Kapitel 2: Pálith

Ein neuer Tag brach an und er schien vielversprechend zu werden. Die Sonne schien schon sehr früh hell und kräftig. Doch am Boden war es angenehm kühl, was Anglar und Legolas sehr begrüßten. Die beiden sattelten ihre Pferde und machten sich auf den Weg Richtung Tor. Doch Anglar blieb plötzlich stehen. Ihm fiel etwas ein, das er vorher noch unbedingt erledigen musste.

"Legolas, ich bin untröstlich, aber du musst dich noch einen Moment gedulden. Ich bin gleich wieder zurück." Legolas nickte.

"Ich reite schon mal ein Stück voraus, bleibe aber in der Nähe."

So kam es, dass Legolas vor dem Tor Calenardhs hin und her ritt und seinen Gedanken nachhing. Grünwald. Es tat ihm gut, seine Heimat wieder so zu nennen, wie sie vor Saurons Einzug geheißen hatte. Sein Vater hatte Recht: Düster war es hier gewiss nicht. Leuchtend grün war es, und hier und da traf ein Sonnenstrahl auf die Erde. Friedlich und still. Er hatte sich schon ein gutes Stück von der Stadt entfernt und wollte auch eigentlich wieder zurück. Doch ein Geräusch ließ ihn innehalten. Er horchte, darauf wartend, dass er es nochmals hören würde. Und tatsächlich, da war es wieder. Er stieg ab und führte Silithia an den Zügeln hinter sich her. Den Bogen, den er stets bei sich hatte, ließ er auf seinem Rücken, da er keine Bedrohung spürte.

Je näher er kam, desto deutlicher hörte er es: Ein Wimmern und Stöhnen durchbrach die Stille Grünwalds. Legolas ging Stück für Stück weiter, dann sah er es. Eine Gestalt lag dort auf dem Boden, gekrümmt und blutverschmiert. Schnell kniete er sich neben sie und drehte sie zu sich herum. Er erschrak, als er sah, dass sie eine junge Frau war. Legolas fragte mehrmals nach ihren Namen, doch sie antwortete nicht; langsam glitt sie in die Bewusstlosigkeit hinüber. Schnell hob er sie auf und trug sie auf seinen Armen und lief die ganze Strecke zur Stadt zurück.

Dort angekommen, brachte er sie sofort in das Haus seines Vaters. Er legte sie auf sein großes weiches Bett und rief nach seinem Vater und dem Heiler. Dann holte Legolas eine Schale Wasser und ein weiches Tuch. Er strich ihr vorsichtig die schwarzen Haare aus dem schmerzverzerrten Gesicht und begann dort vorsichtig die Wunden zu säubern. Sie schienen überall zu sein, wenn er sich ihre stellenweise zerrissene und blutige Kleidung besah. Die Frau, in seinen Augen jedoch noch ein Kind, trug eine dunkle Reiterhose, ein weites Hemd, das vorher wohl weiß war und eine schwarze enganliegende Lederweste. Er schaute nach etwas, das ihre Herkunft verriet, eine Kette oder etwas ähnliches, entdeckte aber nichts Offensichtliches.

Als Thranduil und der Heiler regelrecht ins Zimmer stürzten, da sie dachten, es wäre etwas mit Legolas geschehen, waren sie schon sehr überrascht. Legolas stand auf und ging zur Seite, damit der Heiler die junge Frau untersuchen konnte. Dieser forderte, nach einem kurzen Blick auf die Verletzte, die beiden Männer auf, den Raum zu verlassen und die Tür hinter sich zu schließen.

Was dann in diesem Raum geschah, wusste niemand außer die Heiler der Elbenvölker.

Währendessen fragte Thranduil seinen Sohn, was denn passiert sei und Legolas berichtete. Thranduil murmelte dann vor sich hin.

"Sehr seltsam. Ein Mensch ohne meine Erlaubnis in Grünwald. Wie konnte sie es überhaupt bis zur Stadt schaffen? Die Wachen hätten sie doch aufhalten müssen, oder, wenn sie ihnen entwischt ist, bei mir Meldung machen. Äußerst seltsam." Thranduil räusperte sich und sagte seinem Sohn, er müsse sich in sein Arbeitszimmer begeben und darüber nachdenken. Legolas nickte und blieb allein wartend vor der großen Tür stehen. Obwohl er nicht wusste, wer sie war und warum sie diese vielen Wunden hatte, machte er sich große Sorgen. Ihre Verletzungen waren schwerwiegend, das erkannte selbst er.

Dann, nachdem viel Zeit vergangen war und einige Diener des Heilers kamen und gingen, öffnete sich endlich die Tür und der Heiler trat heraus. Dieser schloss die Tür hinter sich und wandte sich an Legolas.

"Wo ist euer Vater, Prinz?"

"Er hat zu tun. Sagt was ihr zu sagen habt!" forderte Legolas ihn auf. Sein Gegenüber nickte und fing an:

"Sie hat sehr viel Blut verloren. Ihre Wunden sind schon mehrere Tage alt und einige davon haben sich entzündet. Ich habe sie gereinigt, versorgt und die Verletzte in einen künstlichen Schlaf versetzt. Das müsste ausreichen, damit sie durchkommt. Wenn ihr wollt, könnt ihr jetzt zu ihr."

Legolas brauchte nicht lange zu überlegen, sondern ging zu seinem Bett, in dem nun die junge Frau schlief. Der Heiler machte sich währenddessen auf den Weg zum Arbeitszimmer des Königs.

Legolas setzte sich auf die Bettkante und betrachtete die Frau. Sie war jetzt ganz sauber und trug ein langes Elbengewand. Ihre Wunden waren jetzt schon fast verheilt. Was war ihr bloß wiederfahren?

Dann klopfte es an der Tür. Langsam erhob sich Legolas und ging aus dem Zimmer. Draußen wartete Anglar. Anglar! Er hatte ihn völlig vergessen.

"Man erzählte mir schon, was geschehen ist. Was willst du tun, wenn sie für sehr lange Zeit nicht aufwacht? Hier kann sie jedenfalls nicht bleiben." Legolas sah ihn fragend an.

"Wieso nicht?" Anglar verdrehte die Augen im Kopf.
"Überleg doch mal! Du hast sie schwerverletzt im Wald aufgelesen, oder? Wer ihr dies auch immer angetan hat, wird sie verfolgen."

"Ich glaube, gerade deswegen, sollten wir ihr so lange wie möglich den Schutz Calenardhs gewähren." Anglar schüttelte nur mit dem Kopf.

"Wir werden sehen, was dein Vater dazu sagt." Mit diesen Worten drehte er sich um und machte sich auf den Weg nach draußen. Da fiel Legolas etwas ein.

"Anglar?"
Er blieb stehen und sah Legolas über seine Schulter hinweg an.

"Sag, bist du nicht auch für den Wachdienst an den Grenzen Grünwalds eingeteilt?"
"Ja. Wieso fragst du?"
Anglar war angespannt; Legolas spürte es.

"Findest du es nicht auch seltsam, dass ein Mensch ungesehen hier eindringen konnte?"
"Ja, schon. Aber ich hatte seit längerem keinen Wachdienst mehr. Die Grenzen sind sicher, Legolas. Der dunkle Herrscher ist besiegt und es droht keine Gefahr mehr. Kann sein, dass die Wachen sich mit anderen Dingen beschäftigen. Wie gesagt, ich weiß es nicht, da ich schon sehr lange keinen Dienst hatte." Legolas nickte und Anglar ging.

Thranduil verschanzte sich in seinem Arbeitszimmer; er wollte niemanden sehen. Legolas klopfte an die Tür, aber auch er wurde abgewiesen. Daraus schloss er, dass auch Anglar abgewiesen wurde, wenn er denn hier war.
Sonne und Mond wechselten sich oft ab, ehe die junge Frau aus ihrem Schlaf erwachte. Legolas hatte es sich bis dahin zur Aufgabe gemacht, bei ihr zu wachen. Das hatte vor allem den Grund, dass er so schnell wie möglich wissen wollte, was mit ihr geschehen war und wie sie es bis hierher schaffte.

Am besagten Tag, an dem sie erwachte, war es noch früher morgen, und Legolas ruhte auf der Chaiselongue. Als er hörte, dass sich im Bett etwas bewegte, stand er sofort auf, um nachzusehen. Die Frau wand sich in wilden Zuckungen und rief immer und immer wieder "Lasst mich! Warum nur...?". Legolas wusste nicht, was er machen sollte, also schüttelte er sie sanft. Dann lag sie wieder vollkommen still und ruhig da. Er wollte gerade aufstehen, als er sah, dass ihre Lider zu flackern begannen und sich langsam öffneten.

Sie starrte an die Decke und blieb ganz ruhig liegen. Wo war sie? Es war wunderschön hier. Natur und Architektur harmonierten perfekt miteinander, das sah sie mit einem Blick. Die Farbtöne in diesem Raum waren sehr warm und sie fühlte sich sofort wohl und geborgen. Sie spürte das weiche Bett, auf dem sie lag und fragte sich, was geschehen sei. Dann erst bemerkte sie, dass sie nicht allein war. Sie drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite. Legolas lächelte.

"Guten morgen", sagte er. Die junge Frau sah ihn verwundert an. Ein Elb! Wie war sie denn hierher gekommen? Sie wusste es nicht.

Legolas brannten all die Fragen unter den Nägeln, die er an sie stellen wollte, hielt sich aber zurück. Doch eines musste er einfach erfahren...

"Wie ist euer Name?"
"Pálith."