Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

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Trübe Aussichten

Als Sandra an einem Dienstag nach hause kam, lag ein großer Umschlag auf dem Küchentisch. Sicher irgendwelche Unterlagen ihrer Mutter. Doch dann schielte sie trotzdem auf den Absender und stutzte. Das war doch der Verlag, der das Preisausschreiben veranstaltete hatte. Ein kleiner heiß-kalter Schauer lief ihr über den Rücken und mit fliegenden Fingern öffnete sie den Brief, der tatsächlich an sie adressiert war. Sie überflog viel Blah-Blah und kam dann zu dem fettgedruckten Teil:

„... möchten wir Sie herzlich beglückwünschen, denn SIE werden Harry Potter live erleben. Vom... England... Aufenthalt... treffen... Magie...Interview..."

Der Text verschwamm vor ihren Augen, als sie sich die Seele aus dem Leib schrie und einen Indianer-Tanz um den Küchentisch veranstaltete. Mürrisch rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer herübe: „Nun sei doch nicht so laut, Sandra. Ich brauche erstmal meine Ruhe. Die Kinder waren heute wieder so anstrengend."

„Aber Mama", maulte Sandra. „Ich hab in dem Preisausschreiben gewonnen. Ich fliege nach England."

„Ja, Schätzchen ist gut. Aber pack dir was Warmes zum Anziehen ein. In England regnet es noch mehr als hier.", kam nur spöttisch von ihrer Mutter zurück.

Sandra verdrehte die Augen und stöhnte. Konnte es etwas Schrecklicheres geben, als eine Mutter, die Lehrerin war? Nie nahm sie einen ernst, weil sie das mit ihren Schulkindern ja auch nicht tat. „Aber das ist wahr, Mama. In zwei Wochen geht es los. Da sind doch Herbstferien. Darf ich? Ich müsste allerdings einen Tag die Schule ausfallen lassen."

Gespannt wartete sie auf die Reaktion, die auch prompt kam. „Kommt überhaupt nicht in Frage. Was hast du dir überhaupt dabei gedacht, junge Dame."Dann stand ihre Mutter in der Küchentür und schaute sauer auf Sandra und den Brief in ihrer Hand. „Zeig her", befahl die rothaarige Frau. Sie überflog den Text uns sah ihre Tochter dann ungläubig an. „Du hast ja tatsächlich gewonnen. Vielleicht sollten wir dann mal eine Ausnahme machen. Du kannst es dir ja erlauben. Ich werde mal mit deiner Lehrerin reden."

Sandra umarmte ihre Mutter stürmisch. „Oh, danke Mama. Ich muss gleich mal Moni anrufen."Doch ihre Freundin war nicht zu hause, und so schaltete sie den Computer an. In dem Internet-Chart war eine Menge Betrieb, doch auch da wurde sie ihre Neuigkeit nicht so richtig los, denn es gab bereits drei Leute, die behaupteten, die Reise gewonnen zu haben. So spielte sie lieber ein Spiel, anstatt nur tatenlos herumzusitzen und auf Freitag in zwei Wochen zu warten.

In der Schule erntete sie ein wenig Bewunderung, doch die meisten ihrer Jahrgangs-Kollegen lächelten nur müde über Sandras begeisterten Blick und ihre roten Wangen. Harry Potter war doch was für Kinder. Und in England war doch heute schon mehr als jeder Zweite mal gewesen. Als sie dann auch noch erzählte, dass sie sich lieber alte Schlösser angucken wollte, anstatt in London zum Shoppen oder in die angesagten Clubs zu gehen, ließ das Interesse der meisten bald nach. Ihre ehemalige, beste Freundin war zwar ziemlich neidisch, aber da die beiden nicht mehr viel miteinander redeten, war die Sache ziemlich schnell vom Tisch.

„Dann fasst mir doch alle mal an die Füße!", dachte sie böse und strich weiter fleißig die Tage bis zu den Ferien auf ihrem Kalender durch. Dass sie am letzten Tag vor den Ferien eigentlich noch eine Deutsch-Klausur schreiben sollte, verschwieg sie ihrer Mutter lieber, die hätte sonst vielleicht noch alles zunichte gemacht. Ihre Lehrerin würde sie die Arbeit schon wiederholen lassen. Und wenn nicht: Sandra konnte es sich leisten, mal zu schwänzen. Da ihr ihre Mutter auch nur eine schriftliche Entschuldigung mitgegeben hatte, war es Sandra also im Endeffekt ziemlich recht, dass keiner mehr von der Sache sprach.

Die Nacht über kam sie fast gar nicht zur Ruhe und stand schließlich um halb fünf morgens unter der Dusche. Nachdem sie sich dreimal neu frisiert hatte und sechsmal umgezogen, war es endlich halb acht und sie konnte mit dem Bus zum Bahnhof in der Stadt fahren. Ihre Mutter konnte sie ja nicht bringen, weil sie ebenfalls zur Schule musste.

„Aber du bist ja schon groß.", hatte sie noch gesagt, Sandra einen schnellen Kuss aufgedrückt und ihr tatsächlich noch ein großzügiges Taschengeld gegeben. Nun stand Sandra am Bahnhof und wartete aus den Zug. Es nieselte schon wieder und sie fröstelte im kalten Wind, der um den kleinen Bahnhof pfiff. Mit einer halben Stunde Verspätung kam dann endlich der Zug an und sie wuchtete ihren alten, mit ungefähr dreitausend Stickern beklebten Koffer die kleine Treppe hinauf. Natürlich half ihr keiner, aber sie traute sich auch nicht zu fragen. Anderthalb Stunden später stand sie in Hamburg am Hauptbahnhof und wusste nicht genau wohin. Doch dann entdeckte sie die kleine Delegation des Verlags, die ein Schild mit ihrem Namen darauf hochhielt.

Sie schüttelte etliche Hände, wurde noch mehr Leuten vorgestellt, deren Namen sie nach drei Sekunden schon wieder vergessen hatte. Dann musste Sandra in eine Kamera grinsen, als glückliche Gewinnerin, mit der stilisierten Fahrkarte in der Hand, erhielt noch ein paar Instruktionen, und den Wunsch nach einer guten Reise. Sie würde in einer Stunde losfliegen und „drüben" von einem Vertreter des Verlags in Empfang genommen. Eine hektische Taxifahrt durch den nervigen Hamburger Verkehr und ein kurzes Einchecken später saß Sandra aufgelöst in dem Flugzeug, das langsam die Startbahn entlang rollte. Irgendwie war das alles nur hektisch und noch überhaupt gar nicht magisch gewesen. Die Stewardess rasselte ihren Text herunter und zeigte, wie man die Schwimmwesten bedienen musste.

„Na, super", dachte Sandra missmutig. „Wahrscheinlich stürzen wir jetzt auch noch ab, dann war´s dass mit dem Preis."

Doch dann half der Walkman wieder über das nervige Gelaber hinweg und als sie in London landeten, war ihre schlechte Laune schon wieder weg und sie war einfach nur noch aufgeregt, was jetzt kommen würde. Selbst das miese Essen im Flugzeug hatte sie mal als Vorgeschmack auf England angesehen. Auch auf dem Flughafen herrschte graues Regenwetter und Sandra war froh, dass sie nicht in einem Kostüm steckte, wie die junge Frau, die sie abholte. Verständigung klappte prima, schließlich hatte Sandra nicht umsonst Englisch-Leistungs-Kurs. Gar nicht begeisterte war sie allerdings davon, dass sie an diesem Tag nichts mehr erleben würde, weil bei Frau Rowling im Termin-Kalender was schief gelaufen war und das Treffen mit ihr leider ausfallen musste. Sorry, sorry. Verständiges Lächeln und Schulterzucken und ein Gutschein als Ausgleich. Für ein handsigniertes Exemplar des nächsten Buches. Na wenigstens etwas.

Da sich auch sonst niemand besonders für sie zuständig fühlte, verbrachte Sandra den Abend auf ihrem Hotelzimmer und sah englische Soaps im Fernsehen. Für den nächsten Tag war der Besuch des Drehortes geplant. Es hatte sich herausgestellt, dass es sich um die Gebäude in Oxford, der alten Universitäts-Stadt handelte, die für den Film verwendet worden waren. Sandra wurde mit dem Auto dort hingebracht, wieder durch eine Menge Hände gereicht, bekam einen netten Führer, der jedoch einen schrecklichen Akzent hatte und fand sich schließlich in dem Teil der „Bodleian Library"wieder, der für den Film verwendet worden war. Das alles war ziemlich aufregend, aber irgendwie wollte sie so langsam mal ihren Morgentee loswerden, der ihr schon seit über einer Stunde zusetzte. Mit einem gequälten Lächeln, machte sie ihrem Begleiter klar, dass er mal fünf Minuten auf sie warten musste und flüchtete in einen der Seitengänge auf der Suche nach einer Toilette.

Sie stieß auf eine kleine Frau, die scheinbar unbeteiligt in der Gegend herum saß und in einer verblichenen Zeitschrift blätterte. Sandra entschloss sich die Dame anzusprechen, doch auf ihr einwandfreies Englisch folgte nur eine herrische Geste dürrer Hände auf eine kleine Tür auf der anderen Seite des Ganges. Sie murmelte einen Dank und drehte sich um. Dabei hieß es doch immer, Engländer seien so höflich. Die Frau hatte kein Wort gesagt und nur komisch gekichert. Als wenn die nicht mal auf´s Klo müsste. Außerdem war sie rappeldürr gewesen, was nicht grade vertrauenserweckend wirkte.

Nun saß Sandra auf der eiskalten Brille und überlegte. Eigentlich war das alles ziemlich blöd, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. Vielleicht würde es morgen besser werden. Da stand das Treffen mit den Darstellern auf dem Programm, die sowieso in London waren um bei irgendeiner PR-Sache zur Verfügung zu stehen. Wahrscheinlich würde das auch voll peinlich werden und sie würde nicht ein einziges vernünftiges Wort rausbringen.

Immer noch etwas genervt, stand sie schließlich auf, spülte und wusch sich die Hände. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel. Sie besah sich ihre Nase, auf der ein kleiner Pickel prangte. Wenn sie den heute entfernte, wäre er morgen vielleicht nicht mehr zu sehen. Sie trocknete sich die Hände ab und versuchte das lästige Teil möglichst schadenfrei zu beseitigen, als eine hohe Stimme hinter ihr ertönte:

„Das bringt eh nichts. Du wirst den Jungs trotzdem nicht besser gefallen. Und wie siehst du überhaupt aus. Wo ist deine Uniform und warum stolzierst du hier am Vormittag herum, wo du doch Unterricht haben solltest. Hältst dich wohl für was Besseres, was?"

Sandra schnaufte nur und drehte sich um, um der hämischen Person klar zu machen, dass sie überhaupt nicht hier zur Schule ging, doch da stand niemand. Sie sah sich um. Wo war das Mädchen hin, das sie so eben bei dieser durchaus peinlichen Sache beobachtet hatte.

Da erklang die Stimme wieder. „Hier oben, du dumme Nuss."

Sandra hob den Kopf und vergaß zu atmen. Da saß die Gestalt eines Mädchens auf einem Rohr etwa zwei Meter über dem Erdboden und blitzte sie aus tückischen Augen an. Sie trug eine Schuluniform und einen weiten Umhang darüber.

Es gab nur ein Problem. Sie war ziemlich durchsichtig.

„W-Wer bist denn du?", würgte Sandra schließlich hervor und ein ziemlich unabhängiger Teil von ihr registrierte, dass entweder sie nicht mehr Englisch sprach oder die andere deutsch.

Das Wesen schwebte von der Decke herab und meinte gekränkt: „Ist ja klar, dass du Myrthe nicht kennst. Sie ist ja auch so unwichtig. Vergessen wir die olle Myrthe doch mal in ihrem Klo und lassen sie da verschimmeln."Das letzte Wort hatte sie so laut geschrieen, dass Sandra die Ohren klingelten.

Dann schaltete sie und lachte. „Aber klar, die „Maulende Myrthe"Ist ja geil, wie habt ihr das hingekriegt, dass es so echt aussieht. Sie griff bewundernd nach dem Mädchen, doch ihre Hand glitt durch das Mädchen hindurch.

Ihr Gegenüber heulte auf. „Spinnst du? Ich fasse dich doch auch nicht einfach an. Oder gefällt dir das?", Damit holte die mit ihrer Faust aus und schwang sie direkt auf Sandras Gesicht zu. Doch sie glitt hindurch und Sandra fühlte nur etwas wie einen kalten Hauch, der ihr jedoch eine kräftige Gänsehaut verpasste.

„Ieh", quiekte sie. „Das ist ja eklig. Wie geht denn das? Ist das ne Projektion? Wo ist die Kamera?"Suchend schaute sie sich um.

„Hab ich doch gesagt, dass das nicht nett ist.", sagte Myrthe beleidigt und verschwand mit hoch erhobenem Kopf durch die Wand.

Sandra lachte. Das war ja mal aufregend. Sie hatte sich fast zu Tode erschrocken, aber jetzt wollte sie ihrem Führer für die Geschichte danken. Sicher standen die jetzt irgendwo und lachten sich schief über ihr blödes Gesicht.

Sie trat aus der Tür zur Toilette und ihr Blick fiel auf die Zeitung, die die alte Dame vorhin vergessen hatte. Etwas bewegte sich, so dass Sandra neugierig auf das Stück Papier zuging. Sie hob es hoch und betrachtete es. Ein Foto von einem Mann mit einem spitzen Hut war drauf. Sein weißer Bart bewegte sich im Wind und er zwinkerte Sandra zu.

Was?

Sie blinzelte.

Jetzt winkte er.

Sie las unwillkürlich die Überschrift. „Dumbledores neue Sicherheitsmaßnahmen - Wie sicher ist Hogwarts?"das war doch nicht möglich. Der Mann auf dem Foto strich sich nun über den Bart und lächelte verschmitzt.

Dann hörte Sandra plötzlich Stimmen und wirbelte herum. Aus schreckgeweiteten Augen starrte sie die Gruppe Schüler an, die so eben um die Ecke bog. Alle trugen weite, schwarze Umhänge über ihren Schuluniformen und schwatzten munter vor sich hin.

Sandras Blick fiel auf die Abzeichen auf der Brust des ersten Schülers.

„Slytherin, na herzlichen Glückwunsch.", murmelte sie noch, dann fiel sie in Ohnmacht.