Kapitel 4

„Nein, Uthain, wir können es uns im Moment nicht leisten, Männer zur Pforte zu schicken, der gerade erst gewonnene Frieden in und um Edoras würde der Gefahr ausgesetzt werden, wieder zu zerbrechen."

Die beiden Männer standen an dem großen Tisch in der Halle, auf dem Pläne und Karten lagen und der zur strategischen Planung diente. Sie mussten sich um das leidliche Problem kümmern, welches die Pforte Rohans anging. Heroth hatte es hinauszögern wollen, da innere Aufstände ein weiteres Mal die südliche Westmark erschüttert hatten, doch jetzt, da sie geklärt wurden, blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Berater zusammen zu rufen. Die eigentliche Tageszeit für militärische Handlungen war zwar der Nachmittag, doch Uthain und den König konnte man nicht selten bereits in den frühen Morgenstunden streiten sehen und hören.

„Mein König, es ist gerade die perfekte Gelegenheit dafür. Wer weiß, wann erneut Unruhen ausbrechen, wenn wir jetzt nicht handeln."

„Du hast ja Recht, wir brauchen nur mehr Männer, das ist alles. Liegt unser militärischer Schwerpunkt an einem Ort, ist der andere nahezu ungeschützt, darauf warten die Leute doch nur. Wie sieht es mit der Ausbildung der neuen Einheit aus?"

„Ich bekam gestern Nachricht von Feowaith aus Helms Klamm. Sie brauchen noch einen Monat, wegen der Wetterverhältnisse gab es Aufschübe, aber er ist zuversichtlich, dass die neuen Éotheod bald bereit sind."

Heroth klopfte seinem Marschall auf die Schulter.

„Gut, wir kommen im Moment hier eh nicht weiter, fahren wir nach dem Mittag fort."

Uthain senkte dem Kopf und wollte die Halle verlassen, als Heroth noch etwas einfiel.

„Ach, ehe ich es vergesse, geh bitte an dem Zimmer dieser Frau von gestern vorbei und erkundige dich nach ihrem Befinden. Die Ammen sollen sich noch vor dem Essen zur Berichterstattung bei mir einfinden."

„Sehr wohl."

Nachdem Uthain die Halle verlassen hatte, setzte sich Heroth mit einem Seufzer auf seinen Thron. Wie schon so oft grübelte er über seine Position nach und dass sein Vater viel zu früh gestorben war. Zwar war Heroth mit einundzwanzig Jahren ein Mann gewesen, hatte aber in Sachen Kriegsführung noch ziemlich wenig Ahnung gehabt. Den größten Teil wurde ihm von dem damaligen ersten Marschall beigebracht, dieser lebte aber auch nicht mehr lange. Sein Sohn Uthain wurde zum ersten Marschall ausgerufen, worüber Heroth sehr froh gewesen war. Ihm konnte er vertrauen und fragen, wenn er sich unsicher war.

Fünf Jahre voller Erfahrungen später wünschte er sich immer noch manchmal, dass er seine Pflichten jemand anders übergeben könnte und sich einfach mal Zeit zum Ausreiten nehmen könnte. Er betrachtete die Halle vor ihm. Wann hatte er das letzte Mal in der Chronik seines Landes gelesen, oder die unzähligen Bildnisse seiner Vorfahren angeschaut? Als Kind war er oft fasziniert durch die Gänge geschlendert und hatte sich vorgestellt, selbst ein Held zu sein und einen Drachen zu besiegen. Aber nur, wenn er sich unbeobachtet fühlte, denn seine Mutter war streng gewesen und hielt solche Spielchen unziemlich für einen Thronfolger.

Er nahm eine Schriftrolle zur Hand und begann, die Geschichte des Drachen Scartha zu lesen und seines Vorfahren Eorls, der ihn erschlug. Genauso gut hätte er sie auswendig aufsagen könne, denn als Kind hatte ihm sein Vater die Geschichte vorgelesen und seitdem hatte sie ihn gefesselt. Manchmal wünschte er sich, nicht als Sohn des Königs geboren worden zu sein, sondern eine Position als Verwalter inne haben zu können. Sein Volk war nicht berühmt für seine Bücher und er hätte sich gerne mehr mit dem Aufschreiben und Verfassen von Chroniken und Geschichten seines Landes befasst, doch wann hatte er schon die Zeit, sich stundenlang in Schriften zu vertiefen?

Ihm wurde eine Bewegung gewahr, langsam und schleichend, doch er nahm die Hand von seinem Schwert, als eine Frau die Halle betrat. Er wunderte sich, denn oft hatten sich die Menschen in Edoras einen schnellen Schritt angewöhnt, doch diese Frau spazierte geradezu durch Meduseld, ihren Blick umher schweifend lassen. Sie schien so gefangen in ihren Gedanken zu sein, dass sie seine Gegenwart nicht wahrnahm. Sie nicht stören wollend, verharrte er auf seinem Thron und beobachtete die Besucherin mit Neugier. Irgendwas an ihr fesselte seinen Blick. Vielleicht war es die Tatsache, dass er lange nicht mehr jemanden gesehen hatte, der so unverblümt in Meduseld seine Umwelt vergessen konnte, nur beim Anblick der reichverzierten Halle.

Sie drehte sich um und ihre Augen streiften ihn. Sie schrak zusammen und er wartete still darauf, dass sie sich verbeugte, wie es vor dem König angemessen war, doch sie blieb einfach starr stehen. Nach einer Weile, die ihm endlos vorkam, stand er auf und hob sein Kinn.

„So früh schon auf den Beinen und doch habt ihr keine bessere Beschäftigung, als in Meduseld spazieren zu gehen, meine Herrin?"

Er war erstaunt, wie schnell sich ihre Offenheit in eine Verkrampfung gewandelt hatte, sie kam ihm bekannt vor, nur woher...

Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Nun war er derjenige, der einen überraschten Eindruck machte. Er musterte die Frau von oben nach unten, was ihr offensichtlich unangenehm war und räusperte sich dann.

„Es tut mir leid, meine Herrin, falls ich euch erschrocken habe. Ich erkannte euch nicht gleich wieder, da ihr ja, wie ich sehe, von den Hofdamen bestens versorgt wurdet...", sprach er im höflichen, aber bemessenen Ton.

Sie atmete erleichtert aus.

„Ja, mein Herr, ich danke euch für eure Hilfe und Gastfreundschaft, denke ich...", er schaute sie fragend auf die letzte unsichere Bemerkung hin an und sie fuhr fort.

„Ich will mich entschuldigen, für den Eindruck, den ich gestern euch bereitet habe, ihr habt das bestimmt nicht verdient. Ich meine... ich weiß es nicht... ich..."

Nervosität machte sich bei Heroth bemerkbar, er hatte im Moment wirklich wichtigeres zu tun, als sich um ein verwirrtes Mädchen zu kümmern.

„Gestattet mir die Frage zu stellen, wie ihr zu dem Zustand kamt, in dem euch meine Männer fanden?"

Angesichts seiner harten Stimme, fackelte in ihren Augen ein gewisser arroganter Stolz auf, der jedoch sogleich wieder verlosch, als sie ihren Blick unruhig hin und her wandern ließ und ihre Hilflosigkeit preis gab.

„Ich weiß es nicht.", antwortete sie leise und ihre aufrechte Haltung schien ein wenig zusammen zu sacken.

Heroth stutzte.

„Wie meint ihr das, ihr wüsstet es nicht?"Er nahm ihre Bedrängung sehr wohl wahr, doch irgendetwas an ihr gefiel ihm nicht und machte ihn misstrauisch.

„Was ich sagen will, ist, dass ich mein Gedächtnis verloren habe, weder erinnere ich mich an meine Identität, noch woher ich komme oder warum ich am Fuße dieses Berges gelegen habe..."Sie zwang sich, den Blick des Mannes nicht auszuweichen, erst als er bedächtig nickte, holte sie wieder Luft.

„Ich denke, ich kann eurer Geschichte Glauben schenken, wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, wie eine Frau wie ihr...", der Blick, mit dem er sie von oben bis unten ansah, bereitete ihr Unbehagen, „ in solch eine missliche Lage geraten solltet.."

„Dies frage ich mich im gleichen Maße wie ihr. Ihr könnt euch sicherlich denken, wie mir heute morgen zumute war, hier aufzuwachen, ohne einen Gedanken an etwas Vertrautes, eine Erinnerung oder ein Bild eines geliebten Menschen..."

„Nein, ich weiß nicht, wie sich so etwas anfühlt, da ich es nie erlebte. Aber ich habe Mitleid mit euch und gebe euch deswegen die Erlaubnis, fürs erste in Meduseld zu verweilen. Dies ist der Name der Halle, in der wir gerade stehen, mitsamt der anhängenden Flure und Räume. Falls ihr es noch nicht wisst, ihr befindet euch im Lande Rohan, genauer gesagt in seiner Hauptstadt Edoras. Mein Name ist Heroth, Sohn des Beolf und König Rohans..."Er beobachtete sie, doch da sie keine Anstalten machte, vor ihm einen Knicks zu machen, fuhr er fort.

„Solltet ihr von hier stammen, werden in nächster Zeit bestimmt Verwandte oder Freunde sich nach eurem Verbleiben erkundigen. Ist dies nicht der Fall, nun ja, warten wir es erst einmal ab, ihr findet sicherlich eine Beschäftigung, um euch abzulenken. Ihr werdet selbstverständlich auch Gemächer erhalten, solltet ihr Fragen haben, es läuft eigentlich immer jemand umher, der euch antworten kann."

Sie senkte kurz den Kopf.

„Ich danke euch, mein Herr..."

Heroth nickte zum Abschied kurz und wandte sich zum gehen, doch dann drehte er sich noch mal auf dem Fußballen um.

„Und noch etwas... geht in die hiesige Bibliothek und sucht euch einen Namen, ihr werdet bald einen brauchen."