Kapitel 5: Broken Faith
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Es war ein schöner Frühsommerabend, als die Stille vor den Toren von Hogwarts von zwei leisen Plopps unterbrochen wurde, als zwei Menschen und ein Geist aus dem Nichts direkt außerhalb der Schutzbanne erschienen. Sie nickten sich zu und der Geist schwebte durch das Tor, während die beiden Lebendigen es auf dem klassischen Wege durchquerten. Immer noch schweigend begannen sie den Marsch über das verlassene Gelände, hoch zum Schloss. Harry sah sich um. Warum war kein einziger Schüler draußen? Waren etwa schon Sommerferien? "Ähm, Tonks? Wie lange bin ich eigentlich weg gewesen?"
Sie sah ihn von der Seite an: "Vier Tage." Also war es immer noch Anfang Juni. Er schaute nach dem Sonnenstand. Abendessenszeit. Logisch, das war's! Es erschien ihm zwar wie eine Ewigkeit, dass er aufgebrochen war um sich seinem Schicksal zu stellen, aber vier Tage? Das hätte er dann doch nicht gedacht. Doch es brachte ihn direkt zu seiner nächsten Frage: "Dann... bin ich... ich meine, war meine Beerdigung schon?"
Er hatte eigentlich Gedanken dieser Art immer sorgsam vermieden, doch jetzt drängten sich ihm plötzlich Bilder auf, ein Sarg, der von seinen Zimmergenossen getragen wurde, Ginny, Hermine, die Weasleys und alle seine restlichen Freunde, der Orden und vermutlich Hunderte von anderen trauernden oder schaulustigen Hexen und Zauberern, denen er nur als 'der Junge, der lebt', die Hoffnung gegen Voldemort bekannt gewesen war. Er hoffte inständig, sie würden ihm kein Denkmal hinstellen. Schon allein bei dem Gedanken, wie vermutlich sein Begräbnis verlaufen war, fühlte er sich unwohl. Und die Gesichter seiner Freunde... schmerzten zutiefst. Er hatte ihnen geschrieben, dass er nicht zurückkommen würde, dass sie nicht trauern sollten, doch er wusste natürlich, dass sie es taten und er fühlte sich schuldig. Schuldig, weil er sie allein gelassen hatte, ohne sich auch nur zu verabschieden und ihm war klar, dass dieser dämliche Brief, wenn überhaupt, nur ein schwacher Trost gewesen war.
"Harry?" Er schreckte aus seinen Gedanken auf und sah Tonks an, die offensichtlich gerade irgendetwas zu ihm gesagt hatte. "Wie bitte?"
"Ich sagte", sie holte noch einmal tief Luft, "ich sagte, dass es noch keine Beerdigung gegeben hat."
Harry war verwirrt. "Warum?"
Tonks hatte gewusst, dass sie es ihm erzählen musste, bevor sie im Schloss ankamen und er es mit eigenen Augen sehen würde, und - verdammt, was war schon so schlimm daran? Sie gab sich einen Ruck: "Na ja, weil du technisch gesehen noch nicht tot bist."
Harry blieb stehen und starrte sie ungläubig an. "Was? Wieso technisch? Was meinst du damit, ich bin noch nicht tot? Natürlich bin ich tot, ich bin gestorben und zwar sehr gründlich!" Er war laut geworden, ohne dass er es beabsichtigt hatte. Er fasste sich wieder. "Sorry, Tonks", murmelte er und fragte mit normaler Stimme noch einmal: "Was meinst du damit?"
Sie seufzte. "Das, was ich gesagt habe. Offiziell liegst du im Koma. Sie haben dich wieder belebt, beziehungsweise Hermine hat dich wieder belebt -"
"Hermine?", unterbrach er sie, "sie war dort?"
"Sie waren alle dort. Sie sind dir gefolgt, hast du das nicht mehr mitbekommen?"
"Nein", antwortete Harry und kam sich dämlich vor. Seine Illusion hatte also nicht gewirkt.
"Na ja, jedenfalls hat sie dich beatmet und Herzmassage gemacht, bis ein Muggelrettungswagen dort war. Dann haben sie dich an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Solange dein Herz geschlagen, und Luft in deine Lunge gepumpt wird, ist dein Körper nicht tot, auch wenn dein Geist ihn schon längst verlassen hat. Albus hat zugestimmt, dich hierher in den Krankenflügel zu verlegen, auch wenn er anfangs dagegen war, die Maschinen überhaupt weiter laufen zu lassen. Es war absolut keine Gehirnaktivität mehr zu verzeichnen und er sagte, dass du weitergegangen seiest. Aber Hermine und Ginny wollten das einfach nicht glauben. Sie sagten, bei dir sei alles möglich und wir müssten dir zumindest die Chance erhalten, zurückzukommen. Also haben sie die Maschinen laufen lassen und ausgemacht bis Mittwoch Abend zu warten. Dann wollen sie sie abschalten. Und bevor du fragst, heute ist Mittwoch und genau das ist der Grund, warum ich sowieso hierher kommen wollte. Sie dürften jetzt alle oben im Krankenflügel sein. Willst du vorausgehen? Du brauchst nicht auf uns zu warten."
Doch Harry, der ihr schweigend zugehört hatte während sie ihren Weg hoch zum Schloss wieder aufgenommen hatten, winkte ab. "Von mir aus können sie sie ruhig abschalten. Ich bin tot und daran ist nichts mehr zu ändern. Es tut mir nur Leid, dass sie sich immer noch... Hoffnung gemacht haben." Der Schmerz war aus seiner Stimme herauszuhören. Tonks wusste, woran er dachte. Als sie beide aufgehört hatten zu hoffen, dass Sirius zurückkehren würde, war es, als wäre er ein zweites Mal gestorben. Hoffnung konnte grausam sein.
Sie griff nach Sirius' Hand, wollte ihn berühren, um sicher zu sein, dass er Wirklichkeit war, dass er wirklich und leibhaftig zurückgekehrt war. Sirius erwiderte den Händedruck und in einträchtigem Schweigen betraten sie das Schloss und die verlassene Eingangshalle.
Aus der großen Halle drang Essenslärm zu ihnen hinauf, doch sie ließen sie links liegen und erklommen stattdessen die große Marmortreppe in Richtung Krankenflügel. Es schien, als sei wirklich die ganze Schule beim Essen, denn sie trafen niemanden und Harry war das nur Recht so, bis sie im vierten Stock um die Ecke bogen und Tonks beinahe durch den fast kopflosen Nick hindurch gelaufen wäre. Sie blieb abrupt stehen. "Hallo Nick!", grüßte Harry. Der fast kopflose Nick schien überrascht, doch dann setzte er eine traurige Miene auf. "Mr Potter. Ich heiße sie im Namen aller Gewesenen bei den Toten willkommen. Ich hätte nicht erwartet sie je in unseren Reihen begrüßen zu dürfen." Dieser letzte Satz war definitiv eine Frage gewesen.
"Vielen Dank, Nick. Und Sie haben Recht, es war eher Zufall, dass ich zurückgekommen bin, und ich fürchte, ich werde nicht lange bleiben", antwortete Harry genauso höflich. Nick zeigte sich erstaunt. "Sie werden nicht lange bleiben? Werden Sie Hogwarts verlassen?"
"Ja, Hogwarts auch. Ich werde die Welt der Lebenden verlassen, Nick. Ich werde weitergehen."
"Heißt das, es gibt einen Weg?" Der fast kopflose Nick platzte fast vor Neugier. "Und Sie kennen ihn. Wir können diesen Ort wieder verlassen?" Er wirkte hibbelig wie ein kleines Kind und hatte Mühe seine aristokratische Haltung zu bewahren. Harry lächelte. "Sicher gibt es den. Das Tor liegt im Ministerium. Aber wenn Sie wollen, begleiten Sie uns doch einfach, wir sind auf dem Weg in die Krankenstation und dort können Sie die ganze Geschichte hören." Harry hatte wirklich keinen Nerv, alles dreimal zu erzählen. Das hatten sich Tonks und Sirius inzwischen auch schon anhören müssen. Nick fasste sich. "Mit dem größten Vergnügen, Mr Potter." Dann wandte er sich an die beiden Lebenden. "Nymphadora Tonks, wenn ich mich recht entsinne? Willkommen zurück in Hogwarts. Und Mr Black? Auch Sie, willkommen zurück. Ich muss zugeben, ich bin aufs Tiefste überrascht Sie unter den Lebenden anzutreffen. Offenbar habe ich mich geirrt. Doch ich hoffe, die Verwirrung wird durch ihre Erzählung aufgeklärt werden?" Er schielte zu Harry hinüber. "Selbstverständlich, Nick. Lassen Sie uns gehen."
Nunmehr auf vier angewachsen, setzte die kleine Gruppe ihren Weg durch das Schloss fort, ohne noch einer Menschenseele zu begegnen. Je näher sie dem Krankenflügel kamen, umso nervöser wurde Harry - ohne sich so recht erklären zu können, wieso. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. "Ähm, Leute? Nehmt es mir nicht übel, aber ich glaube, ich gehe schon mal voraus." Er sah sich noch einmal kurz zu seinen Begleitern um, wartete jedoch keine Antwort mehr ab, bevor er geradewegs durch die nächste Wand verschwand und auf direktem Wege in die Krankenstation eilte.
Erst als er die Station durch die rückwärtige Wand betreten hatte, verlangsamte er seine lautlosen Schritte und blieb stehen. Vor ihm stand eine Gruppe von Leuten um eines der Betten versammelt und verdeckte somit die Sicht darauf. Harry wusste aber auch so, dass er darin lag. Keiner der Anwesenden sah in seine Richtung, beziehungsweise alle schauten auf ihn, oder vielmehr auf die leere Hülle, in der er die letzten achtzehn Jahre 'gewohnt' hatte, und die nun leblos auf dem Krankenbett, um das sie alle herumstanden, aufgebahrt war. Harry kam näher. In der Nähe des Kopfendes standen mehrere Geräte, von denen diverse Kabel zum Krankenbett liefen. Harry sah mitunter einen Bildschirm auf dem eine grüne Linie flimmerte, die ungefähr im Sekundentakt einmal ausschlug, was von einem hohen Piepton begleitet wurde - ein EKG, die Anzeige seines Herzschlages. Ein Stromgenerator, der ein wenig abseits stand und anscheinend mit Magie betrieben wurde, lieferte wohl die nötige Energie und erzeugte dabei ein monoton brummendes Hintergrundgeräusch. Technomagie dachte Harry bei sich. Sieh an, sie kann also auch zum Heilen, nicht nur zum Zerstören eingesetzt werden. Auch wenn man bei ihm nicht mehr von heilen sprechen konnte. Harrys Blick wanderte zu der Gruppe zurück, die ihn immer noch nicht bemerkt hatte.
Dort standen Dumbledore, Ron, den Arm um Hermines Schulter gelegt, Ginny - hätte noch eine Verbindung zwischen Harry dem Geist und dem reglosen Körper auf dem Krankenbett bestanden, hätte die grüne Linie auf dem EKG jetzt einen extra Hüpfer gemacht - Neville und Luna, McGonagall, Remus und Hagrid, der das gesamte Fußende des Bettes einnahm, sowie die Weasley-Zwillinge, Molly und Bill. Die Stimmung war mehr als nur gedrückt. Hermine weinte in Rons Armen, welcher genauso mit den Tränen kämpfte, während Ginny ihren einfach freien Lauf ließ. Hagrid schniefte und Remus rang sichtlich um Fassung. Das sonst allgegenwärtige Funkeln in Dumbledores Augen war erloschen, als er sich an die anderen wandte und ihnen mitteilte: "Tonks müsste auch bald hier sein. Sie wollte heute früher Feierabend machen und direkt von Ministerium hierher kommen."
Für kurze Zeit war es still, dann konnte Harry hören, wie Hermine zum Sprechen ansetzte: "Professor Dumbledore, meinen Sie nicht, wir sollten... glauben Sie nicht, dass... ich meine, wenn auch nur eine kleine Chance besteht, dass... wenigstens noch für einen Tag."
Doch Dumbledore schüttelte bestimmt den Kopf und antwortete mit ruhiger aber fester Stimme: "Miss Granger, wenn ich auch nur den kleinsten Hoffnungsschimmer hegen würde, dass Harry aus diesem - Koma - wieder aufwacht, glauben Sie mir, ich würde die Maschinen niemals abstellen. Aber wir müssen uns jetzt mit der Wahrheit abfinden, dass Harry von uns gegangen ist, höchstwahrscheinlich schon an dem Tag an dem er Riddle getötet hat. Wir dürfen uns jetzt nicht an eine falsche Hoffnung klammern. Harry war stark, er hatte keine Angst vor dem Tod und wird weitergegangen sein." Dumbledore lächelte jetzt schwach. "Wisst ihr, genau das, was ich euch jetzt erzählen werde, habe ich vor vielen Jahren zu Harry gesagt: Für den vorbereiteten Geist -"
"- ist der Tod nur das nächste große Abenteuer", vollendete Harry Dumbledores Satz und machte damit endlich auf sich aufmerksam. Dreizehn Augenpaare schauten überrascht auf und starrten ihn entgeistert an.
"Ha... Harry?", brachte Ron schließlich nach ein, zwei Schrecksekunden heraus. "Bist du das wirklich? Bist du ein Geist?" Harry nickte. "Ja", sagte er leise und bevor ihn jemand unterbrechen konnte: "Ja, und ich bin wirklich tot und es gibt keinen Weg, wie man das wieder rückgängig machen könnte. Ich bin nur hier, um euch alle noch einmal zu sehen."
"Oh Harry, warum hast du das getan!", flüsterte Ginny. Sie sah ihn mit tränenverschmiertem Gesicht an. "Glaubst du, das war es wert? Wir hätten uns wieder getroffen, Harry, irgendwann hätten wir uns wieder gesehen, wenn es auch gedauert hätte, aber was machst du! Du stürzt dich zurück auf die Erde, um die nächsten paar hundert Jahre hier herumzuspuken, als Schatten deiner Selbst. Warum bist du zurückgekommen?" Ihre Stimme war eindeutig verzweifelt.
Harry ging auf sie zu und blieb dicht vor ihr stehen. Es tat ihm in der Seele weh, sie so aufgelöst zu sehen. Tränen liefen noch immer langsam ihre Wangen hinab und ihre Unterlippe zitterte leicht. Er hob die Hand - und ließ sie wieder sinken. Was hatte er tun wollen? Ihr die Hand auf die Schulter legen? Ihr die Tränen aus dem Gesicht wischen? Verdammt, am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen, ihr übers Haar gestreichelt und beruhigende Worte auf sie eingemurmelt, aber er war tot, er war ein Geist und alles, was sie bei seiner Berührung fühlen würde, wäre Eiseskälte. Er konnte nur noch sprechen...
"Ginny, ich... " Er hatte ihr erklären wollen, dass er wieder zurück konnte, dass er nicht lange bleiben wollte, dass er nicht dazu verdammt war, auf ewig als Geist herumzulaufen, doch kein weiterer Ton kam über seine Lippen. Schmerzlich kam ihm zu Bewusstsein, dass er ihr in seinem ganzen Leben nie gesagt hatte, was er für sie fühlte und die Erkenntnis, dass es zu spät war, traf ihn wie ein Schlag. Er hatte es nicht in seinem Abschiedsbrief erwähnt und er würde es ihr auch jetzt ganz gewiss nicht mehr sagen. Sie sollte leben und sich auf keinen Fall in irgendeiner Form womöglich einem Toten verpflichtet fühlen. Nein, er würde es ihr nicht sagen, auch wenn das bedeutete, die allerletzte Chance zu verpassen, dass sie es zu ihren Lebzeiten erfuhr.
Er realisierte, dass er immer noch direkt vor ihr stand und machte rasch ein, zwei Schritte rückwärts. Noch einmal setzte er an, wurde jedoch von Sirius' Stimme unterbrochen, der zusammen mit Nick und Tonks in der Tür der Krankenstation erschienen war. Anscheinend hatte er zumindest die letzten Sätze Ginnys mitbekommen. "Er ist meinetwegen zurückgekommen", sagte er klar und deutlich. "Er hat mich hinter dem Schleier hervorgeholt. Und ich habe dir noch nicht einmal gedankt, Harry."
Wenn die übrigen Anwesenden schon bei Harrys Auftauchen sprachlos gewesen waren, ließ sie Sirius' Erscheinen geradezu erstarren. Nur bei Harry löste es die komplett gegensätzliche Reaktion aus und er fand endlich seine Sprache wieder. Er winkte ab: "Sirius, das war selbstverständlich, dass ich es versuchen würde, und ich bin nur froh, dass es geklappt hat. Und Ginny", fügte er an sie gewandt hinzu, "du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Was ich dir eigentlich sagen wollte war, dass der Torbogen im Ministerium der Weg für Geister aus und in die Zwischenwelt ist und das ich jederzeit wieder zurück kann. Ich bin nicht verdammt, auf ewig hier herumzuspuken. Und ich werde mich bald auf den Weg machen."
Ginny war nach Sirius' Erscheinen erst einmal wie paralysiert gewesen, und es dauerte eine Weile, bis Harrys Worte ihren Verstand erreicht hatten, doch dann breitete sich unendliche Erleichterung in ihr aus. Harry war gerettet. Es hätte ihm ähnlich gesehen, auch noch seine Seelenruhe für jemanden, der ihm nahe stand zu opfern und sie ahnte nicht, dass er tatsächlich kurz davor gewesen war, als es so aussah, als könne er Voldemort nicht daran hindern zurück zu kehren. Doch das alles zählte jetzt nicht. Harry war gerettet und sie würde ihn irgendwann nach ihrem eigenen Tod wieder sehen. Bis vor ein paar Minuten hatte sie zwar noch gehofft, dass er wieder aufwachen würde, doch sein Tod war ihr sehr viel lieber als die schreckliche Alternative, die für wenige Augenblicke im Raum gestanden hatte. Schon seit Wochen war sie in seiner Gegenwart unerklärlich nervös gewesen und ihre Freundschaft hatte spürbar darunter gelitten, doch erst als sie vor vier Tagen den Brief gefunden hatte, war ihr schlagartig klar geworden, was sie für ihn empfand. Ihn tagtäglich zu sehen, existent und doch tot, unerreichbar und doch eine Flut von Emotionen in ihr auslösend, wäre auf Dauer unerträglich. Denn diese Spannung war immer noch da, sie hatte es eben nur allzu deutlich gespürt. Das war immer noch Harry und obwohl er jetzt ein Geist war, hatte sie dennoch die fast magische Anziehung zwischen ihnen wieder gespürt und sie hatte den Eindruck gehabt, dass er ähnlich zerrissen war wie sie. Sollte es ihm etwa genauso gehen wie ihr? Warum erst jetzt? Warum hatte sie es erst jetzt kapiert, wo er tot war? Sie hätte ihn am liebsten an sich gezogen und festgehalten als er so vor ihr stand, doch sie hatte die Kälte, die sein Astralkörper ausstrahlte, schon auf die, wenn auch geringe Distanz zwischen ihnen, spüren können und so hatte sie sich damit begnügt ihm in die nunmehr weißen Augen zu starren, die früher so wunderschön grün geleuchtet hatten. Das war einfach ungerecht!
Sie holte sich selbst mit Gewalt in die Realität zurück. Sirius war wieder da. Er war nicht tot. Und im Moment war er von einer wahren Menschentraube umringt, die ihn alle überschwänglich und immer noch leicht ungläubig begrüßten. Es schien, als ob ein jeder von ihnen ihn berühren müsse, um sicherzugehen, dass er wirklich real und keine Illusion war, und so schüttelte Sirius Hände, erwiderte Umarmungen und ließ sich auf die Schulter klopfen.
Sie sah fragend zu Harry hinüber. Der lächelte leicht, nickte und versicherte ihr: "Ja, das ist wirklich Sirius, leibhaftig und real, und ja, er ist genauso lebendig wie du und... alle Anderen hier." Er hatte gerade noch rechtzeitig gemerkt, dass die Redewendung, die ihm schon auf der Zunge gelegen hatte, hier fehl am Platze war.
Ginny war klar, was er hatte sagen wollen, und warum er es nicht getan hatte und so konnte sie nicht anders als im Vorbeigehen zu Sirius hinüber, kurz nach seiner Hand zu greifen, auch wenn die Berührung eisig war und sie doch nichts anderes spüren konnte, als Luft.
Harry sah die Geste, auch wenn er sie genauso wenig spüren konnte, und er lächelte ihr traurig hinterher, bevor er sich zu Tonks und Nick gesellte, die außerhalb des Trubels standen und den Wirbel betrachteten, Tonks fröhlich, Nick zurückhaltend und würdevoll.
Harry seufzte leise. Ganz so hatte er sich den Besuch hier nicht vorgestellt. Er hasste es jetzt schon, ein Geist zu sein. Wie hatte Nick es damals genannt? Ein schwächliches Nachbild des Lebens, das dort, wo das lebendige Selbst einst wandelte, als fahles Wesen umhergeht. Oja! So, wie die Dinge hier im Moment aussahen, würde er wirklich lieber früher als später zurück in die Zwischenwelt und ab durch den Nebel!
Es dauerte jedoch nicht lange, und er wurde aus seinen trüben Gedanken gerissen, als sich alle versichert hatten, dass Sirius real war und leibhaftig war und stattdessen sie beide mit Fragen bombardierten.
Lachend hob Sirius die Hände und wehrte ab. "Immer mit der Ruhe. Wir werden euch alles vom Anfang bis zum Ende erzählen. Aber Leute, bitte, können wir uns dazu nicht hinsetzen? Es wird eine lange Geschichte."
Doch Dumbledore, der bis jetzt noch kaum etwas gesagt hatte, hob gebieterisch die Hand. "Sirius, so gern ich auch nachher euren Ausführungen lauschen werde, muss ich zuerst eines Wissen: Harry, ist Lord Voldemort wirklich endgültig besiegt und aus dieser Welt verschwunden? Ich gehe davon aus, dass er nicht als Geist zurückgekehrt ist, so wie du?" Er sah Harry über seine halbmondförmige Brille hinweg scharf an. Harry nickte und antwortete ruhig: "Tommy ist weitergegangen. Zu Anfang wollte er unbedingt wieder zurück, aber ich habe ihn schließlich überzeugen können, dass es so besser ist."
"Tommy?"
"Überzeugen können?"
"Ich sehe schon, ihr habt einiges zu erzählen." Das kam von Remus.
Dumbledore zog seinen Zauberstab und beschwor eine ganze Sofagarnitur, sowie mehrere Sessel, alle in seiner für ihn typisch zerknautschten Chintz-Art und lud sie alle mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen. Harry näherte sich einem Sessel und ließ sich vorsichtig darauf sinken. Es klappte, auch wenn er den Stoff unter sich nicht spüren konnte. Vermutlich hätte er sich auch ohne Sessel mitten in die Luft setzen können, doch er ging davon aus, dass es so weniger seltsam aussah. Sirius ließ sich auf den Sessel links von ihm fallen und Ginny nahm den zu seiner Rechten. Dumbledore saß ihm gegenüber, Ron und Hermine, Neville und Luna nahmen das größere Sofa, die Zwillinge und Bill das kleinere, während sich die Restlichen auf die Sessel verteilten. Hagrid thronte in einem extra großen Ohrensessel, der eindeutig für ihn gemacht war.
Harry und Sirius schauten sich an: "Nach dir", sagte der Ältere. Er grinste ihm aufmunternd zu. Harry grinste zurück und wollte gerade ansetzen, als er noch einmal von Dumbledore unterbrochen wurde. "Entschuldige Harry, aber bevor du beginnst: Macht es dir etwas aus, wenn eines der Ordensmitglieder Protokoll führt? Ich bezweifle, dass du deinen Bericht zweimal abliefern möchtest, und ich vermute, du wirst nicht auf jemanden aus dem Ministerium warten wollen?"
Er sah Harry fragend an. Dieser nickte. Das war zu wichtig, um es geheim zu halten. Es ging schließlich nicht nur um ihn, sondern auch um Voldemort. Remus erhob sich ächzend. "Ich mache das." Mit einem leise gemurmelten Zauberspruch und einer komplizierten Bewegung seines Zauberstabs stand da ein Schreibtisch, komplett mit Pergament, Feder, Tinte und einem bequemen Schreibtischstuhl: "Amelia wird es lieber sein, wenn es jemand von ihren eigenen Leuten macht, schon allein aus Formgründen." Tonks atmete erleichtert aus und warf Remus einen dankbaren Blick zu. Sie hasste Protokoll führen. Doch da sie Aurorin war und außerdem diejenige, die von Sirius und Harry kontaktiert worden war... obwohl sie Remus wahrscheinlich bitten sollte, diesen Abschnitt aus der Kopie für das Ministerium zu streichen. Zwei Totgeglaubten zur 'Flucht' aus dem Ministerium zu verhelfen, war nicht unbedingt nach Vorschrift...
Remus wandte sich an Harry. "Bereit? Dann schieß los." Und Harry begann zu erzählen.
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