sprechen? Nein, ich glaube nicht. Es wird wirklich höchste Zeit, dir deinen Ungehorsam auszutreiben!"
Gomar wandte sich zu den Kriegern um. Die meisten wussten nicht, was sie von dieser neuen Entwicklung halten sollten. Gomar hatte bisher in der Regel stets auf Ungestörtheit Wert gelegt, wenn es um die Befragung von Gefangenen ging.
„Für euch soll dies eine Warnung sein. Der nächste, der wie er gegen meine Regeln verstößt, erleidet dasselbe Schicksal!"
Mit diesen Worten griff er nach einer Peitsche, die Morag ihm schweigend reichte. Ein letzter, abschätzender Blick Gomars ging in die Runde, dann holte er aus...
Ein ganzes Stück von diesem Geschehen entfernt suchte sich Elrohir zum wohl hundertsten Mal innerhalb der letzten zwei Stunden einen neuen Aufenthaltsort. Es hätte einem Tanz geglichen, wenn die Miene des jüngeren Zwillings nicht von Mal zu Mal angespannter gewirkt hätte.
Seit sie Elrond, Elladan und Assat aus den Augen verloren hatten, war er wohl mindestens zweimal auf jeden Baum im Umkreis von 50 Metern geklettert, hatte sich auf jeden schneebedeckten Felsen, jeden umgestürzten Stamm gesetzt, um gleich wieder aufzuspringen und sich ein neues Ziel zu suchen.
Legolas stand kurz davor, ihn an den nächsten Stamm zu binden, doch er wusste, dass das nur ein Ausdruck der Furcht des anderen war. Elrohirs gesamte Familie befand sich nun in Gefahr, und die Möglichkeit, dass er sie lebend wiedersah, war beängstigend klein geworden. Elronds Verhalten hatte eine überdeutliche Sprache gesprochen.
Auch beim Elbenprinzen war die Sorge um das Schicksal aller gestiegen. Zwar hatte ihn das harte Reglement am Düsterwalder Königshof gelehrt, auch in den angespanntesten Lagen Selbstbeherrschung zu bewahren, doch inzwischen waren davon nur noch Reste übrig.
So war er, um nicht Elrohirs Beispiel zu folgen, irgendwann auf einen der Bäume geklettert, von dem aus er den Lagerplatz der Südländer schwach ausmachen konnte. Dort schien sich nichts zu regen. Nach wie vor kräuselte sich der dünne Rauchfaden gen Himmel.
Ein Knacken in seiner unmittelbaren Umgebung ließ ihn aus seinen Gedanken fahren, doch er musste nicht einmal hinsehen, um den Grund dafür zu kennen.
„Elrohir, die Äste werden auch nicht stabiler, wenn du an ihnen ununterbrochen auf und ab kletterst. Bleib oben oder unten, aber hör' endlich damit auf!"
Nun wandte Legolas den Kopf und sah den Zwilling an, der auf dem Ast unter seinem saß und mit finsterem Gesicht zu ihm empor schaute.
„Was siehst du? Sag schon."
Legolas seufzte.
„Das gleiche wie vor zehn Minuten. Es hat sich nichts verändert außer dem Sonnenstand."
„Wir würden mehr sehen, wenn wir näher herangingen."
„Wir würden gesehen werden, wenn wir näher herangingen," entgegnete Legolas.
„Dann müssen wir uns eben einen anderen Weg suchen. Einen, auf dem man uns NICHT sieht."
„Wie willst du das anfangen? Man würde uns von überall erblicken. Um nicht gesehen zu werden, bräuchten wir einen Tunnel dorthin, doch du bist noch immer ein Noldor, kein Zwerg."
Ein bitterböser Blick traf den Prinzen, doch gleich darauf legte sich ein nachdenklicher Ausdruck auf Elrohirs Miene.
„Du bringst mich da auf einen Gedanken." Elrohir lehnte sich an den Stamm zurück. „Nun kenne ich diese Gegend hier zwar nicht sonderlich gut, doch zumindest weiß ich, dass wir uns in unmittelbarer Nähe der Nebelberge befinden. Das ganze Gebiet hier ist von Felsgruppen durchsetzt, von denen viele bereits direkte Verbindung zu den Bergen haben. Vor einigen Hundert Jahren haben die Orks das trefflich für sich ausnutzen können. Es hat lange gedauert, bis wir uns ihrer endlich entledigen konnten. Viel zu lange."
Er verstummte.
Legolas wusste, dass Elrohir an seine Mutter dachte, deren Schicksal irgendwo in einer der unzähligen Höhlensysteme des Nebelgebirges von Orks besiegelt worden war. Die Zwillinge hatten nie verwunden, dass sie schließlich nach Valinor gegangen war, um nicht länger leiden zu müssen.
Der Elb verstand nicht, warum Elrohir das gerade jetzt ansprach, doch die Erklärung kam unmittelbar.
„Menschen sind normalerweise blind. Alles, was sie selbst nicht zu bewältigen meinen, trauen sie auch anderen nicht zu. Soweit wir sehen konnten, lagern die Südländer in so etwas wie einem größeren Felskessel. Wer weiß, vielleicht gibt es dort noch einen zweiten Zugang, einen, den sie gar nicht weiter beachten. Vielleicht einen für Reiter unzugänglichen Felsspalt, einen schmalen Tunnel, den sie für unpassierbar halten, eine Formation, die zu überklettern uns – im Gegensatz zu ihnen – nicht schwer fällt... So etwas eben."
„Worauf willst du hinaus?"
Der Zwilling zuckte mit den Schultern. „Wir müssen uns dem Kessel von der entgegengesetzten Seite nähern, uns dort umsehen. Ich bin überzeugt, irgendetwas wird sich finden lassen. Wir müssen Vater und den anderen helfen."
Legolas ließ sich die Worte durch den Kopf gehen und konnte nicht abstreiten, dass Elrohir Recht haben könnte. Schließlich nickte er.
„Gut möglich. Sollte deine Familie bis Sonnenaufgang..."
„Nein!! Ich werde jetzt gehen! Sofort! Ich halte diese Warterei keinen Moment länger durch. Vor allem nicht, nachdem ich Adas Verhalten gesehen habe. Er denkt, er kommt nicht wieder, deshalb musste ich schwören, umzukehren. Legolas, er hat mir Bruchtal so gut wie vererbt! Du kannst ja weiter warten, aber ich unternehme jetzt etwas!"
„Elrohir..."
„Schwur hin oder her: ich lasse ihn nicht allein. Und du wirst mich nicht aufhalten können."
Legolas wollte an Elrohirs Vernunft appellieren – und ließ es bleiben. Selbst wenn er es jetzt schaffte, den Zwilling zurückzuhalten – in spätestens einer Stunde waren sie beide mit ihren Nerven am Ende. Außerdem hatte er sein Wort ohnehin gegen seine Überzeugung geben müssen. Zu einem Entschluss gekommen, begann er mit dem Abstieg und folgte Elronds Sohn, der schon unten war und seinem Pferd zusteuerte.
„Elrohir, warte!"
Der sah zweifelnd zu dem Düsterwalder Prinzen zurück.
„Du willst mich nicht hindern?"
„Nein!"
Inzwischen war Legolas bei seinem Rappen angekommen. Er stieg auf, dann sah er zu dem Zwilling hinüber.
„Ich gebe es zu, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Deinem Vater zu versprechen, bis Sonnenaufgang zu warten, war vielleicht einer. Wenn es nicht so sein sollte und er, Elladan und Assat es auch ohne unsere Rückendeckung schaffen, können wir uns immer noch vor ihm verantworten. Schaffen sie es jedoch nicht, könnte mein Wortbruch ihnen vielleicht nützen, dir vielleicht sogar deine Familie und mir meinen besten Freund erhalten."
Er grinste. „Also komm. Lass uns nachsehen, ob nicht doch ein kleines bisschen Zwerg in dir steckt..."
Sie brachen auf.
Bisher hatte Elladan sich unter Aufbietung all seiner Kräfte noch zurückhalten können, doch als der Südländer die Peitsche ergriff, war seine Geduld aufgebraucht. Elladan ertrug die Vorstellung, seinen menschlichen Bruder noch länger leiden sehen zu müssen, nicht. Seine Augen suchten die Elronds, doch sein Vater schien wie in Trance zu sein, denn er starrte unverwandt auf einen Punkt, der irgendwo hinter Aragorn in den Felsen lag.
„Ada..."
Elladans Stimme zitterte vor unterdrückter Sorge, doch Elrond schien ihn noch immer nicht zu hören. Ungeduldig legte sein Sohn ihm eine Hand auf den Unterarm und schüttelte ihn solange, bis der Elbenherr ihn mit abwesendem Blick ansah.
Der Zwilling konnte nicht ahnen, dass in Elronds Gedanken die Bilder seiner Visionen wie Raubvögel umeinander kreisten und ihn mit ihrer Unabänderlichkeit fast in den Wahnsinn zu treiben drohten.
Wieder und wieder sah er die Klinge in Elrohirs Leib eindringen, Elladan gegen sich kämpfen. Und zwischen allem erhob sich stets aufs Neue die Schlange.
Es ergab keinen Sinn. Trotz seiner Maßnahmen hatte sich nichts verändert. Und Zeit hatten sie auch nicht mehr. Es mußte bald etwas geschehen.
„Wir müssen etwas tun. Er bringt Estel sonst um," verlieh Elladan den Gedanken seines Vaters unbewusst Ausdruck, dann stutzte er kurz angesichts des merkwürdigen Ausdruck in dessen Augen.
Gerade wollte dieser seinem Sohn etwas entgegnen, als das Klatschen der Peitsche ertönte. Ein laut vernehmbarer Schmerzensschrei Aragorns hallte durch die Abenddämmerung.
Noch ehe sie diesen Ort überhaupt betraten, hatte der Elbenherr gewusst, dass ihr Vorhaben ohne die Unterstützung von Glorfindel und seinen Männern sowieso nur geringe Aussichten auf Erfolg hatte. Dennoch hatte Elrond insgeheim darauf gehofft, dass es ihnen dennoch möglich sein würde, Aragorn auf eigene Faust zu befreien.
Der Plan war einfach gewesen. Unter dem Deckmantel von Assats Geschichte wollte er unerkannt ins Lager gelangen, sich einen Überblick über die Zahl der Südländer, deren Bewaffnung und vor allem den Aufenthaltsort Aragorns verschaffen. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wollte er zusammen mit seinem ältesten Sohn Estel im Schutz der Dunkelheit befreien und dann so rasch wie möglich verschwinden.
Eines hatte er dabei jedoch aus seinem Bewusstsein verdrängt: die Tatsache, dass weder Elladan noch er selbst in der Lage sein würden, dem Leiden Aragorns unbewegt zuzusehen. Und das war es, was sie hier und jetzt zu Fall bringen würde. Er wusste es mit einer Sicherheit, die keine Beweise brauchte.
Der Elbenherr spürte, dass seine Vernunft mit jeder verstreichenden Sekunde unüberlegter Sorge wich – und das Klatschen der Peitsche besorgte den Rest.
Als sich die geflochtene Lederschnur zum zweiten Mal in den ohnehin bereits stark blutenden Brustkorb des Menschen grub und einen neuerlichen erstickten Schrei hervorrief, war es um die Geduld Elronds endgültig geschehen.
Mögen die Valar uns beistehen! Entweder befreien wir ihn oder wir sterben alle an diesem Ort!
Die grauen Augen des Elben blitzten entschlossen auf und seine Hand schloss sich entschlossen um den Schwertknauf. Spätestens jetzt gab es nach allem, was schon geschehen war, kein Zurück mehr.
„Komm!"
Es war das eine Wort, auf das Elladan gewartet hatte.
Ohne die Südländer zu beachten, die sich neben und mit ihnen nun dem Schauplatz des Geschehens näherten, traten die beiden an den Baum heran, an den man Aragorn gefesselt hatte.
Elrond sah mit einem raschen Seitenblick, dass sein ältester Sohn gerade sein Schwert ein Stück aus der Scheide zog, doch noch ehe sie die Bewegung auch wirklich beenden konnten, packte man plötzlich von allen Seiten ihre Handgelenke und drehte sie ihnen so schnell auf den Rücken, dass die beiden Elben trotz ihrer überlegenen Körperkräfte erst nach einer Sekunde des Überraschungsmomentes reagieren konnten.
Sie begannen sich nach Leibeskräften zu wehren und schafften es auch, ein paar der Angreifer wegzustoßen. Doch die hatten ihr Vorgehen offenbar sorgfältig geplant, denn bereits nach wenigen Sekunden waren die Elben überwältigt, ihrer Schwerter beraubt und von gezielten Tritten zu Fall gebracht worden. Nun hielt man sie trotz ihrer Gegenwehr auf den Knien.
Sie starrten wütend Gomar an, der gerade zu einem dritten Hieb ausholte, sich jedoch im letzten Augenblick auf den Fersen herumdrehte. Gleichzeitig drehte er sein Handgelenk nach oben. Die dabei entstehende Bewegung gab der ledernen Peitschenschnur eine neue Richtung. Eine Sekunde später zuckte sie über Elronds Gesicht, riss das Tuch fort, hinter dem sich der Elb bislang verborgen hatte, und hinterließ dabei eine rote Spur. Ein zweites Mal holte der Südländer aus und auch Elladan verlor seine Tarnung.
Gomar ließ die Peitsche sinken und trat näher an die beiden Männer heran, die sich noch immer erfolglos gegen die sie festhaltenden Hände wehrten. Er betrachtete sie einen Augenblick lang neugierig, dann fegte er auch die Stoffbahnen zur Seite, die sich bislang wie Turbane um die Köpfe gewunden hatten.
„Sieh an, sieh an, mein Köder hat funktioniert! Eure Gesichter sind unversehrt? Da hat mich mein Gefühl also nicht getrogen, als es mir sagte, dass mit euch beiden etwas nicht stimmt." Mit dem Lächeln eines Menschen, der sich erwartungsgemäß bestätigt sieht, musterte er interessiert die spitzen Ohren der beiden. „Elben also! Noch dazu in meinem Lager!"
In diesem Moment teilte sich die Menge der seitlich stehenden Krieger. Man zerrte einen sich heftig wehrenden und aus einer Platzwunde an der Stirn blutenden Assat herbei. Als er nicht sofort vor dem Südländer auf die Knie fiel, halfen – wie bei Elrond und Elladan zuvor auch – sehr unsanfte Tritte in die Kniekehlen nach.
„Und die Schlange Mittelerdes bekomme ich noch als Draufgabe. Wenn du es überhaupt bist."
Assat funkelte ihn böse an. „Keiner auf Arda würde es wagen, dieses Zeichen neben mir zu tragen, und ich bin es nicht gewohnt, auf diese Art behandelt..."
„Das ist die Art, mit der man Lügner behandelt," schnitt Gomar ihm das Wort ab und fixierte die drei vor ihm knienden Männer mit einem Blick, dessen Intensität ihnen nichts Gutes verhieß. „Oder willst du mir allen Ernstes weismachen, dass Angehörige des Erstgeborenen Volkes sich bei dir als Leibwächter verdingen? Ich denke, deine Geschichte war gelogen! Ist es nicht so?"
Assat versuchte zu retten, was zu retten war.
„Weder muss ich dir etwas weismachen noch erklären, Südmann."
Der Blick Assats spiegelte Abscheu wider, als er gegen seinen Willen zu Aragorn hinüberstarrte.
Bleich, blutend und trotz der Eiseskälte schweißüberströmt, gequält von Schmerzen und gnadenlosen Fesseln, hoffte dieser immer noch, endlich das Bewusstsein zu verlieren, und hatte daher keinen Blick für das Geschehen um ihn herum.
„Die Wahl meiner Leute und Mittel ist meine Sache, so wie deine Leute und ... Mittel ... mich leider nichts angehen," sagte Assat. „Ich kam in friedlicher Absicht, um Proviant für uns zu erbitten, nicht, um mich und meine Männer demütigen zu lassen. Wenn du mir Hilfe und Lager verweigerst, sag es und wir ziehen friedlich weiter. Doch ich erwarte, dass du mit dieser ... dieser Abscheulichkeit aufhörst und man meine Männer und mich sofort freilässt."
„Abscheulichkeit?" Gomar zog hämisch die Augenbrauen hoch. „Ich hörte, die Schlange sei auch nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel."
„Das ist wahr und ich gebe es zu. Doch ich habe nie Unschuldige gefoltert. Bestraft habe ich immer nur jene, die es auch verdienten. Niemals aber..."
„Dieser hier ist nicht unschuldig," unterbrach Gomar ihn. „Die Schuld der Väter geht auf die Söhne über. Ist es nicht so? Doch du hast Recht: es geht dich nichts an."
Gomar war die Autorität in Assats Stimme jedoch nicht entgangen. Autorität war neben der Ausstrahlung eines Menschen eines der wenigen Dinge, die man nicht vortäuschen konnte. Noch immer nicht besänftigt, blieb sein Blick an den Elben hängen.
„Und warum erzählst du das Märchen über ihre angeblich verbrannten Gesichter?"
Assat holte tief Luft. Er hatte, seinem Metier entsprechend, zwar schon immer ein Meister der Improvisation sein müssen, doch auf so dünnem Eis hatte er sich noch nie bewegt.
„Ich habe mir einen Ruf geschaffen; einen, der offenkundig sogar bis an deine Ohren drang. Wer mit mir Geschäfte macht, weiß, dass er immer bekommt, wofür er bezahlt. Von diesem Ruf lebe ich, und das nicht schlecht. Doch leider wissen das auch meine Konkurrenten. Jeder von ihnen will lieber heute als morgen meinen Platz einnehmen. Wenn ich am Leben bleiben will, brauche ich den besten Schutz, den man bekommen kann. Du bist nicht aus diesem Teil Ardas, Südmann, denn sonst wüsstest du, dass es keine besseren Kämpfer als Elben gibt. Sie haben nur einen Nachteil. Die Menschen in diesen Landstrichen misstrauen ihnen und fürchten sie – und das ist leider meinen Geschäften abträglich. Ich kann es mir nicht leisten, die Furcht vor Elben meine Geschäfte schädigen zu lassen. Also ersann ich eine Geschichte, die bis heute auch gut funktioniert hat."
Endlich bereit, die Geschichte Assats zumindest in Teilen zu glauben, wandte Gomar sich an Elrond.
„Sagt mir, Elben: warum arbeitet ihr für einen Menschen? Noch dazu für einen Verbrecher? Hält sich euer Volk nicht von ihnen fern?"
„Das ist wahr. Mein Sohn und ich sind Assat jedoch verpflichtet. Wenn die Schuld beglichen ist, gehen wir von ihm fort und kehren zu unserem Volk zurück."
Die Antwort war Gomar zu vage, doch noch ehe er weiterfragen konnte, zerteilte eine schwache Stimme die über dem Felskessel liegende Stille.
„Ada?"
Eine Sekunde lang wirkten alle wie erstarrt.
Aragorn hatte Elronds Stimme wie aus weiter Ferne vernommen, den Worten träumerisch nachgelauscht und dann in einem der ihn umgebenden Gesichter das Eine erblickt, das zu sehen er sich mehr als alles andere gewünscht hatte. Sein halb bewusstloser Zustand verdrängte alle Umstände schlagartig. Nichts zählte mehr, als das verschwommene Gesicht seines Elbenvaters und die Stimme, die sagte, dass er zu seinem Volk zurückkehren wollte.
„Bleib ... bitte, Ada..."
Sehr langsam drehte Gomar sich zu Aragorn herum und kniete sich neben ihn, sorgsam darauf bedacht, den jungen Mann weder anzurühren noch ihn auf irgendeine andere Art aus seinem eigenartigen weltvergessenen Zustand zu reißen. Auch wenn Gomar das elbische Wort für Vater nicht kannte, so sah er doch, dass zwischen seinem Gefangenen und dem Elben eine enge Beziehung bestand. Er folgte Aragorns verschleiertem Blick, der starr an Gomar vorbei auf Elrond gerichtet war. Dieser ließ daraufhin resignierend den Kopf hängen.
Es war vorbei. Sie hatten verloren.
Nun verfluchte Elrond sich dafür, Elladan mitgenommen und damit zu einem sicheren Tod verurteilt zu haben.
„Es ist gut, Estel..." sagte er auf Sindarin, wissend, dass dies aller Trost war, den er seinem menschlichen Sohn noch geben konnte. „Ich bin hier und gehe nicht fort."
Elrond wusste nicht, ob Aragorn ihn wirklich gehört hatte, doch die Worte beruhigten den jungen Menschen augenblicklich und er schloss die Augen, als wolle er einschlafen.
Der Südländer hatte die Szene aufmerksam verfolgt. Jetzt stand er auf, blieb jedoch stehen, wo er war.
„Ihr kennt euch, wie ich sehe. Das ist nun wirklich eine Überraschung. Da mir damit auch der Grund eurer Anwesenheit klar wird, bleibt nur noch eine Frage: Wer seid ihr drei wirklich?"
„Das sagte ich bereits mehrmals..." begann Assat aufs Neue und erstarrte, als Gomar einen Schritt auf ihn zu machte und dann ohne Vorwarnung ausholte. Die Peitschenschnur zuckte klatschend über den Brustkorb Assats und das Ende erreichte sogar dessen noch längst nicht verheilten Rücken.
„Keine Lügen. Also?"
Assat biss wütend die Zähne zusammen, um dem Südländer die Genugtuung einer Schmerzensbekundung nicht zu geben. Der sah die drei Gefangenen unterdessen erwartungsvoll an. Die erwiderten seinen Blick ergrimmt und man sah nun ganz deutlich, dass unbändiger Haß allen dreien die Kehle zuschnürte.
„Keine Antwort? Macht nichts, wir haben Zeit."
Er wollte ein weiteres Mal ausholen, doch Elronds Stimme hielt ihn zurück.
„Haltet ein. Er hat bereits genug gelitten. Ich bin Elrond von Bruchtal, das ist mein Sohn Elladan und Assat hat sich Euch bereits mehrmals vorgestellt."
„Ich sagte doch, keine Lügen! Soll ich das jetzt etwa glauben? Nach allem, was ich heute schon von euch gehört habe? Nein, ich denke nicht." Gomar schwenkte die Peitsche, als bereite er sich auf einen neuen Hieb vor, doch Morags Stimme ließ ihn innehalten.
„Ich glaube, er sagt die Wahrheit, Herr."
Der Südländer war vor Elrond getreten und studierte nun intensiv dessen Züge. Dann sah er Gomar nickend an.
„Durch die Tücher konnte ich ihn nicht erkennen, doch das ist der Elb, gegen den ich im Schloss von Bruchtal kämpfte. Vor ein paar Tagen, als wir zum ersten Mal versuchten, den Jungen zu holen."
„Bist du dir da sicher?"
„Ich verwundete ihn am Arm, Herr. Lasst nachsehen. Er müsste eine Säbelwunde haben."
„Tut es!"
Gomar nickte ihm zu. Gleich darauf zerrte man an Elronds Oberbekleidung, bis die schon halbwegs verheilte Schnittwunde am Oberarm zum Vorschein kam. Triumphierend richtete Morag sich auf. „Er ist es!"
„Drei." Gomar schüttelte spöttisch den Kopf. „Habt ihr wirklich geglaubt, ihn mir zu dritt entreißen zu können? Aus der Bewachung von dreißig Männern?"
„Männer?" fauchte Elladan und ignorierte den Blick seines Vaters, der ihn davor warnen wollte, durch unbedachte Worte ihr aller Schicksal nur noch zu verschlimmern. „Bestien trifft es eher..."
Ein machtvoller Hieb brachte ihn zum Verstummen. Als Elladan wieder aufsah, blutete er aus der Nase. Widerwillig hielt er nun die Zunge im Zaum, doch der Stolz in seinen Zügen war ungebrochen.
„JETZT weiß ich, dass ihr die Wahrheit sprecht. Der gleiche ungezügelte Hochmut in Worten und Taten. Das kommt von deiner fehlerhaften Erziehung, Elb, ist aber korrigierbar, wie man an ihm sieht!" Gomar nickte in Richtung Aragorn.
„Und wenn es jetzt noch einmal einer von euch dreien wagt, sich mit mir anzulegen oder gar Widerstand leisten will, dann erinnert euch an dies!"
Er ging hinter den Stamm zurück, an den man Aragorn gebunden hatte. Dort löste Gomar das Holzstück vom Ast und drehte die Schlinge um dessen Hals kaltblütig enger. Der junge Mann begann zu keuchen, doch seine Augen blieben nach wie vor geschlossen. Unterdessen hakte der Südländer das Hölzchen wieder fest, kehrte zu den drei Gefangenen zurück und beugte sich zu Elrond vor, bis nur Zentimeter beider Gesichter voneinander trennten.
„Nur eine falsche Bewegung, und ich drehe die Schlinge so eng, dass Aragorn vor deinen Augen erstickt, Elb! Mir würde das gefallen. Und dir?"
Er sah an der wortlosen Wut, dass Elrond ihn verstanden hatte. Zufrieden damit, die Elben damit zumindest zeitweilig unter Kontrolle zu haben, trat er zurück und gab seinen Kriegern ein Zeichen.
„Durchsucht sie!"
Routinierte Hände tasteten die Gefangenen ab und beraubten sie aller Waffen, die sie neben ihren Schwertern bei sich getragen hatten. Drei Dolche kamen bei Vater und Sohn zum Vorschein, dazu Elladans Langbogen samt dem Pfeilköcher, und zum Schluß fand man noch einen Dolch bei Assat, den dieser zuvor von Legolas bekommen hatte.
Als man sicher war, alles gefunden zu haben, fischte Gomar einen fein ziselierten Dolch aus dem kleinen Waffenstapel und betrachtete ihn.
„Ein schönes Stück. Deiner, nicht wahr?"
Er sah Elrond an, der unwillig nickte. „Ja."
„Ist er alt?"
Elrond holte tief Luft. „Er wurde geschmiedet, als dieses Zeitalter begann."
„Ein Prachtstück." Gomar zog ihn aus der schmalen Scheide und ließ das ersterbende Tageslicht von der Klinge reflektieren. „Meiner würdig."
Er steckte die Waffe hinter seinen Gürtel und deutete mit dem Kopf zu einer Gruppe von Bäumen, die in direkter Linie zum Höhleneingang am Rande des Kessels wuchsen.
„Bindet sie dort an. Ich will sie sehen können. Morag, du haftest mir dafür, dass sie nicht fliehen. Keiner krümmt ihnen ein Haar, bis mir einfällt, was ich mit ihnen anfange! Und schick unsere besten Späher los. Ich möchte keine weitere unliebsame Überraschung erleben. Die Männer sollen sich umsehen, ob eventuell weitere Elben darauf warten, uns anzugreifen. In diesem Fall sollen sie sich vor ihnen nicht sehen lassen."
„Ja, Herr!"
Während die Krieger die sich erneut heftig wehrenden Gefangenen zu den Bäumen hinüberzerrten, sie dort wenig rücksichtsvoll fesselten und dann zu Patrouillen ausschwärmten, streifte Morag Aragorn mit einem Seitenblick.
„Was ist mit ihm?"
Gomar, der gerade in die Höhle zurückkehren wollte, blieb stehen. „Was soll mit ihm sein?"
„Soll ich ihn wieder hineinschaffen?"
Gomars Blick huschte zwischen Aragorn und den Elben hin und her, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, lass ihn, wo er ist."
Dann kam ihm ein Gedanke. Er hockte sich erneut zu dem jungen Mann und versetzte ihm solange leichte Klapse auf die Wangen, bis Aragorn die Augen einen Spalt breit öffnete und ihm seine volle Aufmerksamkeit zuwandte.
„Sieh mal, du hast nicht geträumt. Da... da drüben..."
Mühsam folgte dessen Blick dem ausgestreckten Finger Gomars. Er erstarrte, als er schließlich mit einigen Mühen erkannte, wen der Südländer meinte. Aragorn hatte den Bildern seiner Augen nicht trauen wollen.
Bis jetzt.
„Dann war ... es ... kein Trugbild! ... Er ist ... hier ... und ... lebt! Elrond ... ist nicht ... tot..."
Freude, Schrecken und Fassungslosigkeit mischten sich in Aragorns Worten, und ihr angestrengter Klang brachte Gomar zum Lachen.
Das laute Gelächter ließ seine Krieger erschrocken herumfahren, doch der Südländer störte sich nicht daran. So sehr ihn sein Schicksal bisher gemartert hatte, so gut meinten die Götter es jetzt mit ihm. Offensichtlich hatte er mit den Neuankömmlingen Elben in seiner Gewalt, die Aragorn viel bedeuteten. Es war zu gut, ein purer Rausch! Fast so schön, wie der Hoffnungsfunke, der nun in den Augen des jungen Mannes zu sehen war. Ihn mit wenigen Worten wieder zerstören zu können, krönte das Ganze!
„Ich sagte, Elben seien tot, und das war nicht gelogen. Das du angenommen hast, ich hätte auch jene Elben getötet, die dir anscheinend etwas bedeuten, hat mir so sehr gefallen, dass ich dich in dem Glauben ließ. Aber schon bald ist ihr Tod so sehr Wahrheit, wie du jetzt mein bist!"
Gomar streichelte erneut Aragorns Wange, diesmal so liebevoll wie noch nie. Da der um seinen Hals liegende Strick ihn so schmerzhaft fest an den Stamm band, dass er kaum noch Luft bekam, konnte der junge Mann dieser widerlichen Berührung nicht einmal mehr entgehen. So verzog er nur angewidert das Gesicht.
„Wie du siehst, Aragorn, habe ich jetzt euch alle in meiner Hand. Noch ehe du mit mir diese Lande verlässt, werde ich deinen Willen gebrochen haben, ohne dich noch einmal anzurühren. Kannst du dir denken, wie das geschehen wird? Ja? Das solltest du auch – immerhin haben wir beide ja schon einige Zeit miteinander verbracht."
Mit diesen Worten erhob er sich und ließ Aragorn allein.
Der hörte die sich entfernenden Schritte, doch es dauerte noch ein paar Sekunden, ehe die Worte einsickerten und ihm ihre Bedeutung vollends bewusst wurde.
„Komm zurück. Ich ... bitte dich ... komm zurück. Mach mit mir ... was du willst ... aber lass' ... die Elben gehen..."
Die atemlosen Rufe verhallten unbeantwortet, und der Südländer stoppte erst, als er sicher aus dem peripheren Sichtfeld Aragorns heraus war. Dann drehte er sich um und sah zu ihm zurück.
Das nenne ich wahre Macht, dachte Gomar und spürte, wie Befriedigung in ihm aufwallte, als er beobachtete, wie der junge Mann schwach und vergeblich gegen seine Fesseln ankämpfte und sich dann damit begnügte, kraftlos zu den Elben hinüberzustarren und unverständliche, durch den Luftmangel abgehackt klingende Worte mit ihnen zu wechseln.
Für die Elben, die es gewagt hatten, ihn um seinen Gefangenen bringen zu wollen, musste er sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen; etwas, das den Widerstand Aragorns ein für alle Mal brechen würde. Gomar hatte vor, eine lange Zeit damit zu verbringen, ihn für die Jahre der Suche in diesen Landen büßen zu lassen.
Und während er dem unverständlichen Gespräch frustriert lauschte, kam ihm ein Gedanke.
Er kehrte zu Aragorn zurück und ging vor diesem in die Knie. Graue, vor Tränen glitzernde Augen sahen ihn bittend an. Keine Spur von Widerstand war mehr in ihnen zu erkennen. Gomar wusste sich endlich am Ziel. Er hatte Aragorns Willen fast gebrochen.
„Ich bitte... dich," flehte dieser mühsam. „...lass ... sie gehen ... du willst sie ... doch gar nicht ... sondern nur ... mich..."
„Ich soll deine heißgeliebten Elben gehen lassen?"
„Sie sind nur ... meinetwegen gekommen ... und sie werden ... gehen und ... fortbleiben, wenn ... ich sie ... darum bitte ... Ich werde ... freiwillig ... als Sklave ... mit dir kommen ... wenn du sie ... frei lässt ... Das schwöre ich..."
Gomar lächelte wortlos, dann erhob er sich wieder.
„Dann wollen wir doch mal hören, ob sie noch ein besseres Angebot für mich haben."
Er ging zu Elrond hinüber, blieb vor ihm stehen und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
„Ihr seid gekommen, um Aragorn zu retten. Nun hat alles seinen Preis, das müsstet gerade ihr drei besser als andere wissen. Also: welchen Preis seid ihr zu zahlen bereit, damit ich ihn weiterhin am Leben lasse?"
Elrond wirkte gelassen, und es war nicht nur Fassade. Der Elbenherr hatte das Gespräch zwischen Gomar und Aragorn mitangehört und war fest entschlossen, jedes Schicksal zu akzeptieren, wenn das dessen und Elladans Rettung bedeutete. Und er hoffte, dass er vielleicht auch etwas für den alten Einsiedler tun konnte, der während der ganzen Zeit reg- und leblos erschienen war, nun jedoch erstmals seinen Kopf hob. Immerhin hatte Rivar einst sein Leben gerettet – und diese Schuld lag nun schwerer denn je auf Elronds Herz.
„Wie lautet dein Preis, Südländer? Ich tue, was nötig ist, um meinen Sohn, Aragorn, Assat und den alten Mann dort zu retten. Soll ich den Platz der Gefangenen einnehmen und dich als Sklave in deine Heimat begleiten? Ich werde es aus freien Stücken tun, wenn ich dafür dein Wort als Anführer dieser Männer habe, dass du den anderen ihre Freiheit wiedergibst!"
„Eine schöne Vorstellung. Wer hat schon einen unsterblichen Elben als Sklaven?" Gomar lächelte versonnen, dann zuckte er mit den Schultern.
„Ich werde Aragorn niemals freigeben. Nicht nach dem, was sein Vater tat. Und der Alte ist auf jeden Fall dem Tode geweiht, also wäre dein Opfer für ihn vergeblich. Trotzdem: Vielleicht behalte ich dich und deinen Sohn? Obwohl ihr den Ärger, den ihr mir mit Sicherheit machen werdet, eigentlich nicht wert seid..."
Sein Blick streifte Elladan, der an den benachbarten Stamm gebunden worden war. Es war zu erkennen, dass diesen lediglich die Stricke davon abhielten, Gomar mit bloßen Händen zu töten. Berechnend sah Gomar ihn an.
„Ich kann ja mal prüfen, wie gehorsam ihr als Sklaven wärt..."
„Niemals werden wir deine Sklaven, Südländer!" fauchte Elladan, bleich vor Zorn. „Eher sterben wir."
„Diesen Wunsch kann ich schnell erfüllen," fauchte Gomar zurück, beherrschte sich dann jedoch und sah nun bewusst an dem Elbenzwilling vorbei zu dessen Vater. „Wenn ich Aragorn weitere Schmerzen für eine Weile ersparen soll, müsst ihr zwei ihm das mit eurem Einsatz erkaufen. Ich will, dass du und dein Sohn miteinander kämpft."
Plötzlich schnellte Gomars Hand vor, packte Elrond an der Kehle und presste ihn gegen den Baumstamm zurück.
„Hast du gehört? Kämpfe, Elb! Kämpfe für mich, denn ich bin von nun an dein Herr! Zeig mir, warum die Elben so gefürchtet sind. Und wenn ich zufrieden bin, gewähre ich Aragorn eine Weile Ruhe."
Kämpfe, Elb! Kämpfe für mich, deinen Herrn... hallten ähnliche Worte in Elronds Kopf wider. Doch sie erklangen nicht mit Gomars Stimme, sondern mit der Stimme aus einer seiner Visionen. Und in dieser Vision war es Assats Stimme gewesen, die diese Worte sagte.
Völlig verwirrt sah Elrond zu dem Mann mit dem Schlangenmal hinüber, der gleichermaßen unglücklich wie wutentbrannt über den Fehlschlag ihres Rettungsversuchs war.
Etwas hat sich verändert. Nichts muss mehr so kommen, wie ich es sah. Noch ist nichts verloren... begriff Elrond schlagartig, fasste neuen Mut und nickte Elladan schließlich zu. Der starrte ihn verständnislos an, schwieg aber.
„Werdet Ihr Euer Wort halten?"
„Oh, seid gewiss, das werde ich. Und? Wie lautet deine Antwort, Elb?"
Elrond konnte dem Südländer nicht vertrauen, doch er wusste auch, dass dies die einzige Chance war, die Aragorn und sie vielleicht noch bekommen würden. Was auch immer Gomar wirklich vorhatte: es gab nur eine Antwort.
Der Elbenfürst nickte. „Wir werden kämpfen!"
wird fortgesetzt
