Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, du könntest es bekommen.

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Das Preisausschreiben

Frustriert schmiss sich Sandra auf den Sitz des Busses und fuhr sich durch die nassen, kurzen Haare. „Scheißtag!", murmelte sie und zupfte den Walkman aus ihrem Ranzen. Kopfhörer auf und die Welt einfach draußen lassen. Beruhigend stimmte der Soundtrack zu Rainman die ersten Klänge an. Sie liebte dieses Lied, daher hatte sie das Tape auch zusammengestellt. Aber nach einer Weile wurde es ihr zu langsam. Also Kassette raus und Pink rein. Das war besser und passte irgendwie doch eher zu ihrer Stimmung.

Eine schlechte, leiernde Aufnahme. Aber ihre Mutter erlaubte ihr nicht, sich einen Discman zu kaufen. Alle hatten einen, aber sie hatte nicht genug Taschengeld und ihr Frau Mama stellte sich stur.

„Sandra Schultze", hatte sie gezickt und die genervte verdrehten Augen ihrer Tochter total ignoriert. „Ich denke, dass du genug eigenes Geld hast. Wenn du es dafür zum Fenster rausschmeißen willst, bitte. Aber heul mir nicht die Ohren voll. Oder wünsch dir einen zum Geburtstag."

Hatte Sandra ja getan, aber hatte letzten Monat so etwas auf dem Geschenke-Tisch gelegen? Fehlanzeige. Scheußliche Pullover, die sie nie anziehen würde, ein Paar Ohrringe, die wirklich schick waren. Von ihrem Vater eine Karte und ein Los der Aktion Mensch. Na super, vielleicht gewann sie da ja mal was. Und natürlich das neue Harry-Potter-Buch. „Harry Potter und der Orden des Phönix" hatte es geheißen und auch das hatte sie wieder nach allen anderen bekommen. Doch leider war das Buch schon gelesen und das nächste noch in weiter Ferne. Frau Rowling könnte sich wirklich mal beeilen. Was interessierte sie, dass die Frau zwei oder drei Kinder hatte. Sie hatte Fans und nen Haufen Kohle. Sollte zusehen, dass es weiterging.

Letzte Woche hatte sie im Internet entdeckt, wie der neue Band heißen sollte: „Harry Potter und der Halbblut-Prinz". Viel Stoff um sich ein paar eigene Fortsetzungen auszudenken. Seit sie ihrer Mutter die Flatrate aus dem Kreuz geleiert hatte, weil die Telefon-Rechnung immer so hoch war, surfte sie ziemlich viel. Leider ließ ihr Anteil an den Gebühren das spärliche Taschengeld noch mehr schrumpfen. „Das ist nur gerecht.", hatte ihre Mutter gemeint. „Du nutzt das viel mehr als ich. Und solange...", dann war der Rest mit den Füßen unter dem Tisch und dem Gejammer, dass ihr verdientes Geld schließlich hart erarbeitet sei gekommen und Sandra hatte es wieder einmal über sich ergehen lassen.

Wie immer.

Aber 25 Euro waren für eine 18-Jährige nun wirklich nicht das ganz große Kapital. Hatte ihre Mutter mal gesehen, wie teuer alleine eine Kinoabend oder ein Disko-Besuch war? Nicht das Sandra das häufig getan hätte. Mit wem auch? Freunde hatte sie ja nicht viele. Eine Einzelgängerin. Ihre ehemals beste Freundin, hatte sich irgendwie leise aus ihrem Leben verabschiedet und hing jetzt mit einem anderen Mädchen aus dem Jahrgang rum. Wahrscheinlich auch, weil die ein Auto hatte, während Sandra immer noch brav Bus fahren musste. Es sei denn, sie ging einkaufen, was aber auch schon die einzige Gelegenheit war, zu der sie das Auto von ihrer Mutter bekam. Und immer mit dem Kommentar: „Ist ja auch mein Auto."

„Ja ja, alles deins.", schimpfte Sandra vor sich hin und lehnte den Kopf an die Scheibe. Draußen regnete es immer noch und die Tropfen rannen langsam die Scheibe herab. Sie begann zu träumen. In ihrer Fantasie war sie immer eine überlegene, starke. Heldin. Groß, attraktiv, mit langen Haaren, grünen Augen und unendlich langen Beinen. Sie seufzte noch einmal, als sie die Augen wieder öffnete. Die Wirklichkeit sah anders aus. Sie war nur 165 cm groß, hatte grau-blaue Augen, eine Figur, die nur aus Problem-Zonen zu bestehen schien und ihre Haare sahen in Lang fürchterlich aus. Viel zu dünn und außerdem nur teilweise schön gelockt, so dass sie, wenn´s regnete aussah, wie ein Königs-Pudel mit so einem schwulen Haartuff auf dem Kopf. Also lieber rappelkurz, auch wenn Mama motzte.

Vielleicht sollte sie nächstes Jahr zum Studienbeginn doch mal ans Ausziehen denken. War ja nicht auszuhalten, diese ständige Quengelei. Nur weil Sandra gerne am Wochenende spät ausstand, aber dafür nachts um elf anfing zu putzen. Sollte die blöde Kuh doch froh sein, dass sie nicht selber putzen und kochen musste. Und was sollte eigentlich diese genervten Kommentare, dass ihr Essen zu „grün"schmeckte. Nur weil sie eben gerne Gemüse aß und das manchmal noch ein wenig roh, war, wenn es auf dem Tisch stand. Schlimmer als die Spinat-Klöße, die ihre Mutter irgendwann mal gemacht hatte, konnten die auch nicht sein. Aber davon erzählten Sandras Schwestern immer nur, sie selbst hatte es da noch nicht gegeben.

Der Bus bog ein die Straße ein, in der Sandra aussteigen wollte und sie drückte auf den schmierigen, roten Halteknopf. War ja eklig so was. Wenn sie sich an die Aufnahmen, die sie letzte Woche in Bio gesehen hatten, schüttelte es sie. Was für Bakterien die Leute auf den Händen hatten, ging echt auf keine Kuhhaut.

Sie stieg aus dem Bus und schlug den Kragen der Jeansjacke hoch. Ekliges Mistwetter. Warum konnte es nicht gleich schneien, dann hätte sie es hinter sich. Doch so, schickte sie einem schmuddeligen September-Himmel einen drohenden „Fall-doch-tot-um"-Blick und machte sich auf den Weg in die Stadt. Sie musste noch ein paar Sachen für die Geburtstag-Party ihrer ex-besten Freundin haben. Ihr Kleiderschrank war trotz seiner Fülle nicht gerade reich an aufregenden Party-Outfits. Und vielleicht kam ja mal jemand außer den Deppen aus der Schule. Jemand Nettes, der nicht total blöd war, gut aussah und vor allem Sandra auch bemerkte. Denn sie hatte noch eine Eigenschaft, die sie nicht mit ihrer Ideal-Vorstellung von sich teilte: Sie war schüchtern. Also nicht, dass sie nicht schlagfertig war. Ihre spitzen Kommentare waren ziemlich gefürchtet. Aber einen Jungen ansprechen war ja wohl so was von peinlich. Wenn der sie nun mit einem „Wer bist du denn?"abtat, sich umdrehte und einfach wegging. Sandra war sich sicher, dass man an so was sterben konnte. Fast jedenfalls.

Aber in den Klamotten-Läden gab es nur Sachen für Supermodels, die an einem völlig gestörten Temperatur-Empfinden zu leiden schienen. Alles eng, dünn und von einer Qualität, bei der sich ihr im Verhältnis zum Preis die Nackenhaare sträubten. Einzig eine langweilige, blaue Jeans, die sonst keiner wollte, und ein dicker Rollkragen-Pullover schienen zu passen. Also ließ sie sich die Sachen einpacken, in der Gewissheit, dass ihr Mutter zusammenbrechen würde, bei der dreihundertsten Schlabberteil und Sandra selber sich spätestens, wenn sie zu der Party wollte, ein Loch in den Bauch ärgern würde, weil alle wieder mal schick, hipp und trendy waren, nur sie nicht.

Dann ließ sie sich mit dem Strom der dahin eilenden Menschen durch die Ladenstraße treiben, blieb immer wieder stehen und betrachtete die Schaufenster. Manchmal auch nur ihr eigenes Spiegelbild, wenn die Auslage zum Bespiel aus Toastern und Waschmaschinen bestand. So was brauchte sie nun wirklich nicht. Aber in den Schaufenstern sah sie richtig nett aus. Auch ihr Hintern, den Sandra immer ein bisschen zu viel fand und die etwas breiten Oberschenkel.

Sie betrat einen Geschenkeladen und ließ all die kleinen, und sauteuren, unnützen Dinge durch ihre Finger gleiten. Riech-Radiergummies, hatten es ihr angetan, und sie schnupperte an allen herum, bis die zwei Verkäuferinnen schon zu tuscheln begannen. Bevor die noch auf die Idee kamen, Sandra zu fragen, ob sie mal in ihre Tasche gucken dürften, ging sie einigermaßen gelassen aus dem Laden. Sie hatte natürlich nichts eingesteckt, aber alleine die Vorstellung, dass die Tussis sie ansprachen, war der reinste Horror.

Dann kam sie an ihren Lieblings-Laden , den Buchladen. Der hatte eine große Fantasy-Abteilung, mit Sachen für Rollenspiele und einer Menge Fan-Artikeln. Auch zu dem Harry-Potter-Buch. Sie nahm einige der begleitenden Bücher in die Hand, las kurz darin und legte sie dann wieder weg. Diese Sachen würde sie bestimmt nicht kaufen, denn im World Wide Web gab es tausende Möglichkeiten an diese Infos zu kommen. Alles nur einen Mausklick entfernt. Früher hatte sie mal gedacht, das bräuchte man nicht. Aber jetzt war das manchmal ihre einzige Freude in ihrem sonst relativ langweiligen Leben. Die Schule lief gut, die Noten im oberen Drittel. Also kein Grund sich zu überanstrengen. Kein Freund, keine Freundin und auch sonst niemand, der ihre Anwesenheit besonders vermisst hätte.

Dann fiel ihr Blick auf einen großen Pappaufsteller. Darauf warb der Carlen-Verlag für ein Preis-Auschreiben. Titel: „Triff Harry Potter!"Man konnte einen Aufenthalt für fünf Tage in England gewinnen. Ein Treffen mit der Autorin, einen Besuch bei den Dreharbeiten und durfte bei einem Interview mit den drei Hauptdarstellern des neuen Films „Harry Potter und der Gefangene von Askaban"dabei sein.

Den hatte Sandra auch schon gesehen und war etwas enttäuscht gewesen. Wenn sie bei diesem Preis-Ausschreiben gewinnen sollte, würde sie als erstes mal fragen, wer das Drehbuch geschrieben hatte. So einige Sachen aus dem Buch waren überhaupt nicht umgesetzt worden, was die Zusammenhänge zwischen den Figuren überhaupt nicht zeigte. Außerdem war der Werwolf gar nicht nach ihrem Geschmack gewesen, so fast ohne Haare. Sie grinste, als sie das Plakat betrachtete. Dieser Daniel Radcliffe war ja ganz schnuckelig, aber ihr gefiel eigentlich Tom Felton besser. Der blonde Junge spielte den Draco Malfoy aber auch ziemlich überzeugend. Sie hatte immer fast ein bisschen Mitleid, mit dem verhinderten Bösewicht, der ja wegen der Happy-End-Mentalität leider dazu verdammt war, immer zu verlieren. Natürlich waren die beiden Schauspieler viel zu jung, als dass sie wirklich interessant gewesen wäre.

Eigentlich wünschte sie sich, dass es die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei tatsächlich gab und sie da mal durch die Gänge spazieren konnte. Sie schloss kurz die Augen um sich das vorzustellen. Das wäre bestimmt toll.

Als sie das Plakat noch mal aufmerksam durchlas, sah sie, dass auch ein Besuch am einem Drehort des Film geplant war. Das wäre doch schon mal ein Anfang, wenn man wenigstens das Filmschloss zu Gesicht bekäme. Entschlossen nahm sie eine Teilnahme-Karte aus dem kleinen Plastik-Ständer, füllte sie aus, gab ihr noch einen kleinen, albernen Kuss und schmiss sie in die bereitstehende Box. Vielleicht hatte sie ja ausnahmsweise mal Glück, denn in den meisten Fällen, gewann sie noch nicht einmal an einer Losbude auf dem Rummel was Größeres als ein Micky-Maus-Lineal.

Als sie wieder aus dem Laden trat, verzogen sich die Wolken gerade und ein einzelner Sonnenstrahl fiel auf Sandras Gesicht. Genießerisch schloss sie die Augen und atmete den Geruch nach Regen und klarer Luft ein. Eigentlich war Herbst doch gar nicht so eine schlechte Jahreszeit. Wie es wohl wäre, morgen früh, statt mit dem Bus zur Schule, mit dem roten Hogwarts-Express in die berühmte Schule zu fahren. Zaubern können musste toll sein.

Einem plötzlich Impuls folgend kreuzte sie die Fingern, schlug die Hacken dreimal zusammen und flüsterte: „Lass mich das Preisausschreiben gewinnen. Lass mich nach Hogwarts kommen."

Doch als sie merkte, dass jemand hinter ihr vorbei wollte, machte sie demjenigen Platz und musterte noch einmal sehnsüchtig die Auslagen des Ladens. Das würde ja doch nicht klappen.

Dass sie von drinnen aus dem Laden zwei neugierige Augenpaare interessiert musterten, sah sie ebenso wenig, wie die belustigten Blick, die die beiden Besitzer dieser Augen danach tauschten. Kurz darauf öffneten geschickte Hände die Box des Preisausschreibens und fischten eine einzelne Karte daraus hervor. Halblaut gemurmelte Worte, etwas Glitzerndes flog durch die Luft auf die Karte und diese leuchtete kurz auf.

Als sich die Box wieder schloss, traf sie der Blick des Besitzers des Buchladens. Er stellte fest, dass der Termin zur Abgabe der Teilnahmekarten schon morgen war, also nahm er sie mit in sein Büro, leerte sie und schickte den Inhalt in einem kleinen Paket per Kurier nach Hamburg.

Dort kam das Paket zu einer Vielzahl ähnlicher Pakete, die schließlich alle geöffnet wurde, in große Maschinen gesteckt, sortiert, doppelte Zuschriften entfernt und schließlich wurde alles in eine Große Tonne gegeben.

Der Verlag hatte die neue Praktikantin, mit den feuerroten Haaren zur Glücksfee beziehungsweise Glücks–Hexe gekürt und die junge Frau steckte unter großem Gelächter ihrer Kollegen die Arme in die Tonne. Sie wühlte die ganzen Zuschriften ordentlich durch und zog schließlich eine Karte aus dem Gewühl heraus, die anscheinend geradezu festegeklebt an ihrer Hand war.

Sie räusperte sich und verkündete laut den Namen der stolzen Gewinnerin: „Sandra Schultze aus ...". Sie stockte. „Das kann ja kein Schwein lesen. Irgendwas mit „Sch"am Anfang. Sollen sich doch die aus der PR-Abteilung damit abquälen."

Daraufhin lachten alle und gingen erstmal einen Kaffe trinken. Das musste schließlich gefeiert werden.