Kapitel 2: Wer braucht schon Feinde...
...mit Freunden wie diesen? Logan empfand große Sympathie für den Mann, der dieses Zitat ursprünglich aufgebracht hatte. Wenn der Kerl auch nur die Hälfte dessen ertragen musste, was er Zurzeit durchlitt, dann hatte er sie auch bitter nötig. Sieben einfache Schritte zum Sturz einer Militärdiktatur: Kapitel eins, Seite eins, Absatz eins, Satz eins - Niemals, wiederhole niemals wirb dir als Verbündete einen Ex-Oberst mit Napoleonkomplex und zwei genetisch hochgetunte Mordmaschinen an, die schon ein nervöses Zucken in der Messerhand bekommen, wenn sich der zuvor genannte Oberts im Umkreis einer Meile aufhält. Immerhin war es ihm gelungen die X5 zur Zusammenarbeit mit ihrem ehemaligen Peiniger zu bewegen. Es war sogar überraschend einfach gewesen mit Syl und Krit ins Geschäft zu kommen. Zwar schien Keiner von beiden Zacks Paranoia gegenüber allen Menschen, die nicht Mitglied seiner Einheit waren zu teilen, nichtsdestotrotz hatten auch bei ihnen 10 Jahre auf der Flucht Spuren hinterlassen. Trotzdem hatte zumindest Syl anscheinend beschlossen ihm bis zu einem gewissen Grad Vertrauen entgegenzubringen – vielleicht weil Max es getan hatte. Wenn man das näher betrachtete, war es wohl keine besonders kluge Idee von ihr. Man musste nur daran denken, was es Max gebracht hatte: Zurückgelassen, den Würmern zum Fraß, irgendwo in der gottverdammten Wäldern Wyomings. Logan biss hart sich hart auf die Zunge. Er begrüßte den Schmerz, der wie eine scharlachrote Blume in seinem Mund erblühte. Er war so unendlich viel reiner als der lichtlose Sumpf, der unter seinen Albträumen lauerte. Er hatte jetzt keine Zeit sich in Selbstmitleid zu wälzen. Nichts würde die Toten wieder lebendig machen, aber er war eine Verpflichtung den Lebenden gegenüber eingegangen. Die Situation war viel zu prekär um sich eine Schwäche zu erlauben. Er hatte die beiden X5 überzeugen können sich zumindest kurzfristig in Seattle niederzulassen und für ihn Beinarbeit zu verrichten. Im Gegenzug würde er ihnen helfen wieder Kontakt zu ihren Geschwistern aufzunehmen, jetzt da nach Zacks Verschwinden alle Kommunikationslinien der Flüchtlinge unterbrochen waren, sowie alles nötige zur Klärung des Schicksals ihres CO zu unternehmen. Insbesondere dem zweiten Punkt kam große Wichtigkeit zu, da zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht feststand, ob Zack tot war oder lebend gefangen genommen worden war. Sollte letzteres der Fall, waren sie alle in Gefahr. Zack war ein harter Mann und seinen Geschwistern gegenüber so loyal, dass es an Fanatismus grenzte, dessen war sich Logan wohl bewusst. Aber er kannte auch die Methoden, die von den Geheimdiensten entwickelt worden waren um auch ausgebildete Opfer zu brechen. Natürlich gab es die von Zack schon einmal angewandten Methoden der Selbsthypnose oder der Erinnerungsschwemme, aber auch die hatten laut Lydecker ihre Schwächen und keiner kannte sie besser als ihre Entwickler. Renfro würde mit Sicherheit nicht zögern, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen; sie hatte im Gegensatz zum Colonel auch nicht die geringste emotionale Bindung an die X5. Sie bedeuteten ihr nicht mehr als Laborratten, die man nach Bedarf vivisezierte. Wenn man es unter diesem Gesichtspunkt betrachtete begann eine Kugel in die Brust fast schon wieder freundlich auszusehen. Logan schob diese Gedanken weit von sich. Es gab im Moment nichts was er für Zack tun konnte, selbst wenn er noch am Lebend sein sollte. Seufzend wandte er sich wieder dem Quellcode zu der ihn vom Bildschirm spöttisch anzugrinsen schien. Aus irgendeinem Grund weigerten sich die Treiber hartnäckig zu auf den frisch installierten Überwachungskameras ihres temporären Hauptquartiers zu laufen. Da er nicht wusste ob überhaupt und wenn ja was für Informationen Manticor von Zack bekommen hatte, war es ihm zu unsicher erschienen seine Operationen weiterhin von seinem Penthouse aus zu führen. Außerdem wollte er vermeiden, dass seine Verbündeten mehr als unbedingt nötig über ihn erfuhren, wie zum Beispiel seinen Wohnort. Schlimm genug das Lydecker wusste, dass er ein hochrangiges Mitglied des Eyes Only Informantennetzwerkes war. Er hatte nicht vor den Vermutungen des Colonels weiter Nahrung zu geben. Wenn man nach seinen Kommentaren gehen konnte, hatte er sowieso schon mehr erraten als Logan lieb sein konnte. Deshalb hatte er veranlasst, dass sie ihr Lager in einem der zahlreichen Sicheren Häuser aufschlugen, über die er durch Scheinfirmen und Strohmänner verfügte. Sie hatten sich ein Lagerhaus, mit angeschlossenen Büroräumen ausgesucht, in der sie nach Logans gefälschten Papieren jetzt eine kleine Detektei betrieben. Das Gebäude selbst hatte bis zum Puls die Zweigstelle einer der Softwareschmieden des inzwischen längst verblichenen Konzern Microsoft beherbergt. Daher verfügte es über eine Glasfaserhochgeschwindigkeitsanbindung ans Netz, die sogar nach 10 Jahren noch funktionsfähig war, was maßgeblich dazu beigetragen hatte, dass sie sich hier einrichteten. Die letzten drei Tage hatten sie mit mühsamen aber notwendigen Arbeiten verbracht: Die Kameras, Bewegungsmelder und Lichtschranken des Sicherheitssystems mussten installiert, die Verbindung zum Netz angeschlossen, Satellitenschüsseln angebracht und ein halbes Dutzend Computerterminals aufgestellt und verkabelt werden. Eine schweißtreibende Schufterei, die viel Fingerspitzengefühl erforderte und nicht eben erleichtert wurde durch die Tatsache, dass seinen Verbündeten jeder Vorwand recht war um sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Daher hatte Logan keine Sekunde gezögert, seine Mitstreiter mit verschiedenen Botengängen in alle Himmelsrichtungen auszusenden, sobald die wichtigsten physischen Arbeiten erledigt waren. Allerdings hätten ihre Aufträge in jedem Fall keinen Aufschub geduldet: Lydecker sollte mit seinen Militärkontakten in Verbindung treten um so viel wie möglich über Zacks Schicksal in Erfahrung zu bringen. Syl sollte angeblich eine Reihe seiner Informanten aufsuchen, in Wahrheit aber würde sie den Colonel im Auge behalten. Krit war bei Jame-Pony auf Beobachtungsposten gegangen. Es lieb abzuwarten wie weit die forensischen Spezialisten Manticors in Zusammenarbeit mit den Geheimdienstdatenbanken Maxs Spur zurückverfolgen können würden. Sollten sie tatsächlich auftauchen, war es logisch anzunehmen, dass sie Max Wohnung und Jame-Pony zuerst finden würden. Nichtsdestotrotz hatte Logan einen seiner alten Kontakte reaktiviert. Daniel war ein zuverlässiger, kompetenter und vor allem verschwiegener Privatdetektiv. Er würde Fogle-Towers im Auge behalten und alle verdächtigen Aktivitäten melden. Logan hatte ihn in der Zeit nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war angeworben, um Peter und seinen Partner Robert zu ersetzen, die bei der Schießerei mit Sonrissas Männern ums Leben gekommen waren. In Zeiten wie diesen sehnte er sich besonders nach der unerschütterlichen Ruhe und dem lakonischen Humor seines alten Leibwächters. Ein weiterer alter Freund den er in seinen Tod geschickt hatte wie ein Lamm zur Schlachtbank. Logan wischte diesen Gedankengang rücksichtslos beiseite und nahm einen tiefen Zug aus der Bourboneflasche, die neben ihm stand.
Er konnte sich keine Schwäche erlauben! Die Zeit, die er allein und unbeobachtet von seinen Verbündeten hatte, musste genutzt werden. Kostbare Minuten verrannen wie Sand zwischen seinen Fingern. Erste Schritte waren bereits getan: Er hatte eine Bitte um Beistand losgeschickt auf allen Nachrichtenkanälen des Untergrundnetzwerkes, an alle alten Kampfgefährten und Freunde bis hin zu seiner Zeit als junger, idealistischer Student in Yale. Nicht das er damit rechnete viele Antworten zu bekommen. Viele waren Tod, das Dasein eines Untergrundkämpfers zeichnete sich nicht eben durch eine besonders hohe Lebenserwartung aus. Andere würden sich in ein Bürgerliches Leben zurückgezogen haben oder einfach so gründlich untergetaucht sejn, dass sein Hilferuf ungehört verhallen würde. Aber er war nicht wählerisch: Er würde jedes bisschen Unterstützung nehmen, das er kriegen konnte. Bis die Kavallerie eintraf, würde er sich eben mit den Agenten zufrieden geben müssen, die er hatte. Leider waren diese Ressourcen stark eingeschränkt: von den Tausenden, die Teil seines Netzwerkes waren, hatten die allermeisten nur die Aufgabe Augen und Ohren offen zu halten und gelegentlich eine Akte mehr als vorgesehen zu kopieren. Insgesamt verfügte er über etwa 20 Leute, die über ganz Amerika verteilt saßen und gelegentlich Einbrüche oder Observierungen für ihn durchführten. Alle hatten zumindest eine grundlegende Ausbildung als Polizist, Soldat, Söldner oder einfach als Safeknacker und Krimineller; aber keine hatte die Erfahrung, die notwendig war wenn man sich mit einer geheimen Regierungsbehörde anlegen wollte – eingeschlossen ihm selbst wenn man darüber nach dachte. Für gewöhnlich erhielten seine Außendienstmitarbeiter ihre verschlüsselten Aufträge über anonyme Postfächer oder passwortgeschützte Chatrooms. Nachdem sie das Gefahrenprofil und den Grund erfahren hatten, stimmten sie entweder zu oder sagten ab. Die Regeln waren immer die selben: Minimaler Kontakt zum Informantennetzwerk, keine Namen, keine Gesichter. Das war notwendig um seine Leute im Falle einer Gefangennahme oder eines Verrats zu schützen. Max war die einzige Ausnahme, die er je gemacht hatte. Diesmal würden die üblichen Methoden jedoch nicht funktionieren. Diese Mission würde Jahren in Anspruch nehmen, viel Teamwork und Verlässlichkeit verlangen, außerdem war sie so gefährlich, dass es eigentlich schon an Selbstmord grenzte. Er konnte von keinem seiner Leute bitten ihm zu folgen, ohne zu wissen wogegen sie antraten. Aber er konnte auch keinem von ihnen derartig wichtige Informationen geben ohne sich ihrer Mitarbeit und Loyalität sicher zu sein. Letztlich lief es darauf hinaus, dass er nur die seiner Leute würde einweihen können, denen er bedingungslos vertraute, was die sowieso schon kurze Liste praktisch auf Null schrumpfen lies. Seufzend ging er die Dateien noch einmal durch. Er konnte sich keine Fehler erlauben: Hier stand nicht nur sein eigenes Leben auf dem Spiel, sondern auch das aller, die auf ihn vertrauten und von ihm abhängig waren. Immerhin würden auch diejenigen, die nicht das Pech hatten an diesem Höllenritt teilzunehmen, nicht arbeitslos werden. Das Manticore zum Langzeitziel geworden war bedeutete nicht, dass Korruption, Opportunismus und Gier im Rest der Welt eine Kaffeepause einlegen würden. Daher durfte auch Eyes Only nicht ruhen. Zu diesem Zweck war Bling im Moment in seinem Auftrag unterwegs. Er sollte die Runde bei einigen seiner wichtigeren Informanten machen, einige Beweißmaterialien abholen und ein paar lose Enden bei Fogle Towers verknoten. Er müßte eigentlich jeden Augenblick hier auftauchen. Mit ihm würden die Zugangscodes zu den anonymen, schwer verschlüsselten Servern kommen über die ein Großteil seines Netzwerkes Kontakt zu ihm hielt. Dann würde Eyes Only wieder voll einsatzbereit sein. Bis dahin hatte er die Personalakten um sich beschäftigt zu halten – und natürlich die immer noch unkooperativen Sicherheitskameras. Logan warf dem Editor mit den langen Zeilen Quellcode einen angewiderten Blick zu, schloß aber dann das Fenster mit den Personaldateien und lies die Finger über die Tastatur fliegen. Er würde diesem verrosteten Haufen schlecht verdrahteter Schaltkreise schon noch Vernunft einbläuen. Wenn nötig mit dem Vorschlaghammer.
Zwei Stunden später waren weder Bling noch Lydecker noch einer der X5 aufgetaucht. Logan began sich langsam Sorgen zu machen um seinen alten Freund, zumal er auch nicht an sein Handy ging, wenn er innerhalb der nächsten Stunde nicht auftauchte würde er Matt anrufen. Zumindest die Infrarotkameras hatten ein Einsehen und waren bis auf einen letzten hartnäckigen Störenfried über dem Eingang alle online. Draußen war die Nacht herabgesunken und verschluckte in Zusammenarbeit mit dem Seenebel und dem vom Puget-Sound hereinziehenden Nieselregen Geräusche und Licht innerhalb weniger Meter spurlos. Das tagsüber belebte Industrieviertel lag unter einer Decke undurchdringlicher Finsternis. Die kleinen Läden und Werkstätten, die die Straße säumten waren schon lange dunkel und still. Etwa 15m die Straße hinauf leuchtete eine einzelne, flackernde Straßenlampe tapfer gegen die Schwärze an. Ihr Licht war jedoch kaum mehr denn ein trüber Schimmer in der nebeligen Dunkelheit. Auch innerhalb des Lagerhauses war es nicht viel heller – nur das Leuchten der Flachbildschirme tauchte den Kontrollraum in geisterhaftes Licht. Logan war es recht; er mochte die Dunkelheit und die Stille. Sie boten eine Möglichkeit nachzudenken und zu meditieren. Das Rauschen des fallenden Regens hatte eine fast schon hypnotische Wirkung auf ihn. Auf den Bildschirmen ließen die myriaden Wassertropfen ein Märchenreich entstehen: Millionen eisblauer Minikometen, die durch silbrige Nebel aus Kaltluft fielen, die in den Falschfarben der Monitore glänzten wie Feenstaub. Die Wärmequellen der verschiedenen Nachtschwärmer schimmerten in den Farben von geschmolzenem Gold bis zu warmen Bernstein. Dort im Windschatten der Ladezone war die bronzefarbene Wolke eines schlafenden Obdachlosen, golden getönt dort wo sein Atem aus der Kapuze entwich. Bei den Mülltonnen stöberten drei weitere Leuchtfeuer in den Abfällen der Zivilisation nach Nahrung. Zu klein und zu warm für Menschen– vermutlich streunende Hunde. Dazwischen das Huschen und Trippeln von Ratten. Kleine goldene Irrlichter, die durch die Dunkelheit und den Nebel tanzten. Logan folgt den den nur langsam verblassenden Wärmespuren, die wie Festbanner in der Dunkelheit hingen, mit den Augen. Einen augenblicklang fühlte er sich erinnert an mystische Runen und Wahrscheinlichkeitswellenfunktionen von Elementarteilchen. Die Graffiti Gottes. Vielleicht die grundlegenden Geheimnisse des Universums und der Sinn des Lebens; vielleicht nur das zeitlose Lachen des grausamen, alten Schweinehund namens Zufall, der sich über das Wimmeln und Streben der Menschen amüsiert im Angesicht der großen Schwärze, die sie alle erwartete; vielleicht auch nur interdimensionale Toilettenwitze: Kommt eine Blondine zum Himmelstor und fragt... Logan lächelte müde. Zu was machte das ihn, den gesichtslosen Beobachter, der hinter seinen dicken Mauern saß und sich anmaßte zu sagen: Hier muß etwas getan werden und wenn dabei nicht mehr als 10 Unschuldige sterben war es die Sache wird? Wie bewerte man ein Menschenleben? Wie weit durfte man gehen im Intresse einer besseren Zukunft ohne das zu werden gegen was man ursprünglich gekämpft hatte? Was war er wenn er sich zum Richter aufschwang? Gott? Ein Mann, der tat was getan werden musste? Das kleinere Übel? Ein Heiliger, ein Sünder, ein Mörder? Die himmlische Putzkolonne, die den Schmierereien halbwüchsiger Elementargeister hinterher wischte? Logan ächzte leise und warf einen misstrauischen Blick auf die Schnapsflasche. Irgendjemand hatte sie zu mehr als dreivierteln gelehrt, als er nicht hingesehen hatte. 'Kein Stoff mehr für dich heute Abend Cale! Du hast noch zu arbeiten.'
Eine Bewegung auf den Bildschirmen riss ihn aus seinen Gedanken. Ein hochgewachsener Mann kam im Schatten der überhängenden Dächer die Straße hinauf. Die Statur mochte für Bling passend sein, obwohl das schwer zu sagen war, da der nächtliche Wanderer in einen schweren Winterparka gekleidet war. Das Gesicht war unter der zum Schutz gegen den Regen hochgezogenen Kapuze unmöglich auszumachen. Aufmerksam verfolgte Logan den Fortschritt der Gestalt, die über den Gehsteig immer näher kam bis sie schließlich in die Hofeinfahrt des Lagerhauses einbog und vor der Eingangstür hielt, direkt in dem toten Winkel, der durch die nicht funktionsfähige Kamera enstanden war. Eilig griff Logan zum Knopf der Gegensprechanlage: „Wer ist da?"Nur Schweigen antwortete ihm. Dann ein kratzendes Geräusch das vermuten lies, dass jemand am Schloß hantierte. Hastig fuhr Logan die Computer herunter. Alle wichtigen Daten befanden sich auf einer versteckten Partition und waren mit militärischer Software verschlüsselt, selbst wenn es also zum schlimmsten kommen sollte, würden sie daran eine ganze Weile zu Kauen haben – wer immer auch sein Besucher war. Die wirklich wichtigen Sachen sollten sowieso erst mit Bling eintreffen. Logan unterdrückte eine neue Welle der Sorge um seinen Freund. Er hatte jetzt eigene Probleme. Mit schnellen Schritten umrundete er die langen Tische voller Computerterminals und Werkzeug und ging hinter einem Stapel staubiger Holzkisten neben der Tür in Deckung. In diesem Moment erloschen die Monitor und tauchten das innere des Lagerhauses in Styxtische Nacht. Der Untergrundjournalist taste nach der Halbautomatik in seinem Schulterhalfter. Das Umlegen des Sicherungshebels klang plötzlich sehr laut in der Stille. Wenn sein ungebetener Gast die Tür öffnete würde er sich als Silhouette vor dem Licht der Straßenlaterne abzeichnen, währenddessen er selbst hoffentlich durch die Dunkelheit verborgen blieb. Nicht das ihm das viel nützen würde, wenn es tatsächlich ein Manticoreassassine war. Andererseits wenn das der Fall war würde er ihm auch kaum davonlaufen können. Logan brachte die Pistole in Anschlag und stellte milde überrascht fest, dass seine Hände nicht zitterten. Mit einer Art eigenartiger Distanziertheit beobachtete er sich selbst dabei, wie er die Atemübungen begann , die ihn seine Mutter vor langer Zeit unter den Jasminsträuchern im Kräutergarten gelehrt hatte. Das Schloß klickte kurz und die Tür schwang lautlos nach innen. Logan spürte wie sich reflexhaft alle Muskeln in seinem Körper spannten. Von dem Mann, der im Türrahmen erschien war im trüben Licht der Straßenbeleuchtung nur die dunklen Umrisse der Gestalt und der Kapuze sichtbar, die sich schwach vor den substanzlosen, weisen Geisterschwaden des Nebels abzeichneten. Logans Finger krümmten sich um den Abzug, nur einen Hauch vom Druckpunkt entfernt. Etwas in ihm, das zum erstenmal geweckt worden war als er Max beim sterben zugesehen hatte, war wieder erwacht und verlangte nach Blut. Logan hatte sich nie als gewalttätigen Mann gesehen. Seit Jahren hatte er sein Leben dem Ziel geweiht das Leid der Menschen zu bekämpfen und für die Schwachen einzustehen. Jetzt aber regte sich wieder das Tier in ihm und wollte gefüttert werden. Langsam rang er das Bedürfnis nieder das halbe Magazin in den namenlosen Schatten zu leeren, der von Ihnen geschickt worden war. Sie, die sich wie Vampire vom Schmerz und Blut kleiner Kinder nährten. Er weigerte sich zuzulassen, dass sein Zorn ihn dazu brachte die Ideale eines ganzen Lebens zu verraten. Der Tod eines missbrauchten Befehlsempfängers wäre keine Gerechtigkeit, sondern sinnlos verschwendetes Leben. ‚Ganz recht Cale alter Junge.' Meldete sich ein Stimmchen aus seinem Hinterkopf zu Wort. ‚Aber hast du schon mal drüber nachgedacht, dass besagter Befehlsempfänger in Hinblick auf dein Ableben weit weniger Skrupel haben dürfte?' Ja, das hatte er. Weshalb sonst hockte er mit gezogener Waffe hinter einem Kistenstapel wie eine schlechte Imitation von Billy the Kid? ‚Dann wäre es jetzt vielleicht Zeit die Initiative zu ergreifen, du Schlauberger.' „Stehen bleiben! Ich bin bewaffnet! Halt die Hände so, dass ich sie sehen kann oder trag die Konsequenzen!"Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, spannte er mit einem vernehmlichen Klicken den Hammer. Der nächtliche Besucher indes machte keinerlei Anstalten gewalttätig zu werden, sondern war wie aufgefordert im Eingang stehen geblieben. Allerdings schien er auch wenig geneigt zu sein die Hände zu heben. „Bist du das Logan?"fragte Gestalt, mit einer Stimme, die verdächtig nach seinem Trainer klang. Der Freiheitskämpfer senkte die Pistole: „Uhhh guten Morgen Bling."„Guten Morgen am Arsch, Mann! Gibt es hier auch irgendwo einen Lichtschalter? Hier drin ist es ja so schwarz wie im Herzen eines Kredithaies."Logan setzte sich zurück und schob mit plötzlich schweißfeuchten Händen die Waffe wieder in ihr Holster. Es hatte nicht viel gefehlt und er hätte aus reiner Mordlust einen Freund erschossen. Plötzlich war er froh um die Dunkelheit, die verhinderte das er Bling in die Augen sehen musste. „Logan, verdammt noch mal! Ich rede mit dir!"Der Untergrundjournalist lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich auf einmal sehr alt und müde. Musste wohl am nachlassen des Adrenalinschubs liegen. „Ich hab's gehört Bling! Versuchs mal etwa 2 m weit links von der Tür. Immer an der Wand entlang. Paß auf die..." Kawumm! „Scheiße!"„... Kistenstapel auf. Aber wie ich höre hast du sie schon gefunden."In diesem Moment leuchteten die Halogenröhren an der Decke auf und erfüllten den Raum mit schmerzhaft grellem Licht. Bling stand mit zurückgeworfener Kapuze vor dem umgekippten Kistenstapel und rieb sich mit saurer Miene das Schienbein. „Ist alles glatt gegangen?"„Wenn man davon abgesieht, dass ich die ganze Nacht durch den Regen renne, nur damit du dann hier mit mir verstecken spielst? Dann ja."Der Trainer humpelte zu den Tischen mit den Computerkonsolen und lies sich schwer auf einen Stuhl fallen. Die Ledertasche, die die bisher unter seinem Mantel verborgen gewesen war, wurde vorsichtig „Ist soweit alles erledigt. Matt, Beverly, Thomas, Sebastian und noch ein paar andere haben deine neuen Nummern und werden sie verbreiten. In ein oder zwei Tagen wissen es alle, die es wissen müssen. Deine Festplatten sind in der Tasche, zusammen mit den Minidiscs, die du haben wolltest. Die verdächtige Ausrüstung und die restlichen Datenträger sind in dem Haus an der St-George-Street eingelagert, die Akten auch. Deine Wohnung ist sauber: Keine Hard- oder Software, die nichts bei einem Privatmann zu suchen hat. Alle Speicher sind 15fach überschrieben worden. Keine Dokument, keine Photos, keine Ausweispapiere mehr. Sebastian meint er hätte die falschen Biometrischen Daten problemlos in die staatlichen Speicherbänke gekriegt, und Sam wird sich um deine medizinischen Aufzeichnungen kümmern. Du bist mir was schuldig Mann! Daniel und ich hatten echt einen vergnüglichen Abend als Putztruppe. Wir haben alles blank gescheuert was wir finden konnten und ich hab dem Majordomus gesagt er soll jeden Tag gründlich durchputzen lassen. In einer Woche werden selbst die besten forensischen Spezialisten von Manticore eine schwere Zeit haben da noch irgendetwas von deiner DNS oder deinen Fingerabdrücken zu finden. Du bist hochprofessionell von der Bildfläche verschwunden."„Ausgezeichnet! Gib mir mal die Minidisc, die mit ZGC-01 beschriftet ist."Wenige Minuten später saß Logan vor den wieder hochgefahrenen Bildschirmen und ächzte ob der Menge an wichtigen Daten, die sich aus dem Informantennetz ergoß, kaum das die Verbindung zu seinen anonymen Emailkonten stand. Vetternwirtschaft und kriminelle Schlamperei beim Bau des neuen Atomkraftwerkes bei San Francisco, ein großes Waffengeschäft in das mehrere kolumbianische Dons verwickelt waren, ein Senator, der sich von Baulöwen bestechen lies, damit diese weiterhin zu Schleuderpreisen einsturzgefährdete Bruchboten hochziehen konnten. Bei einem eigentlich sehr milden Erdbeben in Los Angelos waren 4 dieser tickenden Zeitbomben eingestürzt und hatten 200 Menschen unter sich begraben. Großindustrielle, die ihre Arbeiter behandelten wie Vieh, erzwungene Kinderprostitution ... die Liste wollte kein Ende nehmen. Er war nicht einmal zwei Wochen fort gewesen und schon lag ihm genug Material vor um ein Dutzend Männer Monatelang beschäftigt zu halten. Einen augenblicklang drohte ihn die Verzweiflung zu übermannen: Er hatte jahrelang für eine bessere Welt gekämpft, aber nichts hatte sich geändert. Seine Siege waren doch nur Fußspuren im Sand – innerhalb von wenigen Stunden vom Wind verweht. Wen er sich seinem Staatsstreich zuwandte dann würden alle diese Verbrechen ungesühnt bleiben. Egal welchen Weg er einschlug, immer würde er jemanden im Stich lassen. Blings Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken. „Könntest du das bitte wiederholen?"„Ich habe gesagt: Wir haben ein Problem, Logan."„Nur eins? Ich würde eher schätzen..."Logan warf einen raschen Blick auf den Bildschirm. „...etwa 15. Deine Sturheit noch gar nicht mitgezählt." Bling würdigte seinen kläglichen Versuch einen Scherz zu machen keiner Antwort, sondern kam sofort zum Herz der Sache. „Ich werde dich gar nicht erst fragen, ob es dir mit diesem Irren Kreuzzug zur Erneuerung von Demokratie und Menschenrechten wirklich ernst ist. Ich kenne dich gut genug um die Antwort vorhersagen zu können. Kannst du mir aber trotzdem verraten wieso du unsere drei Freunde da mit reingezogen hast? Du hast dein Leben in die Hände von Leuten gelegt, die dir gegenüber nicht die geringst Loyalität empfinden."„Weil ich es mir nicht leisten kann sie nicht einzuweihen. Lydecker weiß zuviel. Er ist ein gefährlicher Mann. Ich kann ihn entweder für mich arbeiten lassen oder ihn umbringen. Was die X betrifft: Schau welche Erfolge Eyes Only durch Max erzielt hat. Wenn ich irgendeine Aussicht auf Sieg haben will, dann brauche ich sie."Bling grunzte unüberzeugt „Max war dir gegenüber loyal. Das kann man von diesen beiden nicht behaupten."„Lass ihnen Zeit. Alle X5 haben zwei Dinge gemeinsam: Die Sehnsucht nach der Wärme und Geborgenheit innerhalb einer eingeschworenen Gemeinschaft, ihrer Kampfgruppe, und der Wunsch, nach jemanden der Innen eine gewisse Ordnung vorgibt. Ihnen sagt was sie mit ihrem Leben tun sollen. Sie sind 10 Jahre lang aufs Gehorchen trainiert worden, dass ist nicht ohne Folgen geblieben. Vorerst haben wir eine Übereinkunft, zumindest bis ich ihre Geschwister gefunden habe. Sie haben gerade ihren Anführer verloren, jemand muß seine Stelle einnehmen."„Und da willst du deine Bewerbung abgeben?"„So ungefähr."„Du bist doch ein selten hinterhältiger Mistkerl, Logan. Aber du solltest trotzdem ein paar zuverlässige Jungs in Bereitschaft halten, für den Fall der Fälle."„Nur zu wahr. Ich hab schon ein paar alte Freunde angerufen, um das in die Wege zu leiten. Fürs erste werde ich ein paar von unseren zuverlässigeren Außendienstmitarbeitern nach Seattle beordern, als stille Reserve."„An wenn hast du gedacht?"„Onkel Tummetok auf jeden Fall. Elektro-Eddie und Fred Mahowen."Bling brummte zustimmend. „Gute Wahl. Du bist sicher, dass keiner unserer Freunde hier von deinen Leuten weiß?"„Woher sollten sie? Max hat sie nicht gekannt also kann sie kaum ihren Geschwistern davon erzählt haben. Nein sie wissen nichts und dabei wollen wir's vorerste auch belassen. Du und Daniel – ihr könnt mir hier Rückendeckung geben."„Wenn die Scheiße wirklich mal überkocht, wird das kaum ausreichen. Du solltest deine Kontakte bei einer der Widerstandsgruppen anrufen. Für diese Jungs bist du ein Held. Es gibt genug die würden sich um das Privileg reißen für Eyes Only zu kämpfen."„Genau das ist das Problem Bling. Es gibt einige gute Leute in den gemäßigteren Gruppen, aber auch eine ganze Menge Fanatiker. Die Meisten sind schlichtweg zu schießwütig."„Was ist mit deiner Bekannten beim S1W? Sie ist doch eigentlich ein ganz vernünftigen Eindruck gemacht."„Ash ist ein gutes Mädchen, ja."Logan seufzte ergeben. „Von mir aus ruf ich sie an und frage ob sie mir ein paar zuverlässige Männer schicken kann. Zufrieden?"„Noch nicht ganz."Der hagere Freiheitskämpfer verdrehte die Augen „Was ist den jetzt schon wieder?"Bling drehte seinen Stuhl so, dass er seinem Freund in die Augen sehen konnte „Logan, ich weiß wie viel es dir bedeutet, das hier zu versuchen, aber... kennst du noch die goldene Regel über das Leben, das Universum und den ganzen Rest?"Die goldene Regel war ein bitterer Insiderwitz gewesen, das geflügelte Wort für die verächtliche Nichtachtung mit denen die Mächtigen dieser Welt ihre weniger glücklichen Mitmenschen zur Seite stießen oder zertrampelten. „Natürlich erinnere ich mich. Wer das Gold hat, der macht die Regeln. Willst du mir vielleicht sagen, dassich , da ich nicht einmal mehr das Kleingeld habe mein Netzwerk richtig zu unterhalten, ein bisschen gesunden Menschenverstand zeigen und mit dem Unsinn aufhören sollte solange ich noch kann?"„Es ist einfach eine Tatsache, dass wir nicht annährend die Ressourcen haben, die für ein solches Vorhaben notwendig sind. Wir hatten sie nicht einmal bevor Cale Industries konfisziert wurde. Wir sprechen hier in der Größenordnung von Hunderten von Millionen. Mit unseren jetzigen Mitteln werden wir nicht einmal das Informantennetz in dem Rahmen wie es jetzt existiert noch lange unterhalten können, geschweige denn es so ausbauen wie es dir vorschwebt. Wie es notwendig ist, wenn du ernsthaft versuchen willst einen unblutigen Umsturz zu orchestrieren."Logan stand abrupt auf und trat zum Fenster um in den frühmorgendlichen Nebel hinauszustarren. „Ich muß es einfach versuchen Bling. Ich muß. Ich weiß, dass das nicht dein Kampf ist und mein Respekt für dich wird nicht darunter leiden wenn du aussteigen willst, aber ich werde weitermachen. Verstehst du das?"Lange Zeit herrschte Schweigen bis Bling schließlich antwortete: „Ich verstehe dich Mann. Ich verstehe dich. Das ist zweifellos die dümmste Idee, seit der Erfindung der Bürokratie aber ich bin und bleibe an Bord."Logan drehte sich zu ihm um und lächelte zum ersten Mal seit der Rückkehr aus Wyoming ohne Bitterkeit. „Wir werden es schon schaffen. Irgendwie."Dann „Ich danke dir."Bling war sich nicht sicher ob der Dank angebracht war, was er umfasste ob er ihn haben wollte. Vor allem aber wusste er nicht wie er darauf antworten sollte. Letztendlich machte er nur ein nichtssagendes Geräusch und erhob sich. „Ich mach mich dann mal auf den Heimweg, mal sehen vielleicht finde ich sogar noch die Zeit mich ein bisschen aufs Ohr zu legen. Bis heute Nachmittag."Der Untergrundjournalist saß schon wieder vor seinen Bildschirmen. „Bis später."Vor der Tür wandte Bling sich noch einmal um. „Eins noch Logan."„Hmmm?"Der Trainer holte tief Luft. Er würde nichts lieber tun als diesen Teil des Gesprächs zu übergehen, aber es musste gesagt werden. „In deiner Wohnung waren noch ein paar von Max Sachen und ihr Motorrad stand in der Tiefgarage. Ich hab's vorerst mit den restlichen Sachen in der St.-George-Street eingelagert. Aber was sollen wir damit machen?" Stille. Der einzige Hinweis, dass sein Freund ihn gehört hatte, war die plötzliche Anspannung in seinen Schultern. Als sich Logan schließlich zu ihm umdrehte, war sein Gesicht so ausdruckslos wie das eines Pokerspielers. „Verschenk die Sachen. Es gibt genug Kinder da draußen, die sich nichts richtiges zum Anziehen leisten können. Das Motorrad lass erst mal dort wo es ist."Bling nickte, einen Augenblick lang schien es als wolle er noch etwas sagen. Dann drehte es sich aber nur um und schloß die Tür so vorsichtig hinter sich, als wäre sie aus feinstem Porzellan. Noch lange nach dem Bling im Morgennebel verschwunden war, saß Logan in der Stille des Lagerhauses und lauschte dem Murmeln des Wassers in den Regenrinnen des Lagerhauses.
Das graue Licht der aufgehenden Sonne sickerte schon durch den Nebel und erfüllte das Lagerhaus mit tiefschwarzen Schatten und Pfützen aus trüber Helligkeit, als er endlich zu seinem Handy griff und eine Nummer eintippte. Der Wählton war nur dreimal zu hören, bis sich eine weibliche Stimme mit einem knappen „Greyjoy" meldete. Logan musste unwillkürlich lächeln: Die vergangenen Jahre und das Knistern der Statik hatten ihre Stimme etwas rauer gemacht, aber sie klang immer noch beinahe so glockenhell wie er sie im Gedächtnis behalten hatte. „Hi Asha. Ich bin's, Logan..."
