Kapitel 10: Am Tag danach/ Klärungsbedarf
Es war weit, weit nach Mitternacht, als sie vollkommen erschöpft ins Bett fiel. Unruhig rotierte sie bis in die frühen Morgenstunden, bis sie einschlief. Im Traum begegneten ihr wieder das Blut, das Geschrei und die grausamen Bilder der letzten Nacht. Als sie gegen viertel nach sechs von selber aufwachte beschloss sie aufzustehen und ging erstmal eine Runde mit ihrem Hund um den Block, bevor sie ihn um kurz vor sieben bei ihren Eltern unterbrachte, die nur zwei Straßen von ihr entfernt wohnten. Dann stieg sie unter die Dusche und ging zu ihrem Kleiderschrank. Nach kurzem überlegen entschied sie sich für einen dunkelblauen Hosenanzug und eine dunkelblau-weiß gestreifte Bluse. Sie war gerade dabei ihre Kleidung vom Vorabend in die Waschmaschine zu packen, weil diese zum Teil mit Alishia Colemans Blut benetzt war, als ihr Telefon klingelte.
„Stephanie Bremer."
„Guten Morgen!"
„Hey Yelina! Wie geht es dir?"
„Gut soweit und selber?"
„Ja, hab wenig geschlafen, die letzten Nächte, aber sonst geht's mir gut, ja."
„Hör zu, der Grund warum ich schon so früh anrufe ist, dass Ray jr. heute schulfrei hat und wir Horatio nachher sein Mittagessen vorbei bringen wollen und da wollte ich dich fragen ob wir zwei dich besuchen kommen können?"
„Super, sehr gerne. Wann seid ihr da?"
„In eurer Mittagspause so gegen eins, halb zwei."
„Großartig! Ich freu mich!"
„Wir uns auch. Also bis nachher!"
„Yelina, eins noch!"
„Ja?"
„Weiß Horatio bescheid?"
„Du meinst über dich, Ray und George?"
„Ja."
„Ich glaube nicht, wenn du es ihm nicht gesagt hast."
„Okay, gut dann hat er wahrscheinlich keine Ahnung, naja, macht erstmal nichts, ist vielleicht besser so."
„Ja, vielleicht vorerst! Ich denke er sollte es erfahren. Hat er dich noch nie nach deinem Familienstand gefragt?"
„Nein, er hatte dazu noch keinen Grund, er weiß nur, dass ich nen Hund hab..."
„Gut, wir werden es später klären, okay?"
„Gern."
„Okay, also, bis später!"
„Bis dann ciao!"
„Guten Morgen, Horatio!"
„Guten Morgen, Anie, wie geht's deinem Kopf?"
„Der Verletzung? Besser danke. Wie geht es unserem Täter? Weiß er es schon?"
„Ja, ich habe es ihm gerade mit Hagen zusammen gesagt."
„Und?"
„Danach musste ich das Verhör beenden, er ist heulend zusammengebrochen."
„Ne, echt jetzt? Ist ja ´n Ding!"
„Tja und er hat gestanden!"
„Aha, dann können wir ihn jetzt a die Staatsanwaltschaft übermitteln?"
„Richtig, der Fall ist fast abgeschlossen, jetzt müssen wir nur noch die Berichte schreiben."
„Gut, da werde ich mich mal dran begeben. Was ist mit Alishias und Pats Eltern?"
Er senkte seinen Blick.
„Du oder ich?", fragte Anie, die wusste was diese Bewegung bedeutete.
„Kannst du das bitte übernehmen, ich hab noch einen Termin bei Cook."
„Wann?"
„In einer Minute. Beide Elternpaare sind auf dem Weg hierher."
„Okay, hau schon ab."
Familie Coleman den Tod und den Abschiedsbrief ihrer Tochter zu übermitteln, in welchem sie nochmals ein Geständnis ablegte in Pat Ryans Tod verwickelt gewesen zu sein, kostete die Ermittlerin, auch wenn sie dies garantiert nicht zum ersten Mal machte, einiges an Kraft. Auch das Gespräch mit den Eltern des Opfers verlangte von ihr einige an rhetorischem Geschick. Bis die Angehörigen beider Mädchen schließlich alle Formulare, unter anderem für die spätere Überführung der Leichen, unterschreiben und sich bei Anie und dem Team für die schnelle Abwicklung des Falles bedankt hatten, waren drei Stunden vergangen und es war viertel vor elf.
„Horatio, kommen sie doch bitte herein. Setzen sie sich."
„Danke Mr. Cook, sie wollten mich sprechen?"
„Ja, das wollte ich in der Tat, zum einen um ihnen zunächst zur brillanten Lösung des ersten Falles mit Stephanie zu gratulieren."
„Herzlichen Dank."
Zum anderen wollte ich ihnen die Situation Ms. Bremers noch einmal erklären und ihnen erläutern, warum sie nichts davon wussten."
„Das letzte ist die einzige Frage, die für mich noch offen ist, ich kenne die vorherigen Umstände, im Zusammenhang mit dem Führungswechsel in ihrem SWAT-Team."
„Okay, das ist gut. Der Grund dafür, dass sie es nicht erfahren haben ist ganz ehrlich gesagt nur der, dass ich es selber verschlafen habe. Ich hatte im Kopf, dass sie erst zum ersten Oktober und nicht zum ersten September dem Team beitritt. Ich dachte also, ich hätte noch Zeit es ihnen zu sagen."
Ungläubig zog Horatio eine Augenbraue hoch.
„Und wann hätten sie es mir gesagt?"
„Im Rahmen der großen Konferenz nächste Woche denke ich."
„Okay, ja, gut, dann weiß ich ja jetzt bescheid."
„Ja, das wäre es auch schon."
„Okay, dann geh ich mal wieder an die Arbeit"
„Tun sie das, viel Erfolg."
Dafür hatte ihn Cook dringend sprechen wollen?
Er schüttelte den Kopf und machte sich daran die Berichte des Falles zu schreiben. Er schaute immer wieder rüber in Richtung Anies Büro, doch sie war immer noch dabei die Angelegenheiten mit den Eltern der Opfer zu regeln. Er war gerade völlig in der Arbeit vertieft, als er um kurz vor elf wieder einen flüchtigen Blick zu ihrem Büro warf und sah das sie wieder da war.
Es war nicht schwer zu erkennen, dass es ihr ganz schön nah gegangen war den Eltern Alishias ihren Tod mitzuteilen. Sie wirkte etwas blass, ernster und ruhiger als an den vorherigen Tagen. Er sah wie sie einige Fotos hochhielt um diese genauer zu betrachten, es schienen Fotos vom Tatort der letzten Nacht zu sein, danach lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und führ sich, während sie merkbar ausatmete, mit beiden Händen über den Kopf. Schließlich schob sie die Fotos zu den anderen in einer Klarsichtfolie und heftete diese in eine Akte, dann stand sie auf, ging zu ihrem Drucker, besah die ausgedruckten Blätter, lochte diese und heftete sie zu den Fotos. Nun kam sie zu Horatio herüber um ihm die Akte herüber zu bringen, dieser erwischte sich schon wieder beim Starren und tat als Anie in sein Büro kam unheimlich beschäftigt. Sie hatte es natürlich bemerkt und das wusste er selber, doch sie sprach das Thema nicht an, als sie den Raum betrat.
„Hey."
„Na du.", er tat so als schrecke er ein wenig von Bildschirm seines PCs auf.
„Ich bin mit meinem Teil des Berichtes fertig.", sie legte die Akte auf seinen Tisch. „Bitte sehr."
„Herzlichen Dank, ähm ist bei dir alles okay, du wirkst etwas angespannt."
„Ach geht schon, ich muss ich erst wieder an die Rolle des Unglücksbringers gewöhnen."
„Passt aber auch so gar nicht zu dir."
„Danke." Sie grinste ihn an. „So, dann werde ich mich mal bei den anderen nach ihren Berichten erkundigen und mit Calleigh die Analyse des Gewehres mit dem sich Alishia erschossen hat besprechen, bis später!"
„Okay, viel Erfolg. Bis dann."
„Hey Cal! Hast du was für mich?"
„Jo, mein Bericht ist fertig."Sie gab Stephanie den Ordner in die Hand. „Es handelt sich bei dem Gewehr, mit welchem sich Alishia erschossen hat, um dasselbe, mit welchem Pat erschossen wurde. Es ist auf Benjamin Moore eingetragen."
„Großartig, dann haben wir den Fall endgültig gelöst, gute Arbeit, Calleigh."
„Danke. Was machst du heute Abend, ich hab nämlich Zeit!"
„Wenn kein neuer Fall reinkommt denke ich könnte es klappen."
„Hey, super, ich habe da noch so ein paar Fragen an dich."
„Wieso das?"
„Hagen hat gesagt er kennt dich von früher."
„Ja, wir kennen uns seit ca. dreieinhalb Jahren, wieso wirft das so viele Fragen in dir auf?"
„Dann kanntest du doch sicher auch Raymond Caine, oder?"
Stephanie senke den Kopf.
„Ähm, ja, ja Raymond kannte ich auch..."
„Was ist los."
„Erzähl ich dir heute Abend, okay?"
„Ja, ist okay, ich ruf dich an, wenn ich fertig bin, okay?"
„Ist in Ordnung, bis nachher."
Als Stephanie das Büro verließ schaute Calleigh ihr hinterher. Warum hatte Stephanie auf die Frage nach Raymond, Horatios Bruder nur so merkwürdig reagiert? Sie war fest entschlossen das am Abend herauszufinden.
Anie hatte gerade die restlichen Unterlagen zu H herüber gebracht und war dabei weitere Bücher über eines ihres Spezialgebiete, die Audioanalyse, einzuordnen, da ihr Büro immer noch nicht komplett eingerichtet war, als sie einen Blick auf ihre Uhr warf und feststellte, dass sie bereits seit 20 Minuten Mittagspause hatte. Sie ging herüber zu Horatio, der auch noch im Büro saß.
„Hey, H! Ich wollte mir gerade einen Kaffee holen gehen, möchtest du auch einen?"
„Warte, ich komme mit, bin sofort fertig."Er setzte eine letzte Unterschrift unter den Bericht des Falles Patricia Ryan und sagte: „Der Fall ist für uns vorerst beendet. Der Staatsanwalt hat gesagt, dass der Fall Mitte des Monats vor Gericht kommt. Dann wird es für uns wieder interessant."
„Das ging schnell."
„Okay, lass uns gehen."Er stand auf und verließ zusammen mit Stephanie sein Büro.
„Guck mal, Mama, da ist sie! Anie! Anie!"
Er riss sich von der Hand seiner Mutter los und stürmte den Flur entlang, auf welchem sich Stephanie und sein Onkel näherten.
„Ray!" Sie hockte sich hin und der acht-jährige fiel ihr um den Hals. „Lass dich anschauen.", sie strich ihm über den Kopf, „Wow, du bist aber groß geworden! Ein richtiger Gentleman."
Sie stand wieder auf um Yelina zu begrüßen, die mittlerweile zu ihnen gestoßen war.
„Hey du!"
„Hi, Anie!"Sie umarmten sich. „Wow, du siehst ja gut aus."
„Dankeschön, das Kompliment kann ich nur zurückgeben!"
„Wie waren deine ersten Arbeitstage."
„Gut, gut, den ersten Fall habe ich zusammen mit deinem Schwager erfolgreich abgeschlossen."
„Und, ist er ein guter Chef?"
Anie grinste.
„Er ist ja nicht wirklich mein Chef, aber er ist gnädig!"
„Könnte mir vielleicht irgendjemand von euch mal sagen, was hier los ist?", Horatio schaltete sich vollkommen verwirrt in das Gespräch ein.
„Ja, sicher. Also, hier ist erstmal dein Mittagessen."Yelina reichte ihm eine Lunchbox.
„Danke."
„Anie! Zeigst du uns dein Büro?", Ray zupfte an ihrem Ärmel.
„Sicher, kommt doch mit, ich bin mit dem Einrichten noch nicht ganz fertig."
„Hallo? Ich habe euch was gefragt.", drängelte H.
„Ja, komm mit, wir müssen das ja nicht so zwischen Tür und Angel klären.", sagte Yelina und ging hinter Anie und ihrem Sohn hinterher.
„Hübsch hast du es hier, so geräumig."
„Danke, Yel, ich bin, wie gesagt, noch nicht ganz mit dem Einräumen fertig. Muss ich irgendwann in einer Mittagspause mal machen."
„Guck mal, Mum! Hier ist ein Bild von Zack.", Ray deutete auf ein Bild auf Anies Schreibtisch, welches ihren Jack Russell zeigte. „Wie alt ist er jetzt?"
„Hmm, lass mich mal überlegen. Drei, denke ich."
„Stimmt, hat dein Papa ihn dir nicht zur Verlobung geschenkt?"
„Ray, was hab ich dir gesagt?", Yelina tadelte ihren Sohn, der beschämt zu Boden sah.
„Ist schon okay."Anie ging zu ihrem Schreibtisch und nahm das Gruppenfoto hoch, auf welches H schon an ihrem ersten Tag angesprochen hatte. „Ja, das hat er."
Fragen rasten durch seinen Kopf. Okay, die erste hatten sie ihm beantwortet: Stephanie kannte Raymond, weil sie mit ihrem SWAT-Team oft die Festnahmen unterstützt hat, welche dieser durch seine Undercoverermittlungen bewirkt hatte und sich mit ihm und seiner Familie
angefreundet hat.
Doch nun ergaben sich tausend neue. War sie verlobt, verheiratet, geschieden, oder was?
Warum hatte sie so merkwürdig reagiert als Ray jr. sie auf die Verlobung angesprochen hatte? Und warum verdammt ließ es ihn selber so überhaupt nicht kalt?
Nachdem sie Yelina und Ray mit dem Versprechen an die Pforte gebracht hatte, sich für den Besuch bald zu revanchieren ging sie zurück ins Büro und arbeitete, bis um ca. 18.30 Uhr ihr Handy klingelte.
„Bremer... Hey Calleigh! ... Mit wem? Lass mich raten, John Hagen ... och komm schon ... jaja, dann werde ich heute Abend ja früh ins Bett kommen ... Kommt gar nicht in Frage, ich werde nicht mitkommen ... einen schönen Abend wünsche ich dir! ... Bye!"
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