Langsam schlenderte er die langen kalt wirkenden Gänge entlang – ein wirkliches Ziel hatte er nicht. Eigentlich war es Wahnsinn, noch ein ganzes Jahr in dieser jetzt so geisterhaften Schule zu verbringen. Die Wände waren kahler, die Ecken dunkler. Nicht einmal Dumbledores Programm würde daran viel ändern können.
Draco fröstelte. Schon sah er wieder die ersten Bilder der Gefallenen vor sich. Er atmete tief durch und versuchte, sich auf etwas vollkommen Anderes zu konzentrieren. Ihn würden sie nicht heimsuchen, nicht ihn, der schon so viel gesehen hatte. Sollten sie sich jemanden Schwächeres suchen. Doch die Geister hörten nicht auf ihn. Er seufzte, ließ seinen Gedanken freien Lauf und horchte in die Stille des Schlosses hinein.
Seine Füße trugen ihn langsam aber bestimmt in Richtung des Astronomieturms. Er erklomm die Leiter und stellte sich an die Brüstung. Lange sah er ins Dunkel hinab. Die Stimmen der Schüler fehlten ihm. Er konnte es selbst kaum glauben, aber auch das schrillste Quietschen eines der Mädchen, das sich verzweifelt dagegen wehrte, ins Wasser gestoßen zu werden, hätte ihn jetzt gefreut. Doch der Schulgarten blieb still und leer.
Er lehnte sich noch etwas weiter vor, bis er den harten Stein spüren konnte. Er stellte sich vor, hinabzurasen, aufzuschlagen, zu vergessen. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Rasch machte er einen großen Satz zurück und verschwamm mit dem Schatten, den eine der kunstvollen Säulen warf.
Aus den Schritten wurde ein leises Tapsen und Draco konnte die undeutlichen Umrisse einer kleinen zierlichen Gestalt erkennen, die ebenfalls zur Brüstung schlurfte. Draco kniff die Augen zusammen und konnte gegen das Licht der Sterne einen Schwall roter Haare und eine viel zu große, dunkle Robe erkennen.
Seine vage Vermutung bestätigte sich, als die Gestalt ihr Gesicht hob und gen Himmel blickte. Fahles Mondlicht fiel auf ihr Gesicht und Draco erblickte die Züge der kleinen Weasley, die mit ausdruckslosen Augen, aus denen Tränen liefen, die sie selbst nicht zu bemerken schien, in die Finsternis starrte.
Auch sie hatte gelitten. Ron bildete neben ihrer Mutter und ihrem Bruder Fred den kläglichen Rest der Weasleys. Und es schien, als würden sie auch Fred verlieren, der ohne seinen Zwilling immer in sich zurückgezogener und ungewöhnlich still wurde. Draco hatte sich schon öfter über das enge Verhältnis der Unruhestifter gewundert, jetzt sollte sich herausstellen, wie eng es wirklich war.
Draco blieb im Schutz der Säule und beobachtete, wie Ginny gegen den Stein sackte, offensichtlich gaben ihre Beine endgültig ihrem Gewicht nach, und ihr Kopf auf die Schulter fiel.
Sie spielte nervös mit ihrem Zauberstab und Draco konnte nur ahnen, welche Erinnerungen und Gedanken sie in diesem Moment plagten. Sie war dabei gewesen, als ihr Vater starb und ihre Brüder – in dem Versuch ihn zu retten. Als sie so dasaß, bemerkte Draco das erste Mal, wie groß ihre Robe wirklich war, sie schien mindestens dreimal hinein zu passen.
Ungläubig schüttelte er den Kopf, jemand sollte sie zwingen wieder etwas mehr zu essen. Doch wer? Ron war damit beschäftigt, sich selbst und Granger über Wasser zu halten, Fred hatte sein Zimmer seit Tagen nicht verlassen. Und ihre Mutter war weit, weit weg. Man hörte die Schülerschaft munkeln, sie wäre in St.Mungos, wo sie versuchte, über ihre Verluste hinwegzukommen.
Er lehnte sich zurück und seufzte unhörbar. Mit einer routinierten Bewegung strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Warum interessierte ihn das Schicksal der Kleinen eigentlich?
Vielleicht weil es dem seinen so ähnlich war?
Oder hatte er tatsächlich jemanden gefunden, dem es noch schlechter ging, als ihm selbst?
Draco sah an sich herab. Auch er könnte mal wieder eine ordentliche Mahlzeit vertragen. Er fasste einen raschen Entschluss, trat aus dem Schatten und auf die zusammengesunkene Gestalt zu.
Er verdrängte die kleine zynische Stimme in seinem Hinterkopf die ihm Wir werden wohl weich auf unsere alten Tage. zuflüsterte, setzte sein bewährtes Grinsen auf und näherte sich Ginny vorsichtig. Diese schien seine Anwesenheit noch immer nicht wahrzunehmen, so sehr vereinnahmten sie ihre Gedanken.
„Hey, Weasley.", setzte er an.
Müde hob sie den Kopf und schien nur langsam wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Als sie sich bewusst wurde, wer da vor ihr aufragte, zog sie instinktiv die Beine an ihren Körper heran und umschlang diese mit ihren Armen.
„Was willst du, Malfoy?", fragte sie leise,
„Ich bin heute wirklich nicht in der Stimmung für ein paar deiner einfallsreichen Kommentare."In ihrer Stimme lag eine unerwartete Schärfe, auch wenn sie klang, als hätte sie wochenlang kein Auge mehr zugetan. Draco machte einen Schritt zurück und hob abwehrend die Arme.
„Möchtest du dich an meinem Unglück ergötzen? Bitte, tritt ruhig näher.", fuhrt sie fort, während sich ihre Hände unwillkürlich zu Fäusten ballten.
„Heute gibt es ein Sonderangebot. Unglückliche, zerrissene Familie, das Kilo nur sieben Sickel."
Inzwischen fauchte sie beinahe und ihr Körper spannte sich, als sei sie bereit jeden Moment aufzuspringen. Draco wich noch weiter zurück. Mit dieser Heftigkeit hatte er nicht gerechnet. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch bevor er seinen Satz auch nur beginnen konnte, schnitt Ginny ihm das Wort ab.
„Und falls du noch erwähnen möchtest, wie sehr dein geehrter Vater dazu beigetragen hat, bitte sehr. Oder, dass ich nur noch kurz zu warten brauche, um einen weiteren Bruder zu verlieren. Oder hattest du vielleicht vor, ein paar Witzchen über meine Mutter zu reißen, die in St.Mungos liegt?"
Sie sprang auf, zitternd vor Wut. „Weas-"war alles, was Draco noch stammeln konnte, bevor sie sich auf ihn warf und auf ihn einzuschlagen begann. Von ihrem Gewicht aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte Draco ein paar Schritte zurück.
Schließlich wurde sein Rückzug abrupt von einer der Steinsäulen gestoppt, mit der sein Hinterkopf schmerzhafte Bekanntschaft schloss. Er stöhnte leise auf und schloss kurz die Augen. Das hatte mehr weh getan als die halbherzigen Schläge, die auf seine Brust prasselten. Trotzdem war es Zeit dem ein Ende zu bereiten.
„Weasley.", setzte er noch einmal an, doch sie schien in einer anderen Welt, weit weit weg von ihm. Aus ihren Augen rannen Tränen und ihre Wangen waren von der ungewohnten Anstrengung gerötet. Er hob eine Braue und versuchte es noch einmal. Diesmal sanfter.
„Ginny?"Doch auch diesmal zeigte sie keinerlei Anzeichen, ihn überhaupt wahrgenommen zu haben. Falls er nicht warten wollte, bis sie vor Erschöpfung umfiel und er unzählige blaue Flecken heilen musste, würde er sich etwas einfallen lassen müssen.
Er ahmte den Tonfall ihrer Mutter, wie er ihn schon zu oft in den Heulern, die sie ihren Söhnen regelmäßig zukommen ließ, gehört hatte, so gut es ging nach und rief streng:
„Ginevra Weasley! Was glaubst du eigentlich, was du da tust?"
Das wirkte. Schlagartig ließ sie von ihm ab, blickte verwirrt von ihm auf ihre roten Fäuste und schüttelte leicht den Kopf. Sie taumelte rasch ein paar Schritte zurück und wischte sich trotzig mit dem Ärmel ihrer Robe über ihre rotgeweinten Augen.
Draco folgte ihr und legte seine rechte Hand so sanft wie möglich auf ihre Schulter. Er atmete erleichtert auf, als er sah, dass sie wieder bei Sinnen zu sein schien und sagte langsam:
„Was ich eigentlich ursprünglich sagen wollte. Du siehst aus, als könntest du eine warme Mahlzeit und einen Tee gebrauchen? Was hältst du davon?"
Ob der Vorsicht und Sanftheit seiner Stimme sah sie verwundert zu ihm auf und nickte nur langsam. Resigniert und entwaffnet ließ sie sich schließlich von ihm zur Leiter und, an den anderen Schülern vorbei, in die Küche bugsieren.
