Kapitel 2: Fürchte Nichts
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Harry war erschöpft. Es dauerte einige Zeit und er wusste nicht, ob Sekunden oder Monate verstrichen waren, bis er überhaupt die Kraft aufbringen konnte, seine Gedanken vorsichtig nach außen zu richten, um zu erforschen, was außer Dunkelheit und Stille um ihn war. Denn das war das Einzige, was er sofort wahrgenommen hatte. Doch das war logisch. Er war tot und damit waren sowohl sein Seh- als auch sein Gehörsinn dahin, alles was ihm noch blieb waren Gedanken und Gefühle, alles was er noch war, war Geist, Bewusstsein, Seele, Persönlichkeit. Wenn er so darüber nachdachte, war das sogar sehr viel. Alles was er verloren hatte, war sein Körper, und damit seine Sinne.
Also, wo war er hier? War das hier schon... das Jenseits? Wo waren dann seine Eltern? Warum war er allein? Wo war Voldemort? Hatte er etwa versagt? Hatte er zu früh losgelassen?
Seine Gedanken schossen in die Schwärze, die ihn umgab und tasteten die Umgebung ab. Nein, Voldemort war hier, er konnte ihn spüren, und genau wie er selbst war er dabei, sich von dem Kampf zu erholen.
Er nahm noch etwas wahr. Zwei... Möglichkeiten. Und plötzlich traf ihn die Erkenntnis, dass dies die Zwischenwelt sein musste. Natürlich, Zauberer konnten wählen, ob sie weiter, oder zurück in die Welt der Lebenden gingen, um als Geister ihr Dasein zu fristen. Genau das war die Entscheidung, vor der er jetzt stand. Nun, ihm würde es gewiss nicht schwer fallen die richtige Entscheidung zu treffen, doch Voldemort, er würde sicher wieder zurückkehren wollen. Wie ein Mensch nur so bockig sein konnte! Er seufzte. Das würde wohl einen erneuten Kampf bedeuten.
Langsam nahm diese Welt Gestalt an. Keine wirkliche, denn dieser Ort war nicht stofflicher Natur und seine Wahrnehmung bestand allein aus Gedanken, doch genau deshalb, das merkte er nun, konnte er seiner Umgebung jede angemessene Form geben, wenn er es sich nur vorstellte. Und da es im Wesentlichen einfacher war, den Dingen wieder Form und Farbe zu geben, als sich in einem anscheinenden Nichts zu bewegen, gab sein Unterbewusstsein diesem Ort langsam die Form eines holzgetäfelten, mittelgroßen Raumes, wie man ihn vielleicht in Hogwarts finden könnte.
Er schaute an sich herunter und stellte fest, dass er wieder einen Körper besaß, einen Gedanklichen. Ein leichtes Leuchten ging von ihm aus, und er bemerkte, dass die Farben, sowohl an ihm, als auch in der gesamten Umgebung intensiver und strahlender waren, als er sie jemals wahrgenommen hatte.
Er schaute nach links und erblickte ein großes, weit offen stehendes, halbrundes Tor mit eisenbeschlagenen Torflügeln, die an der Wand ruhten. Nebel waberte in dem Torbogen und versperrte Harry die Sicht auf das, was dahinter lag.
Der Weg nach vorne.
Er wandte seinen Kopf nach rechts und sah eine einfache hölzerne Tür, mit einer verschlungenen metallenen Türklinke. Sie war geschlossen.
Der Weg zurück.
Eine Bewegung in der Mitte des Raumes ließ ihn innehalten. Es war Voldemort, der am Boden lag und sich wieder zu regen begann. Auch von ihm ging ein leichtes Leuchten aus und genau wie alles andere hier waren auch seine Umrisse schärfer, gestochener und die Farben intensiver als im Leben.
Er richtete sich auf und sah Harry mit seinen roten Augen hasserfüllt an. "Potter! Wo zum Teufel sind wir hier? Was hast du mit uns gemacht?" - "Ich habe uns getötet, Riddle", entgegnete Harry gelassen. "Und wir sind hier in der Zwischenwelt, wenn du es genau wissen willst. Schau dich um."
Riddle scannte seine Umgebung ab. Harry wusste nicht, ob er diese Welt genauso wahrnahm wie er, doch er war sich sicher, dass Voldemort zumindest im Wesentlichen das Gleiche sehen musste. Zum Beispiel die Tore.
Riddle stand auf. Er sah an sich herunter, betrachtete kurz seine langen, bleichen und leicht schimmernden Hände, schaute zuerst nach links, dann nach rechts und schritt schließlich entschlossen, und ohne Harry noch eines weiteren Blickes zu würdigen, auf die kleine hölzerne Tür zu Harrys Rechten zu. Mit einem einzigen Schritt hatte Harry den Raum durchquert und sich mit verschränkten Armen vor der Tür aufgebaut, den Blick auf Voldemort fixiert: "Nein!"
"Lass mich vorbei, Potter!", zischte dieser wütend. "Nein", wiederholte Harry. "Glaubst du, ich hätte uns beide getötet, um dich als Geist zurückkehren zu lassen, um die nächsten fünf Jahrhunderte kleine Kinder zu erschrecken? Vergiss es, Riddle."
Plötzlich spürte er, wie er von Voldemort gepackt und quer durch den Raum geschleudert wurde. Als er sich fing, hatte Voldemort bereits die Hand auf der Türklinke. "Glaubst du, du kannst mich aufhalten, Potter?" Harry verzweifelte. Konnte er ihn aufhalten? Konnte er ihn zwingen weiter zu gehen? Und wenn ja, was nützte das? Selbst wenn er ihn durch das Tor schleifte, konnte er seine Seele nicht dazu zwingen Frieden zu finden, genau so wenig wie man jemanden dazu zwingen kann glücklich zu werden. Harry glaubte zwar nicht, dass man von jenem Ort noch irgendwie zurückkehren konnte, doch er hatte Angst vor dem, was eine Seele wie Voldemort dort noch alles für Unheil stiften konnte, wenn sie gegen ihren Willen dorthin verschleppt worden wäre. Doch er war ganz sicher nicht soweit gegangen, um jetzt aufzugeben.
Voldemort interpretierte das Fehlen einer Erwiderung als „Nein", denn er wandte sich wieder der Tür zu, doch Harrys Stimme ließ ihn innehalten: „Wenn du gehst, werde ich dir folgen."Ungläubig starrte er Harry an, der langsam auf ihn zu schritt. „Wo auch immer du hingehst. Ich werde dir folgen, überall hin, auf Schritt und Tritt, bis in alle Ewigkeit.
Ich werde jeden deiner Schritte ans Ministerium berichten, jeden warnen der dir über den Weg läuft, jeden deiner Pläne durchkreuzen, für die nächsten tausend Jahre, wenn es sein muss, bis du der vergeblichen Mühe müde geworden bist und endlich deinen Tod akzeptierst. Du bist meine Aufgabe, Riddle, und ich werde nicht ruhen, bis du für immer von der Erde verschwunden bist, ganz gleich wie lange es dauert, bis ich selbst Frieden finde."
Voldemort starrte ihn noch immer an. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist, Potter?", zischte er durch zusammengebissene Zähne. „Ihr persönlicher Reiseführer in den Tod", entgegnete Harry spöttisch und deutete eine Verbeugung an. „Ich hoffe doch, Sie wissen unseren kostenlosen Exklusiv-Service zu schätzen, Mr Riddle."- „Mach dich nicht lächerlicher als du schon bist, Potter!"
„Nein Riddle, ich mache mich nicht lächerlich; dich werde ich lächerlich machen, ich werde der ganzen Zaubererwelt deine Geschichte erzählen. Von dem Halbblutprinzen, der gerne ein großer Herrscher gewesen wäre, von dem Waisenjungen Tom Riddle, der ein schwarzer Magier sein wollte und immer wieder von dem gleichen Teenager gestoppt wurde, der ihn selbst jetzt im Tode noch verfolgt, weil Tom Riddle nicht begreifen kann, dass seine Herrschaft zu Ende und jeder Schrecken von ihm gewichen ist. Jedes Kind in Britannien wird lachen, wenn es den Namen Lord Voldemort hört und keiner wird sich mehr davor fürchten, ihn auszusprechen. Deine Zeit ist zu Ende, begreifst du das nicht? Du hast keine Macht mehr dort unten, du kannst nicht mehr gewinnen, was willst du überhaupt? Wenn du jetzt zurückkehrst, wirst du nichts weiter als die Trümmer deiner Herrschaft vorfinden. Deine letzten Todesser sind geschlagen, dein Körper ist tot, du bist nur noch ein Geist. Alles, was du dort noch tun kannst, ist gehen und sprechen. Du kannst nichts Wirkliches mehr ausrichten und alle Angst, die du den Leuten machen kannst, werde ich ihnen nehmen. Ich werde deine Taten verhindern. Solltest du jemals einen neuen Körper bekommen, werde ich mir auch einen beschaffen, sollte es dir gelingen, mich zu töten, werde ich zurückkehren. Ich werde dir für immer im Weg stehen. Ich werde dein Leben zerstören, so wie du meines zerstört hast. Erinnerst du dich? Es ist unser Fluch. Keiner kann leben, solange der Andere überlebt, doch ich versichere dir, ich werde nicht endgültig sterben, solange die Chance besteht, dass du zurückkehrst. Das kann ich nicht zulassen. Es gibt auf der Erde nichts mehr für dich. Das ist nicht dein Weg. Dein Weg geht durch dieses Tor dort drüben", Harry deutete auf das Tor voller Nebel auf der anderen Seite des Raumes. „Nicht durch diese Tür."
Harry verstummte. Er atmete schwer. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine so lange Rede gehalten zu haben, ganz sicher nicht vor Voldemort. Die gesamte Situation war absurd. Er hasste das Gedankengebilde, das er da gerade vor seinem Feind aufgebaut hatte. Die Vorstellung Jahrhunderte mit der Sabotage von Voldemorts hirnrissigen Weltherrschaftsübernahmeplänen zu verbringen, war so ziemlich das Letzte, was er wollte. Doch er hatte jedes seiner Worte ernst gemeint, ging ihm selbst – etwas verspätet – auf. In dieser Welt gab es keine Lügen. Gedanken lügen nicht. Er würde es tun.
Voldemort hatte noch immer die Hand auf der Türklinke, machte aber momentan keinerlei Anstalten zu gehen. Er stand einfach nur da und sah Harry mit einem Blick an, den man nur als verzweifelt beschreiben konnte. Denn sein Feind hatte Recht. Sie wären beide Geister, doch im Gegensatz zu ihm hätte Harry Verbündete, könnte die gesamte Zaubererwelt über ihn informiert halten, und da sein Feind, im Gegensatz zu früher, kein eigenes Leben mehr hatte und es sich ganz offensichtlich zum alleinigen Daseinsinhalt gemacht hatte, ihn zu bekämpfen, würde es ihm praktisch unmöglich sein überhaupt irgendwelche Pläne zu schmieden.
Harry sah seinem Feind in die Augen und war überrascht Angst und Verzweiflung darin zu finden. Noch einmal setzte er an: „Unser Weg liegt dort drüben. Du weißt jetzt, dass der Tod nicht das Ende ist. Wovor ... wovor hast du Angst?"
Der Ausdruck in Voldemorts Augen erinnerte nun eindeutig an ein in die Enge getriebenes Tier. Harry hätte sich nicht gewundert, wenn er als nächstes einen Nervenzusammenbruch gehabt hätte. Er ging im Geiste seine Kenntnisse in Heilmagie durch, als ihm wieder einfiel, dass sie bereits tot waren. Das Einzige, was hier vielleicht half, war Muggelpsychologie.
Er wusste nicht mehr, was er tun sollte, doch da er die bisherigen Veränderungen an Voldemort als positiv ansah, beschloss er noch ein bisschen tiefer nachzugraben :
„Wovor hast du Angst, Tom?", fragte er leise. Und einer plötzlichen Eingebung folgend fuhr er fort: „Es sind die, die du getötet hast, nicht wahr? Jene, die durch deinen Zauberstab sterben mussten. Dir graut davor, deinen Opfern wieder begegnen zu müssen. Du fürchtest ihre Rache."Doch ein weiterer Blick in Voldemorts Augen sagte ihm, dass es noch mehr war. Er fuhr fort: „Du hast Angst davor, ihnen wieder in die Augen schauen zu müssen. Du hast Angst davor, ihre vorwurfsvollen Blicke ertragen zu müssen. Du hast Angst, weil sie dir die Schuld geben werden. Du hast Angst, weil sie Recht haben. DU HAST ANGST DAVOR, VON DEINEN EIGENEN SCHULDGEFÜHLEN ÜBERWÄLTIGT ZU WERDEN?!"
Harry war immer lauter geworden, den letzten Satz hatte er Voldemort geradezu entgegengebrüllt. Er war wütend, vermutlich so wütend wie damals in Dumbledore Büro vor zwei Jahren. Die Tatsache, dass Lord Voldemort Schuldgefühle hatte, brachte ihn schier um den Verstand. Er hatte Voldemort immer als ein Monster gesehen, ein Wesen aus Hass, dem positive Gefühle fremd waren. Hatte nicht Dumbledore immer gesagt, sein Hass wäre so groß, dass er Gefühle wie Liebe nicht ertragen könne? Hatte er selbst das nicht auch gewusst und als Waffe gegen ihn eingesetzt, als er den Angriff mit seinem Herzen gestartet hatte vor wie vielen Stunden auch immer?
Er hatte den Hass und das Morden immer als Voldemorts Natur angesehen, als Notwendigkeit, und sie dadurch in gewisser Weise akzeptiert, und da stand er nun vor ihm, Tom Riddle, mit Schuldgefühlen für das, was er getan hatte. Ein Mensch mit Gefühlen und Ängsten, ein Mensch, kein Monster, und doch hatte er die Grausamkeit besessen, all diese Menschen umzubringen?
„WAS GLAUBST DU EIGENTLICH WAS DU BIST, DU BASTARD? MEINE ELTERN KÖNNTEN NOCH LEBEN!"
Er hatte Tränen in den Augen und kümmerte sich nicht darum, sie wegzuwischen. Wie konnte jemand, der von Schuldgefühlen geplagt wurde einfach so weitermorden?
"Genau das, ein Bastard", antwortete Riddle plötzlich auf seine Frage. Seine Stimme war leise gewesen, nicht voller Hass wie früher, oder Angst, wie er sie in den letzten Minuten gezeigt hatte. Es war etwas Anderes. Schmerz.
Harry sah auf und sah zu seiner völligen Überraschung nicht Voldemort vor sich stehen, sondern Tom Riddle.
Er sah keinen dürren bleichen Körper mit langen, weißen Fingern, hässlichen, roten Augen in einem fast schlangengleichen Gesicht und Schlitzen, dort wo Nasenlöcher hätten sein sollen.
Nein, er sah einen Jugendlichen vor, sich fünfzehn oder sechzehn vielleicht, ungefähr so groß wie er selbst, mit schwarzen, glatten Haaren, einem schönen Gesicht und braunen Augen, in denen sich eindeutig Schmerz widerspiegelte. Harry starrte ihn ungläubig an.
"Du hast richtig gehört Harry, ich bin ein Bastard. Das uneheliche Kind von einem reichen Schnösel, der mir nicht mehr als seinen Namen zu geben gewillt war, und einer mittellosen Hexe, die letzten Endes in der Muggelwelt strandete, um bei meiner Geburt zu sterben und dem Staat einen nutzlosen Wechselbalg hinterließ, der auf Kosten von guten, rechtschaffenen Steuerzahlern durchgefüttert werden musste und auch noch die Unverschämtheit besaß, abnormale Kräfte zu entwickeln, um später auf diese... Freakschule zu gehen, wo sie einen doch nur für die ehrbare Gesellschaft verderben und zum Tagedieb verkommen lassen."
Harry wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Gefühle waren aufgewühlt, all das erinnerte ihn nur allzu sehr an die Dursleys und seine eigenen Erfahrungen, insofern tat dieser Junge ihm Leid, er konnte einen Teil seiner Wut verstehen, nachvollziehen, warum er geworden war, was er war. Doch war das längst keine Entschuldigung, geschweige denn ein Grund für das, was er getan hatte, denn war er, Harry, etwa jemals losgerannt, um die Dursleys zu ermorden, wie es Voldemort mit den Riddles getan hatte? Außerdem war es seine Schuld gewesen, dass Harry überhaupt erst bei den Dursleys gelandet war, was seine Wut auf ihn nur vergrößerte - warum musste er anderen antun, was er selbst hatte ertragen müssen?
Harry wusste nicht, ob sich seine Emotionen so sehr auf seinem Gesicht widergespiegelt hatten, ob er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte, oder ob Tom sie gelesen hatte. Im Grunde war es auch einerlei. Diese Welt bestand nur aus Gedanken, alle Worte waren nur Verpackung, Brimborium. Jedenfalls antwortete ihm Tom: "Ich weiß, Harry und es tut mir Leid. Doch ich bin einfach nicht so stark wie du."
Diese Erklärung haute ihn nun fast von den Socken. Doch dann kochte die Wut wieder in ihm hoch. Das sollte es sein? Ich bin halt nicht so stark wie du? Das sollte die Erklärung, der Grund dafür sein, dass Hunderte ihr Leben lassen mussten?
Er ließ sich in den Ledersessel fallen, der sich plötzlich unter ihm materialisiert hatte, und Tom tat es ihm gleich. Praktisch diese Welt, die nur aus Vorstellung bestand. Harry realisierte plötzlich, dass sie sich nicht mehr in der Nähe der Tür, sondern in der Mitte des Raumes befanden. Er schaute seinen Gegenüber an. Nein, das war keine Entschuldigung; es war auch kein Grund, nur der Ansatz einer Erklärung. Und Tom wusste das, machte sich schwere Selbstvorwürfe für das, was in den letzten sechzig Jahren geschehen war. Doch es war nicht Harrys Aufgabe über ihn zu richten oder ihn jetzt mit Vorwürfen und Anschuldigungen zu überhäufen. Tom Riddle war in erster Linie nicht ihm, Harry, Rechenschaft schuldig, genauso wenig, wie er von ihm Absolution erlangen konnte. Das war etwas zwischen seinen Opfern und ihm. Sie mussten ihm vergeben, nicht er. Und wieder musste Riddle seine Gedanken verstanden haben, denn er redete erneut: "Und werden sie das, Harry? Ich... ich habe Angst."
"Ich weiß es nicht, Tom", antwortete Harry dumpf. "Doch wenn du nicht durch dieses Tor gehst, wirst du es nie herausfinden. Du musst dich deiner Verantwortung stellen. Ihnen entgegen zu treten ist der erste Schritt. Wenn du die Schuld, die du auf dich geladen hast, zugibst und anerkennst, dann erst können deine Opfer deine Entschuldigung annehmen und dir vergeben."
Stille.
Dann: "Vergibst du mir, Harry?"
Hatte er eigentlich gerade gegen eine Wand geredet?
"Ich meine, für das, was ich dir angetan habe. Es ist wahr, ich habe dich nicht getötet, aber ich habe dein Leben zerstört. Ich habe dir deine Familie genommen, versucht dich umzubringen, dir eine ähnliche Kindheit aufgezwungen, wie ich sie selbst erleben musste, versucht dich umzubringen, dich missbraucht, um einen neuen Körper zu bekommen, dich gefoltert, versucht dich umzubringen, dich ein halbes Jahr mit Träumen gequält, dich und deine Freunde in eine tödliche Falle gelockt, dir deinen letzten Rest Familie genommen und wieder versucht dich umzubringen... soll ich noch mehr aufzählen?"
Er starrte Harry mit schmerzverzerrtem Gesicht an, welcher den Blick dumpf erwiderte. Dann schüttelte er den Kopf, unfähig einen Ton herauszubringen. "Du hast vielleicht am meisten von allen unter mir gelitten, Harry. Du hast gesagt, dass ich mich meinen Opfern stellen muss und das werde ich tun. Ich fange bei dir an. Bitte... wenn du mir nicht vergeben kannst, wie sollen es die anderen können?"
Harry sah, wie Riddle Tränen in die Augen traten und er spürte, dass seine eigenen Augen ebenfalls feucht waren. Hätte er jetzt gesprochen, wäre nur ein Krächzen aus seiner Kehle gekommen, deshalb nickte er nur und sammelte sich so weit, dass er wieder reden konnte, dann antwortete er ihm: "Ich... Ich vergebe dir."
Tom Riddle lächelte traurig. Sie schwiegen. Nach einer Weile fragte er: "Was ist mit deinen Eltern? Glaubst du, sie werden...?"
"Ja", antwortete Harry langsam. "Ich glaube, auch sie werden dir vergeben können."
"Und... und mein Vater?"
"Vielleicht... Wenn auch du ihm vergeben kannst."
Tom sank in seinen Sessel zurück und schloss die Augen. Harry sah, wie er tief durchatmete.
Schließlich erhob er sich und Harry tat es ihm gleich. Plötzlich standen sie nicht mehr in der Mitte des Raumes, sondern direkt vor dem großen, runden Torbogen und dem wirbelnden Nebel darin. Jetzt war es also soweit. Sie sahen sich an.
"Werde ich sie alle wieder sehen, Harry?", fragte Tom leise.
"Ja, Tom". sagte Harry.
"Auch meine Mutter?"
Harry nickte.
"Wird sie mich hassen, weil ich geboren wurde?"
Harry sah bestürzt auf den kleinen fünfjährigen Jungen hinab, der plötzlich neben ihm stand und ihn mit großen, tränengefüllten Augen ansah, zitterte und sich auf die Lippe bis, um es zu unterdrücken.
"Deine Mutter hat dich geliebt, Tom", antwortete er ernst.
"Aber schämt sie sich denn nicht für mich? Ich bin doch ein Bastard."
Harry ging in die Hocke, bis seine Augen auf einer Höhe mit denen Voldemorts waren. "Nein, Tommy", denn das war der Kosename, den sie für ihn benutzt hatte, auch wenn er keine Ahnung hatte, woher dieses Wissen plötzlich kam. "Sie hat sich nicht für dich geschämt. Du warst ihr ganzer Stolz. Dein Vater sollte sich schämen, weil er euch im Stich gelassen hat." Er ignorierte jetzt einfach mal die Tatsache, dass klein Tommy seinen Vater dafür später umgebracht hatte. "Wer hat dir den solchen Unsinn erzählt?"
"Simon Taylor", antwortete Tommy und auf Harrys fragenden Blick setzte er hinzu: "Einer der älteren Jungen aus dem Waisenhaus. Er hat mir auch immer meine Milch weggenommen."
"Dafür sollte er sich schämen."
"Ich habe ihn später umgebracht."
"Oh." erwiderte Harry dumpf.
"Es tut mir Leid!", schniefte Voldemort.
Harry konnte seinen ersten Impuls "Das braucht es nicht" zu antworten unterdrücken, stattdessen sagte er: "Gut. Erzähle ihm das, wenn du ihn triffst."
Tommy schniefte noch einmal und nickte dann. "Das werde ich", sagte er mit fester Stimme. Harry nickte ebenfalls. "Bereit, deine Mutter wieder zu treffen?", fragte er.
Tommy zögerte. "Glaubst du, sie ist mir noch böse?"
"Warum sollte sie?", fragte Harry perplex.
"Weil ich sie doch getötet habe."
"Nein, Tommy", sagte er und legte ihm die Hände auf die Schultern. Es war das erste Mal, dass sie sich berührten ohne, dass seine Narbe explodierte. "Dafür trägst du keine Schuld. Überhaupt keine, das musst du mir glauben. Sie ist nicht böse auf dich. Sie ist gestorben, um dir das Leben zu geben, das ist das größte Geschenk, das uns im Leben zuteil werden kann. Sie hat dich von ganzen Herzen geliebt und sie wird sich freuen, dich wieder zu sehen."
Er stand wieder auf und sie beide wandten sich dem Nebel zu, der undurchdringlich vor ihnen waberte.
"Ich habe Angst, Harry."
"Das brauchst du nicht, Tommy. Soll ich dich bei der Hand nehmen?"
Tommy sah ihn aus großen, kindlichen Augen an, dann schüttelte er langsam den Kopf und stand wieder als Jugendlicher vor ihm. "Nein. Ich glaube, diesen Schritt sollte ich alleine tun."
Harry lächelte. "Du bist mutig. Du hättest ein Gryffindor sein können."
Tom Riddle grinste schief. "Hätte", flüsterte er. "So viel hätte sein können, wenn..." Er ließ den Satz unvollendet, doch Harry verstand.
Voldemort wandte sich wieder dem Torbogen zu und machte einen Schritt auf den Nebel zu. Dann drehte er sich noch einmal zu Harry um. "Harry?"
"Ja?"
"Danke."
Harry nickte nur. "Bis gleich, Tom."
"Du kommst auch?"
"Natürlich. Ich bin nur einen Schritt hinter dir."
Tom Riddle nickte. Dann drehte er sich um und starrte auf den Nebel. Schließlich holte er tief Luft und schritt hinein. Nebel umwaberte seine Gestalt und mit einem weiteren Schritt war er verschwunden.
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