Bevor ihr dieses Kapitel lest, müssen wir euch auf etwas vorbereiten.

Anfangs hätten wir nie gedacht, dass sich mehr als zwei Geschichten entwickeln würden. Nun haben wir schon die dritte beendet, nebenbei hat Salara die vierte geschrieben und wir planen sogar ein fünftes Abenteuer.

Als wir uns auf das Ende dieser Geschichte zu bewegten, mussten wir etwas tun, was wir anfangs nicht geplant hatten: wir mussten Arwen einbauen! Sie lässt ihr hübsches Antlitz kurz mal blicken und ist gleich wieder weg – Versprochen! Wir brauchen die Dame jedoch, um ein paar Dinge in die entsprechende Richtung zu bewegen, die unseren Lieblingselb und seinen Waldläufer angehen.

Indem wir die Begegnung zwischen Aragorn und Arwen einbinden, wollen wir auch irgendwie Tolkien Respekt zollen; schließlich ist Arwen später ein nicht unwesentlicher Teil der Geschichte um Aragorn.

Falls sich jetzt jedoch jemand Romantik verspricht, müssen wir ihn enttäuschen. Unsere Geschichten bleiben Legolas/Aragorn lastig!


Schuld und Sühne

von: Salara und ManuKu


Teil 33

Elrond hatte die Höhle mit bangendem Herzen betreten, dort jedoch überraschend niemanden gefunden. Nach kurzem Suchen war ihm schließlich der weiterführende Gang aufgefallen. Ohne zu zögern folgte er ihm tiefer in den Berg hinein, bis er sah, dass vor ihm die Öffnung zu einer zweiten Höhlenflucht auftauchte. Getrieben von der Besorgnis um Aragorn betrat er sie, blieb jedoch schon nach wenigen Schritten wie erstarrt stehen. Sein Verstand registrierte das sich ihm bietende Bild, wollte es jedoch trotz der grausamen Deutlichkeit nicht glauben.

Vor sich sah er Legolas. Der Elbenprinz kniete auf dem Boden, hatte den jungen Menschen dicht an sich herangezogen und barg ihn in seinen Armen, als wolle er ihn nie wieder loslassen.

Es bedurfte zweier angestrengter Atemzüge, bis Elrond sich wieder soweit unter Kontrolle hatte, dass er sich einen ersten Überblick verschaffen konnte.

Aragorns Kopf lag an Legolas' Oberkörper. Die silbergrauen Augen des Menschen, die stets so voller Klugheit und Mut gewesen waren, waren nun geschlossen. Das Gesicht war bleich, soweit die dicke Kruste aus Blut und Schmutz dies erkennen ließ und die Kleidung, mit der man Aragorn in die Grabkammer gebettet hatte, hing jetzt in Fetzen von seinem Körper. Überhaupt gab es kaum eine Stelle an seinem Leib, die nicht auf irgendeine Art zerschunden war. Einen seltsamen Anblick bot einer seiner Arme, der bedingt durch Legolas' Festhalten verdreht zur Seite hing und noch blutdurchtränkte Strickreste am Handgelenk hatte. Doch das Schlimmste von allem war die offensichtliche Leblosigkeit Aragorns.

Ein schrecklicher Gedanke fraß sich durch das Denken des Elben.

Zu spät. Ich bin zu spät gekommen.

„Legolas?"

Dieser hatte in seiner Versunkenheit den älteren Elben nicht kommen hören, doch das eine tonlose Wort holte ihn in die Gegenwart zurück. Er sah auf.

Die Blicke beider Elben trafen sich, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis Elrond anhand der immensen Erleichterung in den blauen Augen des Prinzen die Tragweite seines Irrtums begriff.

„Estel lebt," bestätigte Legolas gleich darauf. Erschöpfung, die bis ins tiefste Innere des Prinzen reichte, ließ seine Worte viel leiser klingen, als es die Freude über den errungenen Sieg verlangte.

Inzwischen hatte auch Glorfindel die Höhle betreten. Zwar war der Kampf an dem blonden Elb aus Gondolin auch nicht spurlos vorbeigegangen, doch die Situation, der er sich nun unerwartet gegenübersah, verlieh ihm neue Energie. Glorfindel erfasste die Lage viel schneller als die beiden anderen Elben.

„Ich hole Euch Verbandszeug," sagte er schlicht und ging, ohne auf eine Bestätigung zu warten.

Elrond, der so aus seiner Erstarrung geholt wurde, gesellte sich rasch an Legolas' Seite. Erleichtert legte dieser Aragorn vorsichtig zu Boden. Während Elrond sich neben seinem Sohn kniete, stand Legolas auf und trat einen Schritt zurück. Sein Blick wanderte zur Höhle, aus der er erst Minuten zuvor gekommen war.

„Der Südländer hat Aragorn so zugerichtet. Ich habe ihn getötet!"

Die Worte klangen erstaunlich beiläufig, doch hinter seiner Stimme schwangen abgrundtiefer Hass und Dunkelheit mit. Beides kam Elrond wie eine giftige Woge entgegen. Bis ins Mark beunruhigt, starrte er Legolas an. Es war lange her, dass er einem Elben begegnet war, der zu so finsteren Gefühlen fähig war.

Kopfschüttelnd ließ Elrond seine Unruhe für den Moment fallen und untersuchte stattdessen Aragorn. Erleichtert stellte er fest, dass der junge Mann tatsächlich noch unter den Lebenden weilte. Er war zu Tode erschöpft und hatte die Stärke seines Körpers restlos aufgebraucht, doch seine Seele weilte noch in ihm. Elrond konnte den Lebenswillen, der seinen Pflegesohn schon immer ausgezeichnet hatte, deutlich spüren.

Bald darauf kehrte auch Glorfindel mit einer Satteltasche wieder in der sich Elronds Medizin verbarg. Erleichtert machte sich der Herr von Bruchtal daran, Aragorns Wunden zu versorgen, während Glorfindel es übernahm, die leichten Verletzungen von Legolas zu verbinden.

xxx

Inzwischen war die Mitternacht heran und längst hatten sich Dunkelheit und Stille über das Lager gelegt. Die toten Südländer waren von Glorfindels Kriegern außerhalb des Felskessels gebracht und ein Stück entfernt in der Ebene verbrannt worden. Nur die Verbände, die einige Elben trugen, zeugten von der blutigen Auseinandersetzung, an der sie teilgenommen hatten.

Rivars Leiche war abseits auf Decken gebettet worden. Legolas hatte darauf bestanden, ihn an einem anderen Ort zu bestatten, und war bei Elrond auf volle Zustimmung gestoßen. Beide wussten, dass dieser felsige Platz dem Einsiedler zu eng und erdrückend vorgekommen wäre. Außerdem war es der Ort, an dem er gelitten hatte und gestorben war. Keine gute Ruhestätte also für den Mann, dessen Selbstlosigkeit Aragorns zwei Familien und Legolas so viel zu verdanken hatten.

Etwas abseits der Geschehnisse saß Assat. Inzwischen hatte man für ihn in einem geschützten Winkel ein kleines Lagerfeuer entzündet, an dem der Mensch sich warm halten konnte. Und das war dringend nötig, denn zum einen peitschten eisige Winterwinde durch die Felsen, und zum anderen ließen die Erschöpfung und die längst noch nicht verheilten Wunden ein immer stärkeres Frösteln durch die Glieder des Menschen ziehen.

Irgendwann am Abend war Elrond zu ihm gekommen, um sich um seine Wunden zu kümmern; vor allem aber, um ihm für seinen Einsatz und den Mut zu danken, mit dem er für sie gekämpft hatte.

„Wir stehen tief in Eurer Schuld, Assat von Ardaneh. Ich, meine Familie... alle, die Estel kennen, sind Euch zu mehr als nur Dank verpflichtet. Ich bitte Euch, über alles, was Ihr saht und wisst, Schweigen zu wahren. Estels Leben hängt davon ab, dass niemand erfährt, dass er noch lebt. Zudem stehe ich von nun an in Eurer Schuld, und sollte ein Moment kommen, in welchem Ihr meiner Hilfe bedürft, dann zögert nicht, sie einzufordern. Bruchtal steht Euch von nun an offen."

Mit diesen Worten war Elrond gegangen, wohl erkennend, dass er einen völlig verblüfften Menschen hinter sich zurückließ. Er hatte bewusst keinen Schwur von Assat eingefordert, denn der allein würde einen Bruch des Versprechens auch nicht verhindern können. Wenn der Mensch es ehrlich meinte, hielt er sein Wort. Wenn nicht, würde Aragorn sich zu wehren wissen, notfalls mit Elbenhilfe. Doch ein einziger Blick Elronds auf die nun veränderte Aura des ehemaligen Verbrechers machte eine solche Befürchtung unnötig. Aus dem zuvor Dunklen war etwas Neues, Helleres geworden.

Zwar war sich der Mensch dessen selbst noch nicht in vollem Umfang bewusst, doch das Leben, das er bisher geführt hatte, lag endgültig hinter ihm.

Der Elb hatte sich daraufhin wieder in die Vorderhöhle zurückgezogen, in der Aragorn inzwischen lag, und wachte seither neben dessen Lager. Es hatte all seine Kunst gebraucht, um mit den bescheidenen Arzneien aus Bruchtal zumindest die ärgsten Verletzungen seines Sohnes zu versorgen. Bis er zu einer besseren Behandlung imstande war, konnte Elrond nur noch auf die Kraft des numenorischen Blutes hoffen, das durch Aragorns Adern floss.

Während leise Laute ins Höhleninnere drangen und von der Anwesenheit der anderen Elben kündeten, betrachtete Elrond das von Schrammen, Schwellungen und Blutergüssen gezeichnete Gesicht des jungen Mannes.

So viele Jahre war Aragorn nun schon Teil seiner Familie. Sich vorstellen zu müssen, ihn wirklich zu verlieren, war unmöglich. Schon das Schauspiel mit dem inszenierten Tod hatte den Elbenherrn alle Kraft gekostet. Es hatte sich – trotz des Wissens, dass Aragorn nicht wirklich starb – so schmerzlich echt angefühlt, ihn in seinen Armen dahingehen zu fühlen. Dann dies hier; der Moment, in welchem er ihn leblos in Legolas' Armen erblickt hatte...

Elrond wusste, dass der Tod seinen Pflegesohn eines Tages tatsächlich aus jenem Leben reißen würde, das ihn an Mittelerde band. Trotz seiner Sicht in die Zukunft wusste der Elb nicht, ob dieser Tag noch in weiter Ferne lag oder schon kurz bevorstand. Alles, was er wusste, war die einfache Einsicht, dass er Aragorn loslassen musste, damit er seinen eigenen Weg gehen und zu dem König werden konnte, der die Geschicke Mittelerdes bestimmen würde.

Als wären diese Betrachtungen ein Signal, lief plötzlich ein Zucken über Aragorns Gesicht. Kurz darauf öffneten sich seine Lider einen Spalt breit. Trübe, desorientierte Augen huschten ziellos hin und her.

Elrond beugte sich über seinen Jüngsten und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Die Berührung beruhigte Aragorn augenblicklich. Nach weiteren Momenten hatte sich auch dessen Sehvermögen wieder soweit stabilisiert, dass der Mensch erkennen konnte, wessen Umrisse da über ihm hingen. Der Elb begegnete dem ungläubigen Blick seines menschlichen Sohnes mit einem verstehenden Lächeln.

„Du bist jetzt in Sicherheit, Estel," flüsterte er und strich ihm noch einmal über die Stirn, um dann die Decke um Aragorns Körper ein Stück höher zu ziehen.

Plötzlich berührte Aragorns Hand zögernd das Gesicht des Elben, strich über die rote Strieme, die Gomars Peitsche noch vor nicht allzu langer Zeit auf Elronds Zügen hinterlassen hatte. Tastend glitten Aragorns zitternde Fingerspitzen weiter, bis das Begreifen mit voller Wucht über den jungen Mann hereinbrach. Schlagartig füllten seine Augen sich mit Tränen.

„Es war doch kein Traum. Du bist wirklich hier." Es war eine Feststellung, doch auch eine gewisse Unsicherheit klang in diesen Worten mit.

„Ganz recht, ich bin bei dir, Estel."

„Und meine Brüder?" folgte die nächste Frage

„Elladan und Elrohir geht es gut, keine Sorge. Nun ruh'..."

„Was ist mit Legolas?" unterbrach Aragorn seinen Elbenvater ungeduldig und richtete sich ein Stück auf. Gerade erinnerte sich etwas in ihm wieder an Legolas' Kampf mit Gomar und an den Schrei, der irgendwann aus der Nachbarhöhle zu ihm durchgedrungen war.

„Mir geht es gut," antwortete ihm unerwartet eine leise Stimme von der anderen Seite.

Legolas hatte vor wenigen Augenblicken die Höhle betreten und die letzten Worte gehört. Nun erhellte ein erleichtertes Lächeln sein Gesicht, als er Aragorn bei Bewusstsein vorfand.

„Aber um dich haben wir uns Sorgen gemacht, mellon-nîn."

Der Waldelb kniete sich neben das Lager Aragorns und betrachtete das Gesicht seines Freundes. Die Spuren, die die Südländer dort hinterlassen hatten, machten den Elbenprinzen immer noch wütend, doch er unterdrückte diesen Zorn mit aller Kraft. Gomar war tot. Aragorn war am Leben. Das war alles, was zählte!

„Dein Vater hat eine Weile gebraucht, um deine vielen Wunden zu versorgen. Ihr Menschen seid so zerbrechlich," setzte Legolas mit einem Lächeln hinzu.

„Mein Körper mag vielleicht zerbrechlich sein, mein Freund, doch ich bin nicht zerbrochen," antwortete Aragorn ernst. „Nicht hieran."

Legolas kannte seinen menschlichen Freund inzwischen gut genug, dass es ungeachtet seines Zustandes nur eines einzigen Blickes in dessen Augen bedurft hätte, um zu ahnen, was Aragorn in den Händen der Südländer durchgemacht haben musste.

„Nein, mein Freund, du bist nicht zerbrochen. Gomar hingegen ist es. Er liegt auf dem Grund des Höhlensees, getötet durch meine Klinge. Alles ist zu einem Ende gekommen."

Erleichterung durchzog Aragorns zerschlagenes Gesicht, doch schon im nächsten Moment legte sich ein neuer Schatten darauf.

Ada, was ist mit Rivar? Sag mir..."

Er verstummte, als er sah, wie sich Elronds und Legolas' Miene schmerzerfüllt verschlossen.

„Tot?" fragte er tonlos und sah, wie sein Elbenvater nickte.

„Er opferte sein Leben, um das meine zu retten."

„Er war immer für uns da. Erst für meinen Vater, jetzt für dich... Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit füreinander gehabt. Es gab noch so viel, das ich ihn hätte fragen wollen. Nun bleibt mir nur sein Tagebuch..."

Aragorns Stimme war leise geworden und Elrond nahm das als Veranlassung, seinen Sohn wieder auf das Lager zurückzudrücken.

„Für den Moment ist es genug, Estel. Du brauchst noch viel Ruhe. Der Weg nach Lórien wird schwer werden, wenn du nicht ein wenig von deiner alten Kraft zurückgewinnst."

„Du schickst mich also nach Lórien?"

„Sei vernünftig, mein Sohn. Dort kannst du in Ruhe genesen und überlegen, wohin dich deine Wege zukünftig führen werden."

„Das weiß ich bereits." Aragorn sah den Elben mit einem Ausdruck an, der darauf schließen ließ, dass er sich seine nächsten Worte genau überlegt hatte und nicht mehr von ihnen abgehen würde. „Ich werde zu den Waldläufern gehen, um als einer von ihnen zu leben. Als Mensch unter Menschen. Zumindest für eine Weile will ich jemand sein, der so unbedeutend ist, dass niemand mehr seinetwegen sterben muss. Nun, da Aragorn, Sohn des Arathorn, und Estel, Pflegesohn des Elrond von Bruchtal, tot sind, kann ich mich unter einem anderen Namen anschicken, die Welt zu erkunden, die ich als Aragorn zu regieren geboren wurde. Gefahrlos. Ohne, dass um meinetwillen eure Leben auf dem Spiel stehen. Dieser Weg wird mich irgendwann zu der Erkenntnis führen, was ich mit dem Erbe machen will, das mir vom Schicksal auf die Schultern gelegt wurde. Doch bis es soweit ist, werde ich den Pfad der Menschen gehen. Allein. Bitte versteh' mich, Ada."

„Das tue ich. Auch wenn ich nicht behaupten kann, glücklich über deinen Entschluss zu sein, werde ich ihn respektieren. Es ist das, was geschehen muss. Das weiß ich jetzt."

Legolas' Miene war immer verschlossener geworden, je mehr er von den Erklärungen seines Freundes hörte. Schließlich brach die eine Frage aus ihm heraus, die er einfach stellen musste, um seine rasch wachsende Unruhe zu besänftigen.

„Heißt das, dass wir uns nicht mehr wiedersehen werden?"

„Für eine Weile nicht, nein." Eine unsichere Hand hob sich und streckte sich Legolas entgegen, der sie ergriff. „Bitte, mellon-nîn, begreif' doch! Ich kann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Nicht nach all dem Leid, das meinetwegen über euch kam."

Legolas nickte, wenn auch sehr zögerlich.

„Ich..." Er räusperte sich, weil seine Kehle plötzlich eng geworden war. „Ich verstehe. Aber du kommst zurück, nicht wahr?"

„Schneller, als du denkst. Du weißt doch: für Menschen läuft die Zeit rascher ab als für euch Elben."

Das gleichzeitige Stirnrunzeln der beiden Elben sagte Aragorn, dass sein Versuch von Galgenhumor nicht so gut angekommen war. Er hielt noch immer Legolas' Hand fest, nahm nun auch die seines Vaters, dann sah er beide abwechselnd an.

„Ich muss zwar eine Strecke meines Weges allein gehen, doch ich kann es nur, wenn ich weiß, dass ihr da seid, sobald mein Herz heimkehren will."

Elrond drückte die Hand seines Sohnes sanft. Er sah die Erschöpfung, die diesen immer dichter an den Rand einer neuen Bewusstlosigkeit brachte. „Wir werden für dich da sein, wenn du uns brauchst. Bis dahin wirst du jedoch für den Rest Mittelerdes tot bleiben. Nur wir und die von Glorfindel angeführten Krieger, die uns befreit haben, werden wissen, dass du noch am Leben bist. Sie haben sich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Und nun schlaf!"

Elrond legte seine Handfläche über Aragorns Blick und es dauerte nicht lange, bis sich der junge Mann der Macht des Schlafes ergeben hatte.

„Wird sich seine Seele erholen?" fragte Legolas besorgt, als er seinen Freund wieder im Tiefschlaf wusste.

„Er wird stärker aus diesem Erlebnis hervorgehen. Estel hat nun gelernt, dass es Menschen gibt, die ihn auf Grund seiner Herkunft vernichten wollen. Und er hat gelernt, dass er sich auf seine Familie und Freunde verlassen kann. Daraus wird er künftig seine Stärke und Kraft nehmen, wenn alles um ihn herum zusammenzubrechen scheint. Helft ihm dabei, mein Prinz!"

Legolas hielt dem forschenden Blick des älteren Elben stand und für einen kurzen Augenblick konnte Elrond einen kristallklaren Blick in die Zukunft werfen. Nicht über eine Vision, sondern über die Gefühle, die er in den blauen Augen des jüngeren Elben sah. Er erblickte beide Männer Seite an Seite kämpfend, sah sie zusammen lachen und zusammen leiden. Erst jetzt begriff er, wie tief die Verbundenheit der menschlichen und der elbischen Seele in Wirklichkeit bereits war.

„Unsere Leben sind verbunden." Es brauchte keine Formel, um Legolas' Worte zu einem Schwur zu machen. „Estels Weg und meiner werden sich immer wieder kreuzen. Ich werde da sein, wenn er mich braucht! Das verspreche ich Euch!"

Elrond lächelte plötzlich. Nun konnte er seinen Jüngsten unbesorgt loslassen, denn es gab jemanden, der ihn an seiner Statt begleiten würde.

„Ich danke Euch, Legolas, Thranduils Sohn," erwiderte Elrond auf die althergebrachte, feierliche Weise und neigte leicht seinen Kopf. „Mein Sohn konnte keinen treueren Freund finden."

Ein Räuspern vom Eingang der Höhle her ließ Legolas aufsehen. Als er Glorfindel erblickte, erhob er sich lautlos und zog sich respektvoll zurück. Der Gesichtsausdruck des Gondoliners sagte ihm, dass dieser wichtige Dinge mit seinem Herrn zu besprechen hatte.

Als sie allein waren, kniete Glorfindel neben Elrond nieder.

„Was habt Ihr nun vor? Wo wollt Ihr Aragorns Verletzungen auskurieren? In diesem Zustand schafft er es nie über die Nebelberge. Der Winter ist schon fast da."

„Ich weiß, mein Freund. Diese Sorge hatte auch mich eine Zeitlang beschäftigt. Doch wenn mich meine Erinnerung nicht trübt, gibt es kurz vor dem Sîr Ninglor-Pass eine Herberge. Es ist die letzte Möglichkeit für die Menschen, sich vor ihrem Gang übers Nebelgebirge auszuruhen und die Vorräte aufzufüllen. Wir Elben nutzen diese Einkehr der Menschen für gewöhnlich nicht, doch in diesem Fall haben wir keine andere Wahl. Dort werden wir seine Wunden weiter versorgen. Sobald er genug Kraft gewonnen hat, wird er nach Lórien weiterreisen."

„Werdet Ihr ihn dorthin begleiten oder ist dies meine Aufgabe?"

„Nein..." Elrond schüttelte den Kopf. „Ihr werdet Elrohir, Elladan und den Menschen Assat nach Bruchtal zurückbringen. Ich begleite Aragorn, zusammen mit einer Schar Kriegern aus Lórien, die hierher unterwegs sind. Die Herrin des Goldenen Waldes erwartet uns."

„Ihr habt mit Lady Galadriel Kontakt aufgenommen?" Glorfindel war immer wieder aufs Neue beeindruckt, über welche Entfernungen die beiden Elben sich verständigen konnten.

„Sie hat einige ihrer Krieger losgeschickt, um uns zu treffen und sicher nach Lórien zu geleiten. Sie werden uns finden, wo immer wir uns auch aufhalten werden."

„Dann werde ich alles für den Aufbruch vorbereiten." Mit einem angedeuteten Nicken zog Glorfindel sich nach draußen zurück und begann damit, Vorkehrungen zu treffen, um im Morgengrauen nach Bruchtal aufbrechen zu können.

xxx

Der Morgen kam schnell und mit ihm neuer Schnee.

Aragorn war schon erwacht, als Elrohir, auf Elladan gestützt, die Höhle betrat. Der ältere Zwilling setzte seinen Bruder auf einem kleinen Felsbrocken ab und blieb dann unschlüssig neben ihm stehen.

„Elrohir!" Aragorn war schlagartig besorgt, denn die mühsamen Bewegungen des jüngeren Zwillings waren ihm nicht entgangen. „Ada sagte mir, dass es Euch gut geht. Doch so wie du dich bewegst, bist du immer noch schwer verletzt."

„Sind wir das nicht alle?" Der Vorwurf in Elladans Stimme war nicht zu überhören. „Auf die eine oder andere Art?"

Aragorn wusste sofort, was gemeint war. Seine Schuldgefühle waren nun so groß, dass es ihm die Worte nahm.

Den Zwillingen schien es ähnlich zu gehen und so sprach eine ganze Weile keiner von ihnen. Die Ereignisse der letzten Tage waren an niemandem spurlos vorübergegangen. Unter dem Eindruck des Erlebten suchte jeder in den Augen der anderen nach einem Zeichen, dass alles wieder so werden konnte wie zuvor. Tief im Innersten wussten sie jedoch, dass sie nicht zu ihrem gewohnten Leben zurückkehren konnten. Zuviel war geschehen. Die vorangegangenen Ereignisse hatten unauslöschliche Spuren hinterlassen.

„Vergebt mir!" Aragorn ertrug das Schweigen schließlich nicht mehr. „Es tut mir leid, dass ich euch meinen Tod vortäuschen musste. Zu jenem Zeitpunkt schien es das Vernünftigste zu sein..."

„Vernünftig?" unterbrach Elladan ihn, kam näher und kniete sich neben seinen menschlichen Bruder. Im Begriff, seiner Enttäuschung endlich Luft zu machen, sah er ihm tief in die Augen und erblickte darin den Schmerz und die Entbehrungen der letzten Tage. So schluckte er die Vorwürfe hinunter, die sich bei ihm angesammelt hatten. Stattdessen nahm er Aragorns mutloses Gesicht zwischen seine Hände und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

„Du hast uns glauben lassen, wie hätten dich verloren, Estel! Seit der Abreise unserer Mutter nach Valinor habe ich nicht mehr eine solche Leere in mir gespürt..."

Elladans Stimme brach für einen Augenblick, dann fasste er sich wieder.

Ada hat uns gesagt, was du zu tun beabsichtigst."

„Und?" Aragorn wagte kaum, weiterzufragen, doch jetzt musste er es genau wissen. „Versteht ihr meinen Entschluss?"

„Wie könnten wir nicht?" ließ sich Elrohir von weiter hinten vernehmen. „Wir kennen dich, seit du klein warst. Es entspricht dir, deinem Wesen. Wenn es das ist, was du willst, so sind wir die Letzten, die es dir verwehren."

„Außerdem sind wir froh, dass du noch lebst, Estel... Gwanur nín," fügte Elladan mit einem erleichterten Lächeln hinzu, stand wieder auf und ging zu Elrohir zurück.

„Du scheinst ebenso unverwüstlich zu sein wie mein kleiner Bruder hier!" Elladan klopfte Besagtem wohlmeinend und überaus vorsichtig auf die Schulter.

„Wen nennst du hier klein?" protestierte Elrohir natürlich sofort. „Auf Estel trifft das vielleicht zu, aber uns trennen gerade mal ein paar Minuten. Also besteht kein Grund, mich gleich an die Hand nehmen zu wollen."

Über Aragorns Gesicht lief ein Grinsen, als er hörte, wie zwanglos seine elbischen Brüder endlich wieder miteinander umgingen. So allein er sich in der Gefangenschaft der Südländer auch gefühlt haben mochte, so glücklich war er für diesen einen Moment. Jetzt war er wieder mit seiner Familie vereint, wenn auch nicht für lange.

Der Gedanke ließ Aragorn wieder ernst werden und auch die Zwillinge verstummten.

„Macht euch nichts vor. Ich werde wahrscheinlich für lange Zeit nicht nach Bruchtal zurückkommen." Dies zu sagen fiel ihm schwerer, als er vermutet hatte. „Ich werde vielleicht sehr lange unter den Menschen leben. Ich bin ein Mensch und das Leben der Menschen verläuft nach anderen Regeln als das der Elben. Das muss ich lernen, wenn ich meine Bestimmung finden will. Euer Weg ist nicht mehr der meine!"

Aragorns Augen füllten sich gegen seinen Willen mit Tränen und ungeachtet seiner Schmerzen setzte er sich ein Stück auf.

„Aber ich werde euch nicht vergessen, Brüder! Ihr seid meine Familie und somit immer in meinem Herzen!"

Elrohir stand stöhnend vom Stein auf und stützte sich auf Elladan, der ihn zu Aragorns provisorischer Lagerstatt brachte. Dort kniete der Jüngere der Zwillinge sich nieder und ergriff Aragorns Hand.

„So wie unsere Schwerter die deinen sind und unsere Herzen auch deinen Namen in sich tragen. Wann immer du Hilfe brauchst, sind wir für dich da!" Elrohir wusste, dass er auch für Elladan sprach, und musste diesen daher nicht extra ansehen. Hätte er es getan, hätte er gesehen, dass nicht nur seine, sondern auch die Augen Elladans verdächtig schimmerten.

Was gesagt war, hing im Raum und vereinte die drei so ungleichen Brüder. Sie blieben noch eine Weile zusammen in der Höhle und frischten alte Erinnerungen auf, über die sie wahrscheinlich eine ganze Weile nicht mehr gemeinsam lachen konnten. Sehr bald würden sie endgültig voneinander Abschied nehmen müssen, doch bis dahin wollten sie zusammen bleiben.

xxx

Knapp eine Stunde nach Sonnenaufgang war Glorfindel mit seinen Kriegern zum Aufbruch bereit. Das Lager war vollständig abgebaut und die Spuren der Südländer aus der Landschaft getilgt worden. Legolas hatte Rivars Leiche auf einem der Packpferde der Südländer gebunden, damit dieser auf dem Rückweg nach Bruchtal bestattet werden konnte.

Er hatte Elladan den Platz beschrieben, den er als letzte Ruhestätte für den alten Einsiedler im Auge hatte. Während ihrer Suche nach Aragorn und den Südländern waren sie auf einen etwas höher gelegenen Hügel geritten, der von einer kleinen Baumoase gekrönt worden war. Zu Füßen dieser Bäume sollte Rivar seine letzte Ruhe finden.

Gerade, als Elrond sich von seinen Söhnen und Glorfindel verabschieden wollte, kam eine Schar Berittener durch den Eingang des Felskessels. Aller Augen richteten sich auf sie. Schon von weitem erkannte Elrond die Galadhrim mit Haldir an ihrer Spitze, doch nur Momente danach begannen seine grauen Augen zu leuchten, als er sah, wer gleich dahinter ritt.

„Arwen?" Für den Moment war alles andere vergessen, als er den Neuankömmlingen einige Schritte entgegenging, die in diesem Augenblick anhielten und abstiegen.

Auch die Zwillinge hatten ihre Schwester inzwischen gesehen. Während Elrohir gezwungenermaßen an der Seite seines Vaters blieb, stürmte Elladan bereits auf sie zu.

„Komm her, Schwesterchen!" Kaum an ihrer Seite, umarmte Elladan sie und wirbelte mit ihr übermütig im Kreis herum.

„Lass' mich 'runter!" Die Abwehr der schönen Elbin war nur gespielt. Sie genoss es sichtlich, nach all den Jahren endlich wieder mit ihrer Familie vereint zu sein. „Elladan, du Verrückter..."

Ihr Lachen klang glockenhell durch den Felskessel und zauberte auf allen Gesichtern zumindest ein Schmunzeln hervor.

Inzwischen war Haldir an den beiden vorbei auf Elrond zugekommen. Er blieb in einem Schritt Entfernung stehen und verneigte sich ehrerbietig.

„Der Herr und die Herrin des Goldenen Waldes entbieten Euch ihren Gruß, Elrond von Bruchtal! Sie schicken mich und meine Männer, um Euch und Euren Pflegesohn sicher nach Lórien zu geleiten." Seine Blicke streiften Arwen, die inzwischen bei Elrohir stand und diesen mit einem Seitenblick auf seine Verletzung vorsichtig umarmte. „Eure Tochter Arwen ließ es sich nicht nehmen, mit uns zu kommen, als sie hörte, wohin wir gehen würden."

Elrond warf seiner Tochter einen liebevollen Seitenblick zu, ehe er sich wieder auf Haldir konzentrierte.

„Mein Abendstern hatte schon immer einen starken Willen. Wenn sie etwas wollte, setzte sie es auch stets durch. Ich nehme an, sie ließ Euch kaum eine andere Wahl, als sie mit Euch zu nehmen?"

Haldir neigte bestätigend den Kopf, vermied es jedoch, dem Elbenherrn in die Augen zu sehen. Viel zu lebhaft entsann er sich an die Aktion, mit der Arwen sich seiner zum Aufbruch bereiten Kriegerschar unerwartet angeschlossen hatte. Auf seine nachdrücklichen Hinweise, dass er mehr Männer brauchen würde, um sie genügend beschützen zu können, hatte sie mit einer blitzschnellen Bewegung einen seiner eigenen Dolche gezogen und ihm die Klinge an die Kehle gepresst.

„Glorfindel von Gondolin unterwies mich im Kampf ... und meine Brüder lehrten mich die Kunst, jeden Vorteil gnadenlos auszunutzen. Glaubt mir, Haldir, ich bin eine überaus gelehrige Schülerin gewesen und mehr als fähig, selbst auf mich zu achten." Ihre Augen waren spöttisch an der Schneide des Dolches entlang bis in sein Gesicht gewandert, dann hatte sie ihm die Waffe wiedergegeben. „Und auf Euch auch, wenn es sein muss..."

Seine Krieger hatten es besser gewusst, als sich beim Beobachten dieser Szene ertappen zu lassen. Ausnahmslos alle hatten sich intensivst mit ihrer Ausrüstung befasst, als Haldir sich gleich danach ärgerlich zu ihnen umwandte, doch ihre konzentriert nichtssagenden Mienen hatten Bände gesprochen. Ebenso wie die Lady Galadriels, als sie ihn etwas später verabschiedet hatte. Er schnaubte unbewusst. Das verräterische Funkeln in ihren blauen Augen hatte mehr als deutlich Zeugnis davon abgelegt, dass sie um die kleine Szene genau wusste, so wie sie stets mehr wusste als jedes andere Wesen Ardas.

„Dann danke ich Euch für den Schutz, den Ihr meiner Tochter während der Reise angedeihen ließt," holte Elronds – verdächtig amüsiert klingende – Stimme ihn unvermittelt wieder in die Gegenwart zurück.

Noch während Haldir zur Seite trat und darüber nachzusinnen begann, inwieweit der Halbelb Elrond über die gleichen Fähigkeiten wie seine mächtige Schwiegermutter Galadriel verfügte, wandte das Objekt seiner Grübeleien sich Arwen zu.

„Arwen, mein Kind..." Die unerwartet sanfte Stimme Elronds ließ es ringsherum augenblicklich so still werden, dass man das feine Singen des Frostes im fallenden Schnee vernehmen konnte. „Dein Anblick macht mir deutlich, wie sehr ich dich bereits vermisst habe. Ich war mir dessen nur nicht bewusst."

„Oh, Ada..." Arwen stand vor ihrem Vater, sah zu ihm hoch, öffnete den Mund, als wolle sie noch etwas hinzufügen – und fiel ihm stattdessen schließlich um den Hals. Vater und Tochter hielten sich fest umarmt, als würden sie sich nie mehr loslassen wollen.

Erst nach langen Momenten lösten sie sich voneinander und Arwen sah zu ihrem Vater auf.

„Ich war gern bei Großmutter und Großvater, doch im letzten Sommer begann ich unruhig zu werden. Caras Galadhon ist wunderschön, doch mein Herz sehnt sich nach dem Frieden von Imladris, nach den Wassern des Bruinen und den Birkenwäldern, durch die ich als Kind so gern streifte. Als ich hörte, dass Großmutter Haldir zu dir schickt, konnte ich nicht anders, als mich ihm anzuschließen. Und hier bin ich!"

„Ja. Hier bist du," wiederholte Elrond ruhig, während er ihr sanft über das lange dunkle Haar strich. „Und noch immer so spontan wie früher. Wie lange bleibst du diesmal?"

„Für die nächste Zeit bleibe ich bei euch."

„Und wie lange ist das? Du warst fast immer fort, seit Nana..." mischte Elrohir sich in die Unterhaltung ein, schluckte den Rest des Satzes jedoch herunter. „Es wäre schön, wenn du nach zwanzig Jahren Abwesenheit länger als nur einen Winter bei uns bleiben würdest."

„Von nun an, liebster Bruder..." wandte Arwen sich dem jüngeren Zwilling mit neckendem Lächeln zu. „...habt ihr vorerst das dauerhafte Vergnügen meiner Gegenwart!"

„Ich freue mich aufrichtig, Schwester." Elladans Stimme klang trotz seiner Freude über Arwens Rückkehr bedrückt. „Dennoch: es ist nicht gerecht. Die Valar geben uns dich wieder, doch dafür nehmen sie uns Estel."

Seine Worte weckten Arwens Neugier.

„Estel? Der Nachfahre von Onkel Elros, den Haldir zusammen mit Ada hier abholen soll?" Sie sah sich um. „Wo ist er? Ich würde gern erfahren, wie er jetzt aussieht. Er war drei, als ich Imladris verließ."

„Er liegt dort drüben in der Höhle." Elrond wies auf die dunkle Öffnung im Fels.

Arwens Augen folgten dem Fingerzeig. „Hat er sich verletzt?"

„Er wurde entführt und gefoltert und hat nur mit knapper Not überlebt." Elronds Stimme färbte sich angesichts aufsteigender Erinnerungsbilder erneut dunkel vor Zorn. „Aber das ist eine lange Geschichte. Deine Brüder können sie dir erzählen, wenn ihr wieder daheim seid. Ich werde Estel jetzt nach Lórien bringen, damit er sich dort in Ruhe von seinen Verletzungen erholen kann."

Die Worte ihres Vaters erinnerten Arwen an etwas, das Galadriel ihr vor dem Aufbruch aufgetragen hatte. Sie drehte sich wortlos um und ging zu ihrem Pferd. Dort holte sie etwas in schützende Tücher Gewickeltes aus einer Satteltasche und kehrte dann zu Elrond zurück.

„Hier."

Sie hielt das Bündel ihrem Vater hin, der es überrascht an sich nahm.

„Das schickt dir Großmutter. Ich soll dir sagen... warte, wie hat sie es formuliert... Sag deinem Vater, dass er dies hier einst brauchen wird, um ein elbisches Leben zu retten. Er wird wissen, wann und wie er es einzusetzen hat."

„Was ist es?"

„Ich weiß es nicht. Mehr hat sie mir nicht dazu gesagt." Arwen zuckte mit den Schultern. „Sie sagte, dass du es öffnen sollst und dann wüsstest du schon, was damit anzufangen wäre."

Mit einem fragenden Blick auf seine Tochter schlug Elrond die Umhüllung vorsichtig zur Seite. Unter den Stoffschichten kam schließlich ein zierliches Kästchen aus fein bearbeitetem und poliertem Holz zum Vorschein. Als der Elb gleich darauf den Deckel öffnete, fiel sein Blick auf etwas, das er nicht erwartet hatte.

„Ich verstehe nicht..." murmelte er fassungslos und hob nach kurzem Stocken eine schmale kristallene Phiole ins Freie. „Sie schickt mir das Licht Earendils?"

Ein Raunen ging durch alle Anwesenden, als bei Elronds Berührung das Glas zu strahlen begann, als wäre die Sonne durch eine Wolkenlücke gebrochen. Gleich darauf erlosch der Lichtschein wieder und nur ein sanftes Prickeln in Elronds Fingerspitzen zeugte davon, dass es sich nicht um ein Trugbild gehandelt hatte und die mächtige Kraft sich noch immer innerhalb des Gefäßes befand.

„Und sonst hat sie dir nichts gesagt?" Elrond sah seine Tochter fragend an, doch die schüttelte nur den Kopf.

„Mit der Zeit wird sich zeigen, was Galadriel gemeint hat," murmelte Elrond und nickte Glorfindel unmerklich zu, der daraufhin seine Krieger auf ihre Pferde aufsteigen ließ.

„Arwen, du wirst zusammen mit deinen Brüdern und Glorfindels Kriegern nach Bruchtal heimkehren. Ich komme nach, sobald ich kann. Noch ehe du meine Abwesenheit bemerkst, bin ich wieder da. Dann können wir reden. Bis dahin reitet ihr mir einstweilen voraus."

Elrond geleitete seine Tochter und die Zwillinge zu ihren Pferden. Er wartete, bis sie aufgestiegen waren und dann streckte er das wieder eingewickelte Kästchen mit der Phiole Elladan hin. Elronds ältester Sohn nahm es behutsam an sich und verstaute es sicher unter seinen Sachen.

„Leg' es in meine Räume, mein Sohn. Auch, wenn ich nicht weiß, für wen es gedacht ist, so ist es doch ein kostbarer Schatz. Hüte ihn gut. Und gib auf deine Geschwister acht. Kümmere..."

„...dich um sie, um Bruchtal und besprich dich mit Glorfindel, wenn du Rat brauchst. Ich weiß, ich weiß," vollendete dieser den Satz seines Vaters mit einem gutmütigem Lächeln.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Elrond das Lächeln seines Sohnes schließlich melancholisch erwiderte.

„Da ihr meine Sätze inzwischen mühelos an meiner Statt beenden könnt, ist es wohl an der Zeit, etwas zu verändern. Vielleicht sollte ich dir und deinem Bruder, zukünftig mehr Verantwortung übertragen," folgerte er und sah aus den Augenwinkeln, dass Glorfindel zustimmend nickte.

Und vielleicht ist es an der Zeit, nicht nur Estel loszulassen, sondern auch euch...

„Darüber können wir nach deiner Rückkehr reden," wiegelte Elladan ab und hoffte, dass er seinen Vater nicht durch seine vorschnellen Worte verletzt hatte. „Bitte, Ada, sag Estel..."

„...dass ihr ihn liebt, ich weiß. Und er weiß es auch."

Elrond prägte sich das Bild seiner drei Kinder genau ein, dann hob er die Hand zu einem letzten Gruß.

Namári. Meine Wünsche begleiten euch."

Er sah zu Assat.

„Vertraut dem Schutz meiner Krieger. Sie bringen Euch zurück nach Bruchtal, damit Ihr Euch in Ruhe erholen könnt."

Auf sein Handzeichen hin ließ Glorfindel den kleinen Tross aufbrechen. Schon Momente später hatten die letzten Pferde, darunter das Packpferd mit der Leiche Rivars, den Felskessel verlassen.

Nunmehr allein mit Haldir und seinen Männern, wandte Elrond sich ihnen nach einigen Augenblicken zu.

„Estel ist nicht in der Lage, aufrecht in einem Sattel zu sitzen. Ich bitte Euch, Haldir, lasst Eure Männer eine Trage bauen. Ich will diese Stätte so schnell wie möglich verlassen. Zu viel Tod und Leid brachte sie ihm und mir."

Während Haldir das Gewünschte veranlasste, begab sich Elrond in die Höhle zurück, wo Legolas an Aragorns Seite wachte und daher von Arwens Rückkehr nichts mitbekommen hatte.

Innerhalb der nächsten halben Stunde war die Trage fertig und zwischen zwei Pferden sicher befestigt. Vorsichtig hob man den inzwischen wieder tief schlafenden Aragorn hinein. Er wurde gegen die Kälte in mehrere Decken gehüllt und sicher gebettet. Bald darauf bestiegen auch die restlichen Anwesenden ihre Pferde. Gemeinsam mit Legolas und Elrond verließ Haldirs Gruppe den Felskessel in Richtung Sîr Ninglor-Pass.

Epilog

Die Elben erreichten die angesteuerte Herberge innerhalb weniger Tage.

Natürlich erregte eine so große Gruppe Reisender des Erstgeborenen Volkes erhebliches Aufsehen unter den ausschließlich menschlichen Herbergsgästen. Da sie stets unter sich blieben, hatte man sich allerdings schon bald an sie und ihre stille Art gewöhnt, ebenso wie an die Tatsache, dass zwar alle bis an die Zähne bewaffnet waren, niemals jedoch einer seine Waffen in die Hand nahm.

Der Winter hielt inzwischen mit immer heftigerer Gewalt Einzug. Bald würde auch die letzte Gebirgspassage für die speziell ausgebildeten Elbenpferde nicht mehr passierbar sein. Dieser Umstand kam an jenem Abend zur Sprache, an dem Aragorn zum ersten Mal den ganzen Tag außerhalb seiner Lagerstatt verbracht hatte. Gerade war einhellig beschlossen worden, am kommenden Morgen weiter zu reiten. Aragorn war nach einer Woche intensiver Pflege zumindest soweit wiederhergestellt, dass er sich nun aus eigener Kraft in einem Sattel halten konnte.

Haldir war zu seinen Männern gegangen, um sie darüber zu informieren. Elrond, Legolas und Aragorn saßen nun zusammen in einem der Gasträume der Herberge und starrten in die tanzenden Flammen eines Kaminfeuers, das eine der Mägde vor kurzem entzündet hatte. Grelle Funken flogen aus der Glut und stoben in die Dämmerung des Raumes.

Elrond sah einem dieser Funken versonnen nach, als plötzlich ein Bild seiner fast schon vergessenen Vision durch den Verstand des Elben schoß.

Funken, die aus einem lodernden Kaminfeuer stoben. Aragorns Stimme, die sagte: „Das hier werde ich immer dann sehen, wenn...

„...ich an mein Zuhause denke, Ada. Ich werde dich vermissen."

Die Worte, entstanden in einer Vision und klangen noch durch das Zimmer, als Elrond mit einem Schlag in die Realität zurückkehrte und Aragorns Augen auf sich ruhen fühlte.

Er begriff, dass auch dieses von ihm gesehene Bild damit eingetroffen war. Fast alles, was sich ihm in Bruchtal gezeigt hatte, war nunmehr Wahrheit geworden – auf die eine oder andere Art. Nur zwei Bilder standen noch aus: das des wütenden Elbenprinzen und das des Fremden mit den zwei Gesichtern.

Nachdenklich betrachtete er Legolas, der – sich der Blicke des älteren Elben nicht bewusst – wiederum Aragorn beobachtete.

Den vorhergesehenen Wutanfall würde es sicher noch geben. Früher oder später würde Legolas seiner inneren Anspannung nachgeben und seinem Freund sagen, was er von der Scharade mit dem inszenierten Tod hielt.

Doch was das letzte Bild anging, tappte Elrond nach wie vor im Dunkeln.

Noch war nicht vorbei, was die Valar ihm in Aragorns Zimmer angekündigt hatten, doch für den Augenblick war er zufrieden mit dem Wissen, dass seine Familie und er die gewalttätigen letzten Tage überlebt hatten.

Noch immer sah Aragorn seinen Vater an, nun jedoch durch das fortdauernde Schweigen leicht beunruhigt. „Hast du etwas?"

„Nein." Elrond schüttelte den Kopf. „Es ist spät. Du musst dich ausruhen. Ab morgen steht uns ein anstrengender Weg bevor."

Mit der Einsicht in die Notwendigkeit erhob Aragorn sich und verschwand nach kurzem Gruß in sein Bett. Elrond sah ihm nach. Was auch immer noch kommen mochte: sie würden alles überstehen, solange sie zueinander hielten.

xxx

Haldir und seine Leute standen bereits vor dem ersten Morgendämmern neben ihren gesattelten Pferden, als Elrond, Legolas und Aragorn sich schließlich zu ihnen gesellten.

Mitten in das allgemeine Aufsteigen hinein spürte Elrond plötzlich eine Hand auf seinem Arm. Aragorns Hand.

Überrascht und beunruhigt sah er seinen Pflegesohn an. „Was ist? Geht es dir nicht gut? Sollen wir den Aufbruch lieber verschieben?"

„Nein, nein..." Verlegen wand Aragorn sich unter den forschenden Blicken seines Vaters hin und her. „Mir geht es gut. Es ist nur..."

Ein tiefes, hörbares Luftholen verriet dem Elben, dass etwas wirklich Ernstes folgen würde.

„Vergib mir, Ada, doch ich möchte, dass wir hier voneinander Abschied nehmen."

Die silbergrauen Augen des Menschen mieden die des Elben, der angestrengt seine Fassung zu bewahren suchte und zunächst nichts zu erwidern wusste. Mit einer solchen Bitte hatte er nicht gerechnet – und ganz tief in sich spürte er für eine Sekunde, wie verletzt er war. Aragorn schien dies instinktiv auch zu spüren, denn unvermittelt sah er auf. Zu seiner Überraschung gewahrte Elrond Furcht in der Miene seines Jüngsten.

„Und warum fällt dir diese Frage so schwer? Es ist doch das, was du willst, oder?" fragte Elrond mit sanfter Stimme.

„Ich will es ja nicht. Im Gegenteil." Aragorn senkte den Blick und schloss für einen Moment die Augen. „Alles in mir will mit dir nach Hause zurückkehren. Aber das ist nur die Furcht vor dem Unbekannten. Je eher ich mein Leben trotz aller Ungewissheiten meistere, desto eher kann ich nach Hause kommen." Aragorn sah seinen Pflegevater um Verständnis bittend an.

„Ich hätte es nicht besser sagen können. Warum machst du dir also Vorwürfe, wenn du glaubst, dass du richtig handelst?"

„Weil..." Aragorn blieb stehen und sah zu Boden. „Weil ich dir in den letzten Wochen nichts als Sorgen gemacht habe und dich nun zum Dank dafür auch noch von mir stoße."

Plötzlich wurde auch dem Elbenherrn die Kehle eng.

„Das tust du nicht. Du hast so viel durchgemacht und trotzdem noch genug Mut, dich dem Unbekannten zu stellen. Du weißt gar nicht, wie stolz mich das macht. Ich wusste schon in der Höhle, dass ich dich loslassen muss, doch es wissen und es dann auch zu tun, sind zwei völlig verschiedene Dinge."

„Dann vergibst du mir also?" Grenzenlose Liebe zu seinem elbischen Vater ließ das Silbergrau von Aragorns Augen fast wie eingefangenes Mondlicht leuchten.

„Es gibt nichts zu vergeben, Estel! Du bist konsequent, wo meine Vaterliebe noch nicht loszulassen vermag."

Einem spontanen Impuls folgend schloss Elrond seinen menschlichen Sohn ein letztes Mal in die Arme.

„Du weißt, wohin deine Schritte dich führen sollen, wenn dein Herz sich nach einer Zuflucht sehnt," flüsterte er Aragorns ins Ohr. Abrupt ließ er ihn daraufhin los und stieg auf sein Pferd, ohne ihn noch einmal anzusehen.

„Lebt wohl, Legolas, Thranduils Sohn." Elrond neigte kurz sein Haupt vor Legolas. „Ich weiß bereits um den Weg, der noch vor Euch liegt. Mein Heim sei das Eure, wann immer Ihr wollt."

Es bedurfte nach dem kurzen Gespräch in der Höhle keiner weiteren Worte zwischen den beiden, daher wanderte Elronds Blick zu Haldir weiter, der allem ausdruckslos gelauscht hatte.

„Ich vertraue Euch Estel an, Haldir ó Lórien. Wenn auch nicht dem Blute nach, so ist er doch eines meiner Kinder. Bringt ihn und den Prinzen sicher nach Caras Galadhon. Behütet sie mir gut."

„Ich schwöre es bei meinem Leben!" Haldirs Miene war ernst. Er spürte, wie aufgewühlt der Herr von Bruchtal in seinem Inneren war, und zeigte sich nicht im mindesten überrascht, als Elrond sein Tier gleich darauf abrupt umwandte und davon galoppieren ließ.

Der eisige Winterwind peitschte ihm die Schneeflocken ins Gesicht, als Elrond sich auf den Rückweg nach Bruchtal machte. Und während die Herberge rasch hinter ihm im Schneetreiben verschwand, rollten ihm ein weiteres Mal seit dem Beginn der Ereignisse Tränen die Wangen hinab. Auch diesmal wischte er sie nicht fort.

xxx

Haldir hielt sein Wort.

Nach einer anstrengenden Reise von vielen Tagen gelangte die Gruppe schließlich in das Reich der Herrin vom Goldenen Wald. Dort fand Aragorn die Ruhe, die er brauchte, damit seine vielen Verletzungen – die inneren wie die äußeren – heilen konnten.

Legolas leistete ihm während dieser Wochen Gesellschaft. Als im restlichen Teil der Nordlande endlich die ersten Anzeichen des Frühlings spürbar wurden, verkündete Aragorn sein Vorhaben, sich innerhalb der nächsten Tage zu den Waldläufern zu begeben, während Legolas endlich den Heimweg antreten wollte.

Am Vorabend ihrer Trennung unternahmen die Freunde zusammen einen letzten Spaziergang durch den Nachmittagsschatten der uralten Bäume.

„Weißt du, Legolas..." begann Aragorn, während er versonnen in die Baumkronen empor starrte. „...wenn mir jemand vor einem halben Jahr gesagt hätte, was mir bevorsteht, hätte ich ihm nicht geglaubt."

„Wie meinst du das?" Legolas war stehengeblieben.

„Na, überleg' mal. Wer würde es glauben, wenn man ihm voraussagt, dass er innerhalb der nächsten Monate zum Schein sterben, dann entführt und schließlich ein völlig neues Leben beginnen würde?"

Etwas arbeitete in Legolas' Gesicht, doch noch ehe Aragorn die sekundenschnellen Veränderungen seines Mienenspiels richtig deuten konnte, fühlte er sich unvermittelt an Oberarm und Tunikakragen gepackt, herumgewirbelt und gegen den nächsten Baumstamm geschleudert. Für einen Moment blieb ihm von dem heftigen Aufprall die Luft weg.

„Wo wir schon mal davon reden..." Plötzlich war Legolas' Antlitz so dicht vor dem seinen, dass Aragorn keine Mühe hatte, die Wut zu erkennen, die aus den sonst so friedlichen blauen Augen strahlte. „Wage es nie wieder, mir so etwas anzutun, sonst bringe ich dich eigenhändig um!"

Perplex über den unvermuteten Gefühlsausbruch starrte der Mensch seinen Elbenfreund an. „Was...?"

„Wage es ja nicht, jetzt auch noch nach dem Grund zu fragen!" fauchte der Prinz. „Weißt du eigentlich, wie einem zumute ist, wenn man hilflos zusehen muss, wie der beste Freund stirbt?"

Aragorn begriff – und vergaß alle Worte, die er hatte sagen wollen. Es gab nichts, das er zu seiner Entschuldigung vorbringen konnte. Damals schien die Entscheidung, die Elrond, Glorfindel und er getroffen hatten, die richtige gewesen zu sein. Noch vor Eintritt des Scheintodes hatte er gefühlt, dass sie alle möglicherweise einen Fehler begingen. Aber es war zu spät für einen Rückzieher gewesen – und jetzt ließ Legolas ihn die Konsequenzen spüren.

„Mich und die Zwillinge glauben zu lassen, dass wir dich verloren hätten, war nicht nur gedankenlos. Es war grausam, Aragorn! Eine menschliche Seele kann solchen Schmerz vielleicht ertragen, doch die elbische kann es nicht. Nach deiner Grablegung fühlte ich mich so leer, wie ich es nur einmal zuvor erlebt hatte... nach dem Tod meiner Mutter. Damals war es mein Vater, der mich in dieser Sphäre hielt. Diesmal ist es nur der Hartnäckigkeit deiner Brüder zu verdanken, dass meine Seele noch in mir ist. Ich war so zerrissen vor Schmerz, dass ich gehen wollte. Freiwillig, verstehst du?"

„Legolas... Ich ... wusste nicht... dass du..." begann Aragorn mit einer Entschuldigung, doch der Elb unterbrach ihn.

„WAS wusstest du nicht? Dass dadurch die leiden würden, die dich lieben? Deinen Brüdern ging es doch nicht viel besser als mir. Lediglich die Tatsache, dass dein Vater uns noch am selben Abend die Wahrheit sagte, erlöste deine Brüder und mich aus unserer Trauer. Dadurch waren wir in der Lage, uns der Suche nach dir anzuschließen. Hast du dich nicht gewundert, wieso nicht nur Elrond und Glorfindel zu deiner Rettung auftauchten?"

„Nein..." Aragorns Stimme klang betrübt. „Gomar hatte mich bereits so sehr gequält, dass es mir wie ein Traum meines nahen Todes erschien, als ich euch sah..."

„Ein Traum?"

Legolas funkelte seinen Freund an und ließ ihn plötzlich los. Dann trat er zwei Schritte zurück und wandte sich von Aragorn ab. „Auch mir hätte es wie ein Traum erscheinen können, doch ich hielt es für die Wirklichkeit."

„Es tut mir leid, Legolas." Mit reumütigem Gesichtsausdruck legte Aragorn dem Elb eine Hand auf die Schulter. „Ich verstehe deinen Ärger."

„Wirklich?" fragte Legolas ausdruckslos und nahm den unterbrochenen Spaziergang wieder auf.

Aragorn folgte ihm, holte ihn mühelos ein und drehte ihn an einer Schulter zu sich herum.

„Legolas, hör' mich an. Nichts, was ich jetzt sagen könnte, ist Entschuldigung genug für das, was euch mein Handeln antat. Das weiß ich jetzt. Doch damals schien es mir der einzige Weg zu sein, noch mehr Blutvergießen zu verhindern. Als ich im Fieber lag und die Südländer ins Schloss eindrangen, um mich zu entführen, sah ich, mit welcher Entschlossenheit sie vorgingen. Die Vorstellung, dass sie wieder und wieder kämen, wieder und wieder töteten, bis sie mich hätten, war mehr, als ich ertragen konnte. Es war ein Albtraum, dass auch nur einer von euch meinetwegen sterben könnte, und er weckte in mir den Wunsch, selbst zu sterben, um euch zu retten. Von diesem Gedanken war es nur noch ein kleiner Schritt bis... Na, du weißt schon. Was ich damit sagen will: Ich würde jederzeit bereitwillig sterben, wenn dies dich oder meine Familie schützen könnte. Weil ich euch liebe, Legolas."

Der junge Mann ließ den Elben los und ging nun seinerseits allein weiter, konnte jedoch dessen Blicke in seinem Rücken spüren.

„Dann tu' so etwas nie wieder." Legolas' Worte waren so leise, dass der Mensch sie mehr riet als hörte. „Ein weiteres Mal erträgt meine Seele den Anblick deines Sterbens nicht."

Aragorn blieb stehen und drehte sich um.

Ich bin ich ein Mensch, und Menschen sterben, wollte Aragorn sagen, verschluckte die Worte aber, als er den Aufruhr in den Zügen des Freundes sah. Stattdessen kehrte er zu dem Elb zurück.

„Ich kann dir nicht versprechen, nicht zu sterben. Du weißt das. Aber ich werde in Zukunft genauer nachdenken, ehe ich etwas tue. Ich werde dir nie mehr so wehtun, dasist alles, was ich dir versprechen kann."

Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf die Züge des Menschen, als er eine Hand ausstreckte. „Vergibst du mir?"

Legolas musterte ihn, dann ergriff er die dargebotene Hand. „Das habe ich längst getan."

Und während die zwei in nun wiederhergestellter Eintracht schweigend nebeneinander her liefen, zuckte an einem weit entfernten Ort kurz ein einzelnes Visionsbild durch den Geist Elronds, ehe es wie ein Nebelstreif verging.

Der Elbenherr lächelte wissend, während er aus einem Fenster auf die schneebedeckte Weite Bruchtals hinausblickte...

xxx

Als der Frühling schließlich die Schneemassen des Winters tauen ließ, verließen nacheinander auch Assat, Miro und Nolana den Schutz des letzten Gastlichen Hauses Mittelerdes.

Noch vor Beginn der Schneeschmelze hatten Assat und Elrond eine längere Unterhaltung miteinander geführt, in deren Verlauf der ehemalige Verbrecher aus Ardaneh dem Elben anvertraute, dass er sich entschlossen hatte, sein dunkles Gewerbe aufzugeben. Stattdessen wollte er sich unter einem neuen Namen und als völlig Unbekannter einem weniger gefährlichen Brotverdienst, nämlich der Pferdezucht, zuwenden. Um genug Grundkapital dafür zusammenzubekommen, war er entschlossen, all seine Güter und Besitztümer zu verkaufen und mit dem Erlös dann in der Umgebung einer nahegelegenen Stadt einen Komplex von Mietställen, Weidekoppeln und Zuchtanlagen zu eröffnen.

Von Elrond erbat sich Assat dabei nur einen einzigen Dienst als Ausgleich für die Hilfe bei Aragorns Befreiung. Er bat den Elbenherrn, Mirodas nichts von seinem Verbleib zu verraten, sondern den Jungen einfach zu ihm zu schicken, sollte dieser je den Wunsch verspüren, das Elbental zu verlassen, um sich woanders eine neue Existenz aufzubauen.

Assat, der mit dem jungen Mann inzwischen Freundschaft geschlossen hatte, wollte ihm helfen, einen besseren Lebensweg zu gehen, jedoch ohne ihn dabei zu gefährden. Er wusste, dass zu viele Feinde aus seinem bisherigen Leben nicht zögern würden, über Mirodas an ihn heranzukommen – notfalls auch über die Leiche des Jungen.

Und Elrond entsprach seiner Bitte.

Noch ehe die ersten Flecken Erde durch den Schnee schimmerten, verabschiedete Assat sich eines Morgens von Miro und brach auf, ohne ihm ein Ziel zu nennen.

Mirodas, überrascht und enttäuscht von Assats Verhalten, blieb bis zum Frühling, ehe auch er dem Elbenherrn schließlich seinen Abschied entbot. Auf Elronds Frage nach seinem Ziel zuckte der Junge nur mit den Schultern und betonte, dass er schon ein neues Auskommen finden würde. Bisher hätte er dies ja auch immer geschafft.

Nachdem alle Versuche, ihn zum Bleiben zu bewegen, versagten, gab Elrond ihm schließlich die Adresse von Assat, der ihm inzwischen in einer Botschaft mitgeteilt hatte, wie und wo Miro ihn finden könne, wenn er es wünschte.

Der Elb verriet dem Jungen nicht, um wen es sich dabei handelte. Ausgestattet mit einem guten Pferd, Kleidung und ein wenig Geld brach Miro in seine ungewisse Zukunft auf, die Versicherung mit sich nehmend, jederzeit nach Bruchtal zurückkehren zu können.

Als größtes Problem erwies es sich jedoch, Nolanas Zuhause ausfindig zu machen.

Seit dem Tag, an dem sich das Kind im Wald verlaufen hatte und von Rivar aufgelesen worden war, waren Monate ins Land gegangen. Monate, in denen Nolana bei ihrer elbischen Gastfamilie mehr und mehr heimisch geworden war und begonnen hatte, vieles zu vergessen, darunter auch Harveduil, jenen imaginären Spielkameraden, mit dem sich das einsame Kind zuvor getröstet hatte. In Giliathdil, dem Sohn der Familie, hatte sie nämlich einen guten Spielgefährten gefunden, von dem sie sich nur schwer trennen konnte.

So fiel der letzte Moment der zwei Kinder tränenreich aus – auf beiden Seiten. Der Elbenjunge versprach seiner neuen Freundin fest, sie zu besuchen, sobald ihre Eltern gefunden worden wären. Dann brachen Elladan und Elrohir zusammen mit dem Mädchen aus Bruchtal auf.

Es kostete die Zwillinge zwei Wochen und den Besuch dreier menschlicher Städte, bis sie Nolanas Zuhause endlich fanden. Natürlich ging die Nachricht über das unerwartete Wiederauftauchen des Kindes wie ein Lauffeuer durch die Stadt, vor allem, da Elben sie zurückbrachten. Jeder, der die Eltern des Kindes kannte, wusste auch um die Vernarrtheit des Mädchens in das Erstgeborene Volk. Sie nun tatsächlich in ihrer Begleitung zu sehen, glich einer Sensation.

Vor allem von Elladan nahm Nolana nur schwer Abschied, hatte sie in ihm doch inzwischen fast so etwas wie einen Ersatzvater gesehen. Mit dem Versprechen, dass das Mädchen sie jederzeit besuchen kommen könnte, verabschiedeten die Zwillinge sich von ihr und ritten dann nach Bruchtal zurück.

Dort nahm das Leben zwar bald wieder seinen gewohnt friedlichen Verlauf, dennoch war nichts mehr so wie zuvor.

Selbst Arwen, die die letzten 20 Jahre in Lórien zugebracht hatte, spürte das.

Oft sah sie den einen oder anderen ihrer Brüder, ja sogar ihren Vater in Aragorns Zimmer gehen und erst nach einer Weile wieder hinauskommen. Immer wieder erzählten sie ihr von dem Menschen, doch stets mit jenem Hauch Wehmut in der Stimme, der ihr sagte, wie sehr ihn alle vermissten. Bald begann die Elbin zu bedauern, dass sie dem erwachsenen Aragorn selbst nie begegnet war und immer nur das dreijährige Kind vor Augen hatte, wenn sein Name fiel.

Vor Elronds Augen hingegen erschienen hin und wieder zwei andere Bilder: das des Fremden mit den zwei Gesichtern aus seiner Vision und das der Kristallphiole, die Galadriel ihm gesandt hatte. Er wusste, dass beides irgendwann noch eine Rolle für ihn und seine Familie spielen würde – nur über den Zeitpunkt wusste er nichts. Und genau das beunruhigte ihn insgeheim. Doch da er dem Geheimnis der letzten Vision vorerst nicht auf die Spur kam und Galadriel sich beharrlich in Schweigen hüllte, fasste er sich notgedrungen in Geduld.

Zumindest für den Moment war alles wieder in Ordnung.

ENDE