Kapitel 3
Geschockt sah ich Kai an. „W-Was war das denn eben?", stotterte ich, und spürte, wie ich rot anlief. „Na, ich hab dich geküsst!", war die einzige Antwort von Kai. Bevor ich noch etwas sagen konnte nahm Kai mich fest in den Arm und ließ mich nicht mehr los. Mit der Zeit erwiderte ich diese Umarmung auch.
Um 20 Uhr gingen wir gemeinsam hinunter in die Küche, wo die anderen bereits mit dem Essen angefangen hatten. Alle machten ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und sahen mich mitleidig an. „Hey, jetzt hört auf so zu schauen! Passt mal auf, ich habe noch genau 8 Monate zu leben, und ich möchte mein Leben genießen! Darum helft mir bitte dabei, und tut so, als wäre nichts!"
Tyson gefiel diese Idee wohl überhaupt nicht, denn er sah mich bitterböse an. „Was würdest du denn tun, wenn einer von uns bald sterben müsste, und du wüsstest es?", entgegnete er genervt. Max legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte, er solle sich beruhigen.
„Nun ja, ich würde auf jeden Fall seine Wünsche respektieren, und mich in seiner Gegenwart nicht so verhalten, wie ihr es tut!", antwortete ich ihm schroff.
Tyson sagte nichts mehr, sondern sah betroffen zum Boden. Max, der wie immer versuchte, gute Laune zu verbreiten, wechselte geschickt das Thema, und wir sprachen nun nicht mehr über mich, sondern über die Blumen im Garten, die wegen Tysons Vergesslichkeit eingegangen waren. Kai beteiligte sich wie immer gar nicht am Gespräch und verließ auch als erster den Raum. Kenny beschäftigte sich mehr mit Dizzy als mit uns. Eigentlich war alles wie sonst auch. Außer dass ich Angst hatte, sehr große Angst sogar.
Als ich in mein Zimmer kam, saß, zu meiner großen Verwunderung, Kai auf dem Bett. Er hatte wohl die ganze Zeit auf mich gewartet. Ich merkte, dass er Tränen in den Augen hatte. „Ray, ich will dich nicht verlieren", begann er plötzlich zu sprechen.
Anstatt etwas zu sagen ging ich auf ihn zu und dieses Mal war ich derjenige, der ihn in den Arm nahm.
„So ist das Leben. Jeder Mensch muss irgendwann mal sterben", beruhigte ich ihn sanft.
„Ich weiß, Ray, ich weiß", Kai schien sich langsam wirklich zu beruhigen. „Selbst wenn ich sterbe, will ich, dass du dein Leben weiterlebst, denn aus Schmerz wird Trauer, und aus Trauer wird Erinnerung. Ich möchte, dass du mich in guter Erinnerung hast, ich möchte, dass du unsere gemeinsame Zeit in guter Erinnerung hast", für das, dass ich vorhin noch ziemlich viel Angst gehabt hatte, fühlte ich mich jetzt sehr erleichtert. Denn ich hatte Freunde, Freunde die mir beistehen würden, egal was geschah.
„Ich werde dich in guter Erinnerung behalten, Ray, das verspreche ich dir!", Kai fing sich langsam wieder und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Zwar gingen wir dann bald schlafen, doch ich konnte nicht einmal ruhig liegen bleiben. Kai lag die ganze Nacht neben mir und auch er schien nicht gerade besonders gut zu schlafen.
Am nächsten Morgen rief Tyson Mr. Dickenson an, und ich verständigte die White Tigers. Wir sagten es ihnen am Telefon, denn ich wollte nicht, dass sie her kamen.
Ich überlegte viel mehr, was mit meinen Sachen geschehen würde, wenn ich nicht mehr wäre. Das war es, ich musste ein Testament schreiben.
Verzweifelt durchsuchte ich die gelben Seiten nach einem guten Notar und rief dann einen an, von dem ich noch nie zuvor etwas gehört hatte. Am nächsten Tag könnte ich um 15 Uhr hinkommen, sagte mir die Sekretärin. Das tat ich dann schließlich auch, und wir besprachen alles genau.
Den White Tigers vermachte ich das Grundstück in Guiyang, das ich selbst einmal von meinem Großvater geerbt hatte. Den Bladebreakers vermachte ich meine Sparbücher und Konten. Und ganz speziell Kai, dem vermachte ich Driger.
Es dauerte ganze zwei Stunden, bis ich wieder zu Hause war. Ich legte das Testament auf meinen Schreibtisch, wo es nach meinem Tod sicher gefunden werden würde.
Ich hatte nicht mehr so große Angst vor dem Sterben, doch ich wollte nicht an den Folgen eines Gehirntumors sterben. Lieber wäre ich auf andere tragische Weise ums Leben gekommen. Doch im Endeffekt war es egal, ins Gras beißen musste ich so oder so.
Tyson, Max und Kenny waren an diesem Tag wohl bei Hilary, und Kai, na ja, Kai war ohnehin immer irgendwo anders.
Plötzlich begann es zu regnen. Es hatte ja vorhin schon ziemlich finster ausgeschaut, doch dass es so schnell so stark zu regnen beginnen würde, hätte ich mir nicht gedacht.
Noch dazu begann es zu blitzen und zu donnern. Das Gewitter war direkt über uns.
Plötzlich läutete das Telefon. Ich war fest der Überzeugung, dass es entweder Tyson oder Max waren, und da ich direkt beim Telefon stand, nahm ich auch gleich den Hörer ab. Dann ging alles ziemlich schnell. Ein Blitzschlag kam durch die Telefonleitung geschossen und 10.000 Volt durchfuhren meinen Körper. Da ich am Boden stand, konnte der Strom ungehindert fließen und bereits nach nicht einmal einer Sekunde fiel ich tot zu Boden. Glücklicherweise hatte ich nichts gespürt.
Kai war der erste der nach Hause kam. Als er Ray am Boden liegen sah, total zerzaust und verbrannt, hielt er geschockt inne und starrte auf den Toten.
Erst nach ein paar Minuten machte er ein paar Schritte in Richtung Leiche. Wie in Trance griff er sich mit einer Hand auf den Mund und die andere streckte er Ray langsam entgegen. Er konnte Ray nicht berühren, er wollte nicht glauben dass das überhaupt Ray war. Dann sah er das Telefon auf dem Boden liegen und hörte den Donner draußen grollen. Panisch stand er auf und verließ fluchtartig das Haus. Er lief zur nächsten Telefonzelle und rief die Polizei an. Nachdem er das getan hatte, rannte er zurück zu Ray.
Erst jetzt wurde ihm Stück für Stück klar, was geschehen war. Ray lag da, mit aufgerissenen Augen in der Boxerstellung. Er war nicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Kai begann plötzlich, leise Rays Namen zu rufen. Mit der Zeit wurde er immer lauter und schrie dann sogar. „Hey Kon, wieso tust du mir das an? Kon, Kon!"
Die Polizei war schnell da und ein Polizist brachte Kai, dem schon die Tränen über die Wangen liefen, weg von Ray.
Man setzte Kai in ein Polizeiauto, da man wollte, dass er zur Identifizierung mit aufs Präsidium kam. Kai ließ alles mit sich machen, er war völlig machtlos. Immer sah er Rays Bild vor Augen, wie sein entstellter Körper leblos auf dem Boden lag.
Es hatte doch acht Monate geheißen, wir hatten nicht einmal mehr eine Woche, dachte Kai immer wieder.
Im Polizeipräsidium verständigte man Max, Tyson und Kenny, die sofort kamen. Auch Hilary kam mit. Als sie dort erfuhren, was geschehen war, fingen alle an bitterlich zu weinen. Tyson brüllte herum, dass es unfair wäre, Max setzte sich hin und weinte und schluchzte fürchterlich, Hilary tat das gleiche wie Max und Kenny sah betroffen zu Boden und auch er konnte einige Tränen nicht unterdrücken. Alle vier erkannten Ray eindeutig wieder, und alle vier waren fürchterlich geschockt.
Kai saß alleine in einer Ecke und keine einzige Träne rann mehr über seine Wange.
Er saß einfach nur da und starrte ins Leere, und während er vor sich hinstarrte, verfluchte er Gott.
To be continued
