25 Jahre zuvor:

Teil1

Kapitel 1: Und so beginnt es

Der Klang des Nebelhorns hallte durch die Nacht. Nicht unähnlich dem Ruf eines urzeitlichen Tieres rollte es über den Puget-Sound und brach sich an den Hängen der Vorberge. Logan Cale lauschte den Echos, während er sein Scotchglas in seinen Händen drehte, mit einem halb bitteren, halb zynischen Lächeln. Der Laut gemahnte in seiner Hoffnungslosigkeit an den Klageruf eines einsamen Ungeheuers. Etwas uraltes, ausgestoßenes, das irgendwo in den nebelverhangenen Weiten des Ozeans seine Verzweiflung und seine Einsamkeit hervorbrüllte. Manchmal wünschte er könne das selbe tun: Die eiserne Kontrolle fahren lassen und seine Bitte um Wärme und Trost in die Welt hinausschreien. Aber das würde nicht geschehen, weder Heute noch Morgen. Allein der Gedanke reichte aus um die harsche, belegte Stimme seines Vaters über den Abgrund der Jahre hinweg ertönen zu lassen genauso wie an jenem Tag am Rande des offenem Grab, mit dem Duft der Rhododendrenblüten schwer und süßlich in der Nase: „Ein Cale zeigt keine Schwäche, Junge. Niemals! Jetzt wisch dir verdammt noch mal die Tränen ab und steh gerade."Doch im Gegensatz zu den meisten Gelegenheiten reicht diesmal sein persönlicher Sklaventreiber, der ihn schon seit seiner Kindheit begleitete und alle seine Anstrengungen und Taten gnadenlos mit dem ihm eigenen Zynismus kommentierte nicht aus um ihn aus seiner Depression zu reisen. Die kalte, gefühlloser Trägheit die sein Denken und seinen Geist bedeckte wie ein Leichentuch wollte auch vor seinem personifizierten, schlechtem Gewissen nicht weichen. Der Tod war für Logan Cale kein Fremder mehr. Er hatte im laufe seines Lebens an vielen frischen Gräbern gestanden, hatte den kalten Hauch des Knochenmanns schon mehr als einmal am eigenen Leib gespürt. Die Erinnerung an die eisige Kälte, die in sein Knochenmark sickerte während das Rattern der Maschinenpistolen sich in immer weitere Ferne zurückzuziehen schien würde ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr verlassen. Oft genug hatte er halb ernsthaft, halb mit einem spröden Lächeln den Gedanken gewälzt, dass er dem Schnitter und seine zerlumpten, grauhaarige Weggefährtin – die Trauer besser kannte und näher stand als den meisten Mitgliedern, dessen was bei schlechtem Licht als die Cale-Familie durchging. Manchmal kamen sie zu ihm in den dunklen Stunden des Zwielichts kurz vor dem Morgengrauen. Wenn ihn die Erschöpfung übermannte und er mit dem Kopf auf seiner Computertastatur oder den neusten Berichten seines Informantennetzwerkes eindöste, erschienen sie: Immer am Rande seines Blickfeldes, ein Geisterreigen aus schweigenden grauen Gestalten, der im Laufe der Jahre immer größer geworden war. Angeführt wurden die Schar seit jeher von seiner Mutter, auf ihrem Anglitz das selbe traurige Lächeln mit dem er sie zuletzt gesehen hatte, damals vor über einem vierteljahrhundert unter den herbstlichen Ahornbäumen. Weitere folgten: das rundliche Jungengesicht seines jüngeren Bruders die Augen in kindlichem Erstaunen aufgerissen. Sein Vater ausgezehrt von seinem Hass und seiner Bitterkeit. Thomas mit seinen Haaren die wie gehämmertes Kupfer glänzt hatten, Thomas dessen Blut Schwarz gewesen war auf dem Schnee, der im Mondlicht geschimmert hatte wie Kristallstaub. Patrick dessen Obsession mit Kreuzworträtseln an einem verregneten Märzmorgen in einem orangefarbenen Feuerball geendet hatte. Die Schockwelle hatte an Logan vorbei die angesengte Ausgabe der Times vom Vortag in den Rinnstein geweht; das Kreuzworträtsel unvollständig und für immer ungelöst. Jennifer und Kathy, Marcel, Robert, Peter und Nathan, zahllose weitere Freunde und Kampfgefährten aus beinahe zwei Jahrzehnten. In gewisser Weise waren sie gute, alte Bekannte wie die Narbe von dem Schulterdurchschuss, die seit seinem dreißigsten Geburtstag bei jedem Wetterwechsel schmerzte. Eine konstante Mahnung an alte Fehler und altes Versagen.

In dieser Nacht war der Gespenstergallerie ein neues Gesicht hinzugefügt worden, ein Gesicht von dem er sich einmal in einem schwachen Moment geschworen hatte, dass es nie einen Platz an diesem speziellen Ort des Gedenkens brauchen würde. Das Schicksal jedoch hatte noch weniger Geduld und Verständnis für Wunschdenken als Logan Cale selbst. Nun war sie dort mit ihrem nachtschwarzen Lockenschopf, den großen, dunklen Mandelaugen und dem Lächeln, das so schnell zwischen spöttisch und aufreizend wechseln konnte... nun war sie dort und wem einmal Einlass gewährt wurde, der konnte nicht wieder verbannt werden wie sehr er sich auch abmühen mochte, dass wusste Logan aus bitterer Erfahrung. Und das erfüllte ihn mit einem brennenden Zorn, Zorn über seine eigene Unfähigkeit diejenigen zu schützen, die er lie.....für die er Verantwortung trug , Zorn über sein andauerndes Versagen in seinem irrsinnigen, selbstauferlegten Kreuzzug für etwas mehr Gerechtigkeit der Welt, Zorn ob der Faulheit, Feigheit und Trägheit seiner Mitmenschen, die die Blicke abwanden und auf die andere Straßenseite wechselten wann immer jemand Hilfe benötigte, Zorn gegen die Obrigkeit die viel zu beschäftigt war ihre eigenen Privilegien zu schützen oder die ihrem Schutz anvertrauten zu drangsalieren und zu bespitzeln um etwas gegen die Nöte der Menschen zu unternehmen, Zorn nicht zuletzt gegen die zeitlose Gleichgültigkeit des Universums gegenüber menschlichem Leid und Schmerz. Die Wut brannte sich durch seine Lethargie wie ein Schweißbrenner durch Wassereis und löste einen Tornado mentaler Aktivität aus. Ein unbeteiligter Beobachter hätte vermutlich, ohne ausgezeichnete Kenntnisse über Logans Charakter und Natur, keinerlei Unterschied zu seinem vorherigen Brüten feststellen können. Indes drehten sich hinter der Stirn des Journalisten die Räder eines hochpräzisen und methodischen Denkapparates. Pläne wurden entwickelt, Intrigen gesponnen, abgewogen, korrigiert, verfeinert und verworfen und neu gebildet. Schließlich hob der abgehärmte Freiheitskämpfer den Kopf. Vielleicht, vielleicht war es wirklich machbar. Rache – das war nicht sein Weg. Auch wenn das Tier in ihm brüllte und Blut forderte Blut, Wiedergutmachung für als das Leid und den Schmerz den man Unschuldigen zugefügt hatte... Es wäre verlockend einfach. Er kannte die Namen, Wohnorte und Gewohnheiten würden ein wenig Hartnäckigkeit schon ausgraben, wie gut sie sich auch zu verbergen suchten. Sein Informantennetzwerk umfasste tausende, es waren einige darunter, die auf Befehl töten würden. Und selbst wenn nicht: Es gab Ohren in die man flüstern konnte, ein paar Tausender, die in einer verschwiegenen Ecke den Bestizer wechselten... Der Tod war billig heutzutage. Autounfälle hatten manchmal die unangenehmen Tendenz ansteckend sein, wenn man die richtigen Leute kannte. Eisern schob er den Gedankengang von sich, verbannte ihn in die schwarzen Kellergewölbe seines Geistes aus denen er gekrochen war. Seit Eyes Only zum ersten mal auf Sendung gegangen war, war dies seine erste und einzige Regel: Spiele niemals Gott, Logan. Du hast kein Recht zu entscheiden wer leben darf und wer sterben muß. Öffne keine Türen die du nicht wieder schließen kannst. Zu seinen innersten Glaubensgrundsätzen gehörte, dass man sich auch in den dunkelsten Zeiten an seine Ideale halten musste, gerade wenn es einfacher wäre sie kurzzeitig zu vergessen, wenn sie mehr sein sollten als leere Platitüden und Entschuldigungen. Rache an jenen die Gott gespielt hatten und Kinder für Geld und Krieg missbraucht, seelisch und körperlich verstümmelt hatte...nein Rache würde es nicht geben – aber Gerechtigkeit. Wenn seine Pläne aber auch nur minimale Erfolgsaussichten haben sollten brauchte er Ressourcen, finanzielle Mittel und Verbündete. Letzteres vor allem würde eine Herausforderung darstellen, da man es wohl als gesichert annehmen durfte, dass weder die beiden pragmatischen X5 noch der eiskalt kalkulierende Colonel eine allzu große Neigung zeigen würden für diese Sache zu kämpfen. Andererseits hatte er die Kunst andere Menschen zu manipulieren und für seine Zwecke zu benutzen praktisch mit der Muttermilch in sich aufgesogen – schließlich war er ein Cale, von seiner ... Verwandtschaft mütterlicherseits mal ganz abgesehen. Lydecker würde wohl die größeren Probleme machen, immerhin hatte der Mann bald 30 Jahre in den intrigenverseuchten Gewässern der Geheimdienste und des Militärs überlebt. Aber auch er hatte Schwachstellen an welchen man einen Hebel ansetzen konnte. Die Grundlagen hatte er schon gelegt, bevor sie zu der gottverfluchten Mission nach Wyoming aufbrachen. Jetzt würde sich erweisen ob seine Nachforschungen die endlosen Stunden, die er darin investiert hatte wert gewesen waren. Der Colonel selber war irgendwo in den nächtlichen Straßen unterwegs, angeblich um bei seinen Kontakten nachzuprüfen ob ihr Anschlag den beabsichtigten Effekt gehabt hatte oder ob es irgendwelche Anzeichen dafür gab, dass die Agenten Manticors ihre Spur aufgenommen hatten. Syl und Krit hatten sich in das einzige Schlafzimmer des Sicheren Hauses zurückgezogen – entweder um den Verlust ihrer Kameraden zu betrauern oder um die Tatsache zu feiern, dass sie noch am Leben waren. So oder so, Logan hatte vermutlich noch etwas Zeit bevor einer seiner Mitstreiter wieder auf der Bildfläche erschien und die beabsichtigte er zu nutzen. Unter dem leisen Surren des Exoskeletts erhob sich der hagere Freiheitskämpfer und begann seinen Laptop mit der Telefonbuxe zu verkabeln.

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Das bleiche Licht der Morgendämmerung färbte schon den Horizont im Osten als Schritte im Flur des schäbigen kleinen Appartements erklangen. Logan hob den Kopf, richtete sich auf in dem Lehnstuhl am Fenster wo er die letzten Sternen am Nachthimmel beim Verblassen beobachtet hatte. Seine Hand fuhr flüchtig über die Dokumente und Ausdrucke, die auf dem Schreibtisch bereitlagen, überprüften dann die Erreichbarkeit der 9mm in seinem Schulterhalfter. Lydecker würde weder sehr erfreut sein über die Entdeckung, dass Logan seine Intrige einen Riegel vorgeschoben hatte, noch war es sehr wahrscheinlich, dass das Material neben ihm lag den Oberts viel fröhlicher stimmen würde. Logan hatte sich ein Ziel gesetzt und er wollte verdammt sein, wenn er sich umbringen lassen würde bevor es erreicht war. In diesem Moment wurde die Tür mit Wucht aufgestoßen und Lydeckers stürmte im Laufschritt in den Raum. Er verharrte jedoch abrupt, als er der dunklen Gestalt im Sessel am Fenster gewahr wurde. Das Lächeln, mit dem der Oberts Logan bedachte erinnerte mehr an ein Zähnefletschen eines hungrigen Raubtieres: "Cale."Er erwidert den Gruß der alten Hyäne mit einem gemessenen Nicken: "Lydecker, ich glaube es ist an der Zeit, dass wir ein kleines Gespräch unter Männern führen."„Tatsächlich? Was für ein überaus glücklicher Zufall, mein Junge, denn ich habe wirklich das brennende Bedürfnis ein paar Fragen beantwortet zu bekommen. Angefangen bei: Wieso zur Hölle hast du gehirnamputiertes Arschloch an der Dossierung von McGuinnes Betäubungsmittel rumgepfuscht? Und wo ist mein Sektorpass?"Logan eigenes Lächeln war spöttisch und scharf wie ein Rasiermesser: „Setz dich doch erst mal hin, Deck. Dass hier wird sowieso eine Weile dauern. Und reg dich nicht so auf, dass ist nicht gut für dein Herz."Die einzige Reaktion des Oberts bestand darin, dass sein rechter Wangenmuskel zu pulsieren anfing und sich seine Hände zu Fäusten ballten. Logan lehnte sich nicht im mindesten beeindruckt in seinem Sessel zurück: "Immer mit der Ruhe. Wir wollen doch diese Diskussion unter uns halten, oder? Ich meine unseren beiden Freunde am anderen Ende des Flures sind auch unter günstigen Umständen nicht besonders begeistert von dir, wenn sie jetzt auch noch hören müssen, dass du sie als Rückfahrkarte nach Manticore benutzen wolltest könnte das zu einer geradezu mörderisch schlechten Stimmung führen."Lydeckers Augen verengten sich zu Schlitzen: „Eines sollte dir klar sein Sohn. Was immer du auch weißt oder zu wissen meinst – wenn du noch einmal versuchst mich zu bedrohen mach ich dir eine Halskette aus deinen Eingeweiden. Verstanden?!"Logan erwiderte den Blick seines Gegners unbeeindruckt. „Wie du meinst. Aber lass uns doch einfach auf die Drohgebärden verzichten und zum geschäftlichen kommen, ja? Die Tatsachen sind doch folgende: Du hattest nie die Absicht das Projekt ernsthaft zu gefährden, dazu hätte auch unser kleiner Anschlag gar nicht ausgereicht. Schließlich hat das Komitee seit über 30 Jahren Milliarden von Dollar in Manticore gesteckt. Die Zerstörung des Labors ist ein in Rückschlag, aber du willst doch sicherlich nicht behaupten, dass nicht von allen Forschungsergebnissen Sicherungskopien existieren? Was wir bewirkt haben ist eine Verzögerung in der Entwicklung der neuen X-Generation und ein um vielleicht 50 bis 60 Millionen höheres Militärbudget dieses Jahr: genug um an der Führungsspitze Köpfe rollen zu lassen – insbesondere natürlich den deiner speziellen Freundin – aber lange nicht genug um Manticore kalt zu stellen. Nicht bei all den Investitionen, die schon in das Projekt geflossen sind. Nicht unter unserer spielzeugverliebten Militärregierung."„Worauf willst du hinaus Cale? Ich meine ich finde dies Gutenachtgeschichte ja auch sehr amüsant, aber hat sie auch irgendeinen Sinn oder hörst du dir einfach gern selber beim Reden zu?"„Der Punkt ist, dass du die X5 verkaufen wolltest, sobald Renfro wegen ihres Versagen abgesetzt wird. Wenn McGuinnes an der Überdosis Betäubungsmittel gestorben wäre, wie du es geplant hattest, hätte kein Mensch gewusst, dass du in die Sache verwickelt warst. Vermutlich hattest du darauf gehofft, dass Zack in seiner Wachsamkeit nachläßt, sobald die Mission ohne Hinterhältigkeiten deinerseits abgeschlossen wurde. Dann wärst du mit einem freundlichen Lächeln nach Manticore zurückspaziert und hättest dich dem Komitee als Opfer der offensichtlich unfähigen ehemaligen Direktorin präsentieren können. Und als Zuckerguß auf dem Kuchen hättest du ihnen 4 der abtrünnigen X5 auf dem Silbertablett servieren können. Du wärst ein gottverdammter Held geworden." Lydeckers Gesicht war ausdruckslos, fast schon desinteressiert „Intressante Spekulationen. Wenn dem so wäre, hättest du mich natürlich ziemlich angepisst. Nachdem McGuinnes den Verantwortlichen von meinem Teil, an unserer kleinen Party gesteckt hatte, wären sie wohl etwas zurückhaltender mich wieder in ihre liebevolle Umarmung zu hüllen. Allerdings – vielleicht würden sie ihre Meinung ändern, wenn ich ihnen einen gewissen, überaus ärgerlichen, Terroristen ausliefern könnte. Schon mal drüber nachgedacht?"„Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht. Dabei sind mir drei Dinge klar geworden: Zum ersten bist du kein Selbstmörder Lydecker. Du weißt sehr genau, dass eine gute Chance besteht, dass irgendein ehrgeiziger Unterling dich töten lässt noch bevor du den Mund aufmachen kannst. Selbst wenn nicht gehören diese Leute nicht zu der Sorte, die dich nach einem ernsthaften Vater-Sohn Gespräch wieder zurück ins Glied schicken. Sie dulden keinen Ungehorsam. Wenn sie dich wieder in die Finger bekommen werden sie ein Exempel statuieren, egal welche Informationen du ihnen bringst."Bis zu einem gewissen Punkt war das sogar richtig. Allerdings hatte ein Mann wie Lydecker sicher Kontakte in der Militärführung über die er einen Preis aushandeln konnte, ohne gleich sein Leben zu riskieren. Aber auch Eyes Only und Logan Cale besaßen Informanten im Pentagon. Er musste schlichtweg darauf hoffen, dass er rechtzeitig benachrichtigt wurde, wenn der Oberst seinen ersten Hinterhalt plante. „Du würdest nicht deinen einzigen verbliebenen Verbündeten opfern ohne sicher zu sein, dass du eine andere Gegenleistung erhälst als eine Kugel in den Kopf. Den Tatsache ist: Du brauchst mich. Du bist auf der Flucht ohne Geld, ohne Verbündete, ohne Papiere, im Moment auch ohne Sektorpass und mit genug Feinden im Untergrund um ein kleines Baseballstadion damit zu füllen. Wie sagt man doch so schön: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Ich bitte dir meinen Schutz und den des Informantennetzwerkes."Lydecker gab ein nichtssagendes Grunzen von sich. „Wie überaus menschenfreundlich. Ist das Teil deines Pensionsfonds für desertierte Ex-Militärs, oder tust du es wegen meinem einnehmenden Wesen?"„Dein ‚einnehmendes Wesen' könnte eines Tages wirklich nützlich werden. Schließlich trifft man nicht alle Tage auf jemanden, der allein durch seine Anwesenheit Übelkeit bei allen Personen im Umkreis von 100 m auslöst. Aber tatsächlich hatte ich als Gegenleistung eher deine Kontakte und dein Insiderwissen über Militär und Geheimdienst im Sinn. Wenn ich dich richtig einschätze weißt du ganz bestimmt, wo alle Leichen deiner Vorgesetzten begraben sind. Vermutlich hast du ein paar selber mit Hand angelegt."„Was genau kochst du eigentlich aus Cale? Mal angenommen ich wäre irre genug mich auf einen Handel mit dir einzulassen. In was lasse ich mich da hineinziehen?"„Wieso glaubst du, dass ich dir auf diese Frage eine Antwort geben werde?"„Ganz einfach Sohn, weil du um meine Hilfe bittest und ich in keinen Zug steige, ohne den Fahrplan zu kennen."„Ich bitte um nichts Lydecker."Angespannte Stille schien den Raum zu erfüllen wie die Anwesenheit eines unsichtbaren Dritten, während die beiden Männer ihr stilles Kräftemessen austrugen. Türkisfarbenes, griechisches Feuer bohrte sich in verwaschenes, blaues Gletschereis. Ohne den Blick seines Gegners loszulassen, brach Logan schließlich das Schweigen: „Eins sollte von Anfang an klar sein. Ich werde zu allen Entscheidungen, die dich betreffen deine Meinung hören, aber das letzte Word in dieser Geschäftsbeziehung werde ich haben. Was meine Ziele anbetrifft: Das ist einfach. Manticore zu Fall bringen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen."Das war sogar die Wahrheit, wenn auch nicht alles davon. Immerhin Verantwortliche war ein dehnbarer Begriff. An Lydeckers Reaktion würde Logan zumindest erkennen können, ob er in Gewisse Tatsachen über das Komitee eingeweiht war. Der Oberst schnaubte verachtungsvoll: „Wirklich. Ganz einfach. Noch ein fanatischer Weltverbesserer, der sich in kürze die Radieschen von unten besehen wird. Selbst wenn du alle Armeen der europäisch-russischen Achse und die der Volksrepublik Großchina zur Verfügung hättest, würde ich mich nicht unter den Befehl eines ahnungslosen Irren, wie dir stellen."Nun es wäre auch zu schön gewesen um Wahr zu sein, wenn der alte Schakal nicht gewusst hätte welche Bedeutung sein Arbeitgeber wirklich hatte. „Ich bin nicht ganz so selbstmörderisch veranlagt, wie du glauben scheinst. Ich weiß sehr gut wer im Komitee sitzt und was für Möglichkeiten sie haben. Ich weiß, dass der Präsident nicht mal pinkeln geht ohne General McNamara um Erlaubnis zu bitten. Ich weiß, dass die USA, einmal die älteste noch existierende Demokratie der Welt, zu einer Militärdiktatur verkommen ist. Wir leben seit mehr als 10 Jahren unter Notstandsgesetzen, die Wahlen sind nur noch eine leere Farce und die Regierung tut nur genau das, was ihnen eine korrupte Kamarilla aus Konzernchefs und Militärs vorschreibt. Ich habe keine Lust mehr, Unschuldigen beim Leiden und Sterben zuzusehen, weil irgendwelche Generäle immer noch Großmachtsträumen nachhängen. Ich bin es leid immer nur an den Symptomen herumzudoktern, diesmal packe ich das Übel an der Wurzel."„Soll heißen...?"„Einen Staatsstreich, dann eine umfassende Reform des Militärs, des Rechtswesens, der Geheimdienste, der Polizei."„Lieber Himmel. Das von einem zartbesaiteten Liberalen wie dir. Ist dir klar, dass wenn du das wirklich durchziehst das Blut in Strömen fließen wird? Ich hätte nie gedacht, dass du den notwendigen Mumm dazu hast." Logan wandte den Blick zum Fenster und starrte in den grauen Nebels, der mit der Morgendämmerung vom Meer hereingezogen kam. Lydecker sprach von Mut. Skrupellosigkeit wäre wohl der passendere Ausdruck. Unschuldige würden sterben, wenn er seine Pläne in die Tat umsetzte, sosehr er es auch zu verhindern suchte. War es egoistisch von ihm sein Streben nach Gerechtigkeit an erste Stelle zu setzen? Andererseits wenn sich die Führungselite dank ihrer Macht dem Gesetz entzogen, dann würden weiter die einfachen Menschen die Zeche für ihre Gier zahlen. Ungezählte Tote ungesühnt bleiben. Der Wind wirbelte die geisterhaften Schwaden durcheinander, erschuf und vernichtete Dämonenfratzen und Luftschlösser aus grauer Vergänglichkeit. Keine Antworten waren dort zu finden. „Ich habe in den letzten Tagen viel Zeit um nachzudenken. Dabei sind mir einige Dinge klar geworden. Es gibt da ein Zitat – ich weiß nicht mehr von wem: ‚Wenn du nichts unternimmst gegen den Zustand der Welt, dann bist daran mitschuldig.' Ich dachte ich hätte es verstanden, aber dem war nicht so. Ich glaube jetzt tue ich es. Es ist über die Notwendigkeit zu wählen in einer Welt, in der es weder weiß noch schwarz gibt sondern nur 10000 verschiedene Grauschattierungen. Du kannst die Wahl nicht verweigern, höchstens am Ende den Zufall für dich entscheiden lassen und der ist gnadenlos. Ich werde mein möglichstes tun um Blutvergießen zu vermeiden, aber wenn ich nichts tue dann bin ich schuldig gegenübern den Opfern weil ich etwas hätte tun können ihr Leiden zu verhindern. Ich habe bereits genug Tote auf meinem Gewissen, ich weiß also was auf mich zukommt. Man muß tun, was man für richtig hält und dann den Preis dafür zahlen. Ich habe meine Entscheidung getroffen."Max hatte nie eine unbeschwerte Jugend gehabt, sie war als halbes Kind gestorben, noch nicht einmal 20 Jahre alt. Weder ihr gutes Herz, noch ihr fröhliches Lachen oder ihre unerschöpfliche Energie hatten daran etwas geändert. Er hatte es nicht verhindern können, aber beim Arsch des Allmächtigen er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass dieses Schicksal noch andere befiehl. Lydeckers Stimme drang in seine Gedanken. Sie hatte einen seltsamen Unterton, den Logan nicht recht identifizieren konnte. Wäre die Idee an sich nicht schon so absurd gewesen, hätte man beinahe Glauben können das der Oberst versuchte Sanft zu sein. „Du hast Schneid Sohn, dass muß ich dir lassen. Allerdings macht dich das immer noch nur zu einem Größenwahnsinnigen mit Schneid. Daran ändert auch deine Feld-Wald-und-Wiesen Philosophie nichts. Nichts für ungut, aber ich glaube nicht, dass es im Interesse meiner Lebenserwartung ist mit dir zusammenzuarbeiten."Nun gut, es würde anscheinend nichts anderes Übrig bleiben als schwere Geschütze aufzufahren. „Vielleicht nicht im Interesse deiner Langlebigkeit, aber im Interesse deines Gerechtigkeitssinnes."Mit diesen Worten warf er die Akte, die die ganze zeit neben ihm gelegen hatte dem Oberst zu. Dieser traf jedoch keinerlei Anstalten sie aufzunehmen. „Noch so eine Sache, die ihr linken Weichlinge nie begriffen habt ist, dass Gerechtigkeit eine höchst relative Angelegenheit ist."„Ja, aber wenn man persönlich betroffen ist, verleiht einem das eine ganz andere Perspektive. Jetzt sei ein guter Junge, verhalt dich dem Drehbuch entsprechend und schau schon rein. Ich denke es wird dich interessieren."Es war ein belustigtes Funkeln in Lydeckers Augen als er den Deckel des Hefters öffnete und zu lesen begann. Jeder Anflug von Humor war jedoch aus seinen Gesicht gewichen, als er einige Minuten später seine Augen von der Lektüre losriß. Seine Stimme vibrierte vor Zorn, Schmerz und kaum unterdrückter Mordlust. „Was ist das?!"„Das mein Freund sind die Beweise, dass der Befehl zur Ermordung deiner Frau Linda, von ganz oben kam. Unterzeichnet wurde die Order von Generalleutnant McNamara, zu diesem Zeitpunkt noch Adjutant des damaligen Komiteevorsitzenden Benningham. Du hast zuhause wohl zuviel geredet. Oder sie hat sonst wo etwas gehört, auf jeden fall wurde sie neugierig und begann Nachforschungen über Manticore anzustellen, das sogar mit einigem Erfolg. Sie hatte Verbindungen zu linken Intellektuellen und stellte ganz allgemein ein Sicherheitsrisiko dar, in einer sehr delikaten Situation. Man wollte jegliche Peinlichkeiten oder diplomatische Verwicklungen mit dem Ausland vermeiden, nachdem der Irak-Krieg erst kurz zuvor die Beziehungen zu den Verbündeten stark belastet hatte. Eine Zeitlange war es eine knappe Sache ob du nicht mit dran glauben musst, aber anscheinend hattest du da einen Gönner, der seine Hand über dich gehalten hat. Man hat sich darauf geeinigt, dass deine Loyalität zu dem Projekt höchstwahrscheinlich unkompromittiert bleiben würde, wenn man es so aussehen lassen würde, als ob irgendein vollgeknallter Junkie sie abgeschlachtet hat, weil sie ihn bei einem Einbruch überraschte."Schweigen legte sich über den Raum wie eine erstickende Decke. Als Lydecker schließlich wieder sprach hatte seine Stimme die ganze Wärme und Freundlichkeit einer Grabkammer „Ich werde das überprüfen. Gott helfe dir wenn du versuchst mich zu verarschen."Sekunden später schloss sich die Tür hinter ihm. Logan lehnte sich seufzend im Sessel zurück. Jetzt würde sich erweisen, ob die Saat, die er ausgebracht hatte aufging. Immerhin hatte er noch Lydeckers Sektorpass, der Oberts würde also kaum versuchen sich einfach aus dem Staub zu machen. Nun blieb ihm nur abzuwarten.

Das regnerische Grau des Tages wurde schon von der heraufziehenden Nacht verschlungen, als Lydecker zurückkehrte. Schweigend betrat er den Raum, schweigend setzte er sich in den Sessel neben Logan, schweigend betrachteten sie den Regen, der an den Fensterscheiben hinabrann wie ungeweinte Tränen. Stille erfüllte das Haus, nur gestört durch das Rauschen des Regens drausen und das gelegentliche Knarren der Balken. Als der Oberts schließlich das Wort ergriff erschien es beinahe wie ein Sakrileg – profane, menschliche Laute an einer Stätte der Totenwache. „Du hast deinen Handel Cale. Ich bin an Bord."Sein Blick fiel auf die halbleere Whiskyflasche und die Scotchgläser auf dem Beistelltisch. „Das wird dir nicht weiterhelfen, glaub mir. Ich habe ausreichend Erfahrung gesammelt um das genau zu Wissen." „Nein, es hilft nicht weiter."Stimmte Logan zu und reichte dem Oberst ein Glas. „Aber manchmal muß man den Schmerz betäuben. Laß uns trinken auf die Frauen, die wir unseren Herzen nahe waren. Die wir nicht beschützen konnten."Lydecker zögert einen Moment, hob aber dann sein Glas zum Tost. „Auf die Rache!" „Auf die Gerechtigkeit!"erwiderte Logan. Draußen im nebeligen Zwielicht krächzte ein Rabe. Die Bühne ist bereitet, der Vorhang offen, nun lasst das Spiel beginnen. „Chers!"