Die aufgehende Sonne Rohans glich einem Feuerball, wenn sie in den ersten Minuten des neuen Tages am Horizont erschien. Der schmale goldene Streifen ihres Lichtes schlängelte sich an der Grenze zwischen Himmel und Erde und tauchte die Westmark in ein warmes Licht. Die Gräser schienen sich nach ihrem Schein zu strecken und raschelten, wenn sie letztlich in ihn getaucht wurden.
Die Strahlen breiteten sich schnell aus und als sie Edoras erreichten, erwachte die Stadt auf dem hohen Hügel. Die Pferde in den Ställen waren die ersten, welche sich über den angebrochenen Tag freuten, doch bald kamen auch die ersten Waschweiber zum Vorschein, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Zu sommerlichen Zeiten scherzten und lachten die Menschen, doch nun waren sie bemüht, mit ihren dünnen Umhängen den eisigen Wind von ihrer Haut fern zu halten. In diesen ersten Minuten nach Sonnenaufgang strahlte die Stadt und ihr Gold am hellsten und schönsten, doch das wusste die Frau nicht, die bereits seit vielen Stunden an ihrem Fenster saß und ihren Blick in die Ferne gerichtet hatte. Wie so vieles, dass sie nicht wusste oder an das sie sich nicht erinnerte. Krampfhaft starrte sie die Häuser vor ihr und die Ebene, weit entfernt, an. Doch kein Gefühl regte sich in ihr, kein Gedanke an Heimat oder an Reise. Alles war ihr fremd und sie fröstelte, weil sie Angst vor dem hatte, was sie nicht kannte, denn sie konnte sich nicht erinnern. Wissend, dass dieses Land Rohan hieß, und seine Hauptstadt, in der sie sich wahrscheinlich befand, Edoras, suchte sie in ihrem Inneren Bilder von jenem Ort, fand jedoch nichts. Die Erkenntnis, dass sie noch nie in ihrem Leben hier gewesen war, machte ihr noch mehr Angst, da sie sich einen Rettungshaken gewünscht hatte. Denn schrecklicher als alle andere Unsicherheit, war die Tatsache, dass sie sich nicht erinnerte, wer sie war.
Seit ihrem Aufwachen beschäftigte sie sich mit ihrer Identität. Sie betrachtete ihre rauen Hände, könnte es sein, dass sie zu einer Diebesbande gehörte und von diesen Männern gefangen wurde? Nein, dann wäre der Mann gestern nicht so freundlich mit ihr umgegangen. Verzweiflung machte sich in ihr breit und düstere Gedanken begannen, sich in ihr Gewissen zu fressen. Die Diebestätigkeit wäre zumindest eine Erklärung für ihren äußerlichen Zustand gewesen, aber theoretisch könnte noch schlimmeres sich hinter ihrer Identität verbergen.. Sie schauderte bei dem Gedanken und lehnte sich an den Holzrahmen.
Wer immer sie war, Geduld war jedenfalls nicht ihre Stärke. Vielleicht könnten ihr diese Männer weiterhelfen, ihr sagen, wo sie sie gefunden hatten. Mit dem Mann müsste sie auf jeden Fall reden, da sie ihm danken wollte. Am Vorabend war sie natürlich sehr verängstigt gewesen und hatte keine Zeit gehabt, vernünftig nachzudenken, als sie auf dem Pferd aufwachte. Sie meinte sich erinnern zu können, den Reiter vor ihr sogar gebissen zu haben und trotzdem wurde sie gastfreundlich und vorsichtig behandelt, wenigstens war sie in ihrem hilflosen Zustand bei anständigen Menschen gelandet.
Die Frau stand auf und schlich durch den Raum. Sie griff sich einen grünen Umhang aus dickem Wollstoff und schlang ihn sich um die Schultern. Nicht die Ruhe der beiden Alten stören wollend, öffnete sie leise die massive Tür und betrat den Flur.
Dort blieb sie vorerst wie angewurzelt stehen, überwältigt von der Schönheit, die ihr entgegenschien. Am Abend hatte sie es nicht gewagt, den Blick hinter ihren wirren Haaren zu heben, doch wusste sie nicht, wo sie zuerst ihren Blick hinwandern lassen sollte.
Der Flur war in einem dunklem Ebenholz vertäfelt, dass reine Ruhe auszustrahlen schien. Die Verzierungen waren noch viel schöner, bis ins Detail liebevoll dargestellte Szenen großer Helden und überall Pferde, kräftige und stolze Rösser in Gold. Zwischen den Bildnissen hingen Banner Rohans und Edoras, von einer leichten morgendlichen Brise wehend. Während die Frau den Gang entlang schritt, meinte sie, direkt dem Lauf einer Geschichte zu folgen, der Erzählung eines Königs, der auszog, um einen Drachen zu töten und dafür alle geliebten Menschen zurückließ. Als dieser Mann mit dem Drachen an einer Klippe kämpfte und merkte, dass sein Schwert ihm nicht schaden konnte, stürzte er sich zusammen mit dem Ungetüm die Klippe hinunter ins Meer. Er hatte sein Leben für sein Volk und seine Familie geopfert und wurde dafür gepriesen.
Die Frau fragte sich, ob diese Werte immer noch in Rohan vertreten waren, oder ob sie nur noch von längst vergangenen Zeiten sprachen, doch sie glaubte, die Rohirrim wären bekannt für ihren Stolz und Edelmut. Sie glaubte, sie glaubte... Mit den Fingern massierte sie ihren schmerzenden Kopf, es machte sie fast wahnsinnig, über alles um sie herum nur Vermutungen anstellen zu können.
Hinter ihr räusperte sich plötzlich jemand, als sie sich umdrehte, erkannte sie den jungen Mann wieder, bei dem sie auf dem Pferd mitgeritten war. Auch er realisierte, wer sie war, da sich seine Augen angesichts der äußerlichen Veränderungen weiteten.
„Ich wünsche euch einen guten Morgen, meine Herrin... Ihr sprecht doch unsere Sprache, nicht wahr?"
Sie nickte schüchtern. „Ja, das tue ich, auch wenn dies gestern möglicherweise nicht den Anschein hatte. Ich will mich bei euch... entschuldigen für die Unannehmlichkeiten, die ich bereitet habe...", brachte sie stotternd hervor. Weder wusste sie, wie sie mit diesem Mann korrekt zu reden hatte, noch , ob er mehr über sie wusste, als sie selbst.
Doch überraschenderweise schien er genauso schüchtern zu sein, als er förmlich antwortete.
„Es war eine Pflicht und Ehre für meine Männer und mich, euch helfen zu können,...es liegt an mir, mich zu entschuldigen, da ich euch an den Armen fesselte...ich hoffe, es geht euch wieder gut..?"
Sein ehrliches Interesse an ihrem Wohlbefinden rührte sie und mit einem aufgesetzten Lächeln beruhigte sie ihn.
„Ja, vielen Dank, die beiden netten Frauen haben mich sehr gut gepflegt."
„Das freut mich zu hören. Ich denke, ihr solltet euch mit dem König unterhalten,... aber natürlich nur, wenn ihr euch dazu in der Lage seht...Falls ja, ihr findet ihn entweder in der Halle oder, wie meist morgens, in seinem Beratungszimmer."
Sie bedankte sich mit einem höflichen Nicken und er ging wieder.
Die große Halle betretend, in die sie am Abend gebracht worden war, wurde sie verzaubert von der Kunst dieser Pferdeherren. Es war ein wahrlich wunderschöner Raum und das Sonnenlicht fiel in gebündelten Strahlen von den kleinen Öffnungen her ein. Sie blieb für einige Minuten lang stehen, ohne zu merken, dass sie jemand beobachtete. Als sie ihren Blick schweifen ließ, fiel er plötzlich auf den Thron vor ihr und sie schrak zusammen. Sie hatte geglaubt, alleine in der Halle zu sein und, doch auf dem Thron saß ein hochgewachsener Mann, der sie stumm musterte.
