III. Dunkle Lektionen

Tunara keuchte. Immer wieder entzog sich der Raubvogel ihrer Kontrolle. Sie kämpfte darum, die Oberhand zu behalten. Doch plötzlich schüttelte das Tier ihren mentalen Bann gerade lange genug ab, um mit einem spitzen Schrei davonfliegen zu können. Tunara würgte. Das Kräftemessen hatte ihr alles abverlangt.

Kaya baute sich vor ihr auf. „Verdammt nochmal, Tunara! Was war denn das? Streng dich gefälligst ein bißchen an!"

Hilflos versuchte die andere sich zu verteidigen. „Ich kann das nicht, Kaya. Es ist zu schwer. Da ist ein innerer Widerstand in mir, den ich nicht brechen kann. Ich kann einem anderen Wesen meinen Willen nicht einfach brutal aufzwingen."

„Ach, und wie willst du dich verteidigen, wenn du angegriffen wirst? Nicht nur von einem kleinen Vogel, sondern von den Clanhexen? Wie hast du dir vorgestellt zu überleben, wenn du nicht lernst zu kämpfen?"

Tunara schüttelte betrübt den Kopf. „Es tut mir leid. Du hast natürlich recht, aber ich schaffe das einfach nicht."

Kayas Augen blitzten. „Dann solltest du alles tun, um es zu lernen. Sieh' dir die Natur an! Nur die Starken überleben. Du hast es gut, weißt du? Du hast die Möglichkeit, unter unseren Schutz deine Stärke zu trainieren. Aber langsam mache ich mir Sorgen. Du hast genug Talent, um eine echte Hexe zu werden, aber du scheiterst immer wieder an den leichtesten Übungen.

Wenn du merkst, daß du nicht vorwärts kommst, dann mußt du dich eben mehr anstrengen. Noch mehr trainieren, noch härter zu dir selbst werden! Wir können dich nicht ewig vor allem schützen. Du mußt lernen, allein zurecht zu kommen."

Dann erstarb die Wut in ihrem Blick und sie fügte mit müder Stimme hinzu: „Geh jetzt! Es ist vorerst genug. Wir machen heute Nachmittag weiter."

Tunara ging erschöpft davon.

„Was ist los?"erklang eine Stimme. Erschreckt wich Kaya zurück. Sie hatte nicht bemerkt, daß Gethzerion hinter sie getreten war.

„Ach, es ist nur so lächerlich. Sie kann nicht mal einen Vogel töten. Dabei weiß ich genau, daß sie genug Kraft dafür hat."

Gethzerions Stimme klang schneidend. „Ich habe es dir von Anfang an gesagt. Dieses ewige Geschmeichel nutzt niemandem. Du mußt ihre Wut, ihren Haß schüren. Nur dadurch wird sie stärker werden."

Dann blickte die dunkle Führerin versonnen vor sich hin. „Wenn du sie in zwei Tagen nicht dazu bringst, daß sie eine echte Nachtschwester wird, werden wir sie töten."

Kaya blinzelte verwirrt. „Warum denn das? Wir haben doch genug Zeit!"

„Nein, die haben wir nicht! Ich habe beschlossen, daß wir in zwei Tagen den Clan des singenden Berges angreifen werden. Die Hexen veranstalten eine große Jagd. Wir werden sie erledigen, wenn sie es am wenigsten erwarten."

„Aber wir werden nicht die Burg stürmen?"

„Ich bin nicht dumm. Die Burg ist zu gut geschützt, bedenke ihre Lage. Nein, wir werden sie in den Savannen vernichten. So stark dezimiert wird ihr Clan bald nicht mehr in der Lage sein, sich zu verteidigen. Und bis zu diesem Zeitpunkt werden wir stark genug sein."

Ein triumphierendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das es jedoch nur noch schrecklicher aussehen ließ.

„Und Tunara?"

„Nun, wie ich schon sagte, wenn sie bis dahin keine von uns ist, wird sie beseitigt."

„Und wenn sie es ist?"

„Aah, dann sieht die Lage anders aus. Es wäre von großem Nutzen für uns, wenn sie an dem Angriff teilnehmen könnte. Die Hexen haben sie noch nie als Nachtschwester gesehen. In ihrer Erinnerung ist sie noch eine von ihnen. Und ich weiß, daß Augwynne sie mag. Tunara wäre eine großartige Waffe in unseren Händen!"

Kaya nickte beklommen. „Ich werde mein Möglichstes tun."

Gethzerion sah sie kalt an und flüsterte: „Du wirst mehr als das tun! Ich rechne zwar mit deinem Versagen, aber das heißt nicht, daß ich es billigen werde."

Kaya biß sich auf die Lippen und wandte sich furchterfüllt ab.

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Tunara ließ sich schwer atmend auf ihre Liege sinken. Sie fühlte so verwirrt.

„Was ist nur los mit mir?"fragte sie sich.

Die ersten zwei Tage hatte ihr das Leben im alten Gefängnis wirklich Spaß gemacht. Kaya hatte sie herumgeführt und sie hatten viel miteinander geredet. Tunara hatte von ihrer Kindheit beim Clan erzählt und ihre Schwester davon, wie sie bei den Nachtschwestern aufgewachsen war.

Dann hatte Kaya den Vorschlag gemacht, Tunara zu unterrichten. Zuerst war Tunara wenig begeistert gewesen, aber sie hatte schnell eingesehen, daß sie dabei viel würde lernen können. So hatten sie mit dem Training begonnen.

Die ersten Übungen waren Tunara sehr leicht gefallen, aber nach ein paar Tagen verlangte Kaya Dinge von ihr, die sie unmöglich leisten konnte, geschweige denn wollte. Das beunruhigende Gefühl war wieder aufgetaucht und jetzt stärker denn je.

„Das Verwirrende ist nur, daß alles, was Kaya sagt, mir so unglaublich logisch und sinnvoll erscheint."

Tunara starrte zur Zimmerdecke hinauf. Noch immer empfand sie es als ungewohnt, künstliche Mauern um sich zu haben. Beim Clan waren nahezu alle Mauern aus Stein. Die Festung war in den Fels des singenden Berges gebaut. Und die Hütten im Dorf bestanden ebenfalls aus natürlichem Material.

Es verblüffte Tunara, wie wenig die Natur Einfluß auf das Leben der Nachtschwestern zu haben schien. Nun, wie auch immer, die Frage war, ob Tunara ihre Grenze erreicht hatte, oder ob sie in der Lage war, eine echte Hexe zu werden. Manchmal glaubte sie, daß sie es bestimmt schaffen würde, und ein anderes Mal, hatte sie das Gefühl, sie würde einen schwebenden Geist jagen, der immer in Sicht- aber gerade außer Reichweite blieb.

Und dann war da Kaya. Liebenswürdig und zuvorkommend einerseits, unnachgiebig und streng andererseits. Es war wundervoll, endlich eine Schwester zu haben und in Tunaras Träumen tauchte ab und an das Bild auf, das sie sich damals am Lagerfeuer vorgestellt hatte:

Sie und Kaya liefen Seite an Seite über die Grassavannen und jagten gemeinsam.

Es war nur so, daß Tunara immer wieder das Gefühl überkam, daß das Mädchen aus ihrem Traum nicht die wirkliche Kaya war. Wenn sie manchmal ihre Zwillingsschwester ansah, dann fiel es schwer zu glauben, daß sie jemals die Zeit für eine friedliche Jagd würden finden können.

Es klopfte an die Tür.

„Tunara?" erklang eine Stimme. „Bist du da?"

Tunara seufzte. Das war die zweite Sache. Man ließ ihr kaum Zeit zum Nachdenken. Sie fand nie eine Gelegenheit, ihren Gedanken nachzuhängen, sie zu ordnen oder neu zu überdenken. Abends fiel sie todmüde in ihr Bett und schlief wie betäubt bis zum Sonnenaufgang und den Tag über ließen die Hexen sie kaum jemals allein.

Offenbar war der Tagesablauf hier doch wesentlich strenger organisiert, als es manchmal den Anschein hatte. Sie setzte sich auf.

„Ich komme schon, Kaya!"

Ihre Schwester stand wartend auf dem Gang. „Ich dachte, wir könnten einen kleinen Ausflug machen. Es würde dir gut tun, auf andere Gedanken zu kommen."

„Und wohin wollen wir gehen?"

„Laß' dich überraschen!"

In Tunaras Augen glomm Begeisterung auf. Vielleicht würde das einer der Momente werden, die sie sich erträumt hatte.

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Kaya machte eine ausholende Handbewegung und sah Tunara erwartungsvoll an.

„Und? Ist es nicht wunderschön hier?"

Tunara blickte sich zweifelnd um. Kaya hatte sie zum Rand einer Sandgrube geführt. Offenbar hatte das Imperium hier früher Bergbau betrieben.

„Was ist das für eine Grube?"

„Die haben die Imperialen ausgehoben."

Tunara nickte, sie hatte also Recht gehabt.

„Sie wollten hier Sandstein fördern, um daraus neue Bausubstanz für die Anlage zu gewinnen. Es hat aber nicht geklappt. Da haben sie die Grube einfach aufgegeben. Ich gehe hier öfter hin, wenn ich meine Ruhe haben will."

„Ja, das kenne ich. Ich hatte beim Clan auch so einen Ort. Das war ein Baum am Fluß. Seine Zweige hingen bis auf den Boden. Das war wie ein Vorhang zu einer anderen Welt. Wenn ich hindurch getreten bin, dann befand ich mich mitten in einer grünen Höhle. Alle Sorgen waren ausgesperrt und vergessen."

Kaya setzte sich auf einen kleinen Felsbrocken. „Was für ein treffender Symbolismus."

„Warum? Wie meinst du das?"

„Nun, denk' doch nach! Genauso war dein ganzes Leben beim Clan. Und nicht nur deines. Die Hexen der Clans verkriechen sich in eine Scheinwelt, kapseln sich von der Realität ab. Aber irgendwann wird jemand den Baum fällen müssen, weil zu alt und morsch geworden ist. Und was wird dann aus ihnen werden? Weißt du, früher oder später werden sie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden."

Tunara blickte nachdenklich vor sich hin. Konnte das wahr sein? War ihr gesamtes Leben bisher nur eine Illusion gewesen?

„Zum Glück habe ich dich gefunden", bemerkte Kaya jetzt. „Du hattest bereits angefangen die Wahrheit zu erkennen. Jetzt hast du bei uns die Möglichkeit, alles über die wahre Welt zu lernen. Du mußt sehr froh darüber sein, was?"

„Es geht. Manchmal glaube ich, daß ich unter all dem Neuen noch zusammenbrechen werde."

„Nein, das wirst du nicht. Du bist stark genug für die Realität, Tunara. Das weiß ich!"

„Danke."

„Weißt du, manchmal hasse ich die Clans."

Tunara sah ihre Schwester interessiert an.

Diese fuhr fort. „Wegen all diesem Unglück und Leid, das ihre Blindheit verursacht."

„Also, ich bin mir nicht sicher, ob..."

„Denk' nur an uns! Wie anders hätte alles werden können, wenn man uns nicht getrennt hätte. Wir wären gemeinsam aufgewachsen, hätten zusammen gespielt. Und selbst jetzt, wo wir zusammen sind. Haben wir die Muße, alles nachzuholen, was wir versäumt haben? Nein! Ihr ewiger Haß, ihre ewige Weigerung den Dingen ins Auge zu sehen, macht uns zu Gejagten. Das Leben ist voller Gefahren und Kämpfe. Geht es dir nicht auch manchmal so, daß du sie dafür hassen könntest?"

Tunara dachte an weite Savannen und eine ausgelassene Jagd.

„Ja", sagte schließlich leise. „Wenn ich darüber nachdenke, ja, manchmal schon."

„Du hast natürlich auch viel mehr Gründe sie zu hassen, als ich. Deine Verbannung, die ungerechte Behandlung, die du ertragen mußtest. Ich muß sagen, ich bewundere deine Stärke mit der du das alles hingenommen und gemeistert hast."

„Ist das dein Ernst?"

„Ja, sicher! Es muß hart sein, wenn man plötzlich niemanden mehr hat. Ich bin für die Clanhexen zwar auch so etwas, wie eine Verstoßene, aber ich gehörte dafür zur Gemeinschaft der Nachtschwestern."

„Nun ja, es ist nicht einfach..."

„Aber jetzt haben wir einander. Du bist nicht mehr allein. Und ich denke, daß du schon bald richtig zu uns gehören wirst."

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich..."

„Oh, mach' dir keine Gedanken. Alles zu seiner Zeit. Jetzt ist erst einmal wichtig, daß wir uns gefunden haben, nicht wahr?"

„Da hast du Recht. Das ist das Wichtigste."

„Eben, vergiß' diese dumme Geschichte mit deiner Vertreibung einfach."

Tunara rang sich ein zögerndes Lächeln ab. Kaya meinte es sicher nur gut, aber die ständige Erwähnung von Tunaras Verbannung war für sie ungefähr so angenehm, wie wenn jemand mit einem glühenden Stock in offenen Wunden herumstocherte.

Und jedesmal, wenn sie daran dachte, daß sie eigentlich eine Ausgestoßene war, dann drohten Verzweiflung und auch Wut Tunara zu übermannen.

Ruckartig stand sie auf. „Komm, laß' uns zurückgehen. Wir sollten mit den Übungen weitermachen."

„Ganz wie du willst."

Tunara wandte sich zum Gehen. Das boshafte Glitzern in Kayas Augen entging ihr.

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Tunara kniff die Augen zusammen und richtete all ihre Gedanken auf die kleine Kröte vor ihr. Verbissen versuchte sie, dem Tier ihren Willen aufzuzwingen.

Plötzlich sauste eine schlanke Rute auf ihre Hand nieder. Tunara schrie auf und funkelte Kaya an. Das war jetzt schon das vierte Mal, daß ihre Schwester sie schlug.

„Konzentriere dich! Bist du eine labile Greisin oder eine Hexe? Das kann ja nun nicht so schwer sein."

„Ist es aber!"gab Tunara heftig zurück.

Mit einer schnellen Bewegung schlug Kaya wieder zu. „Du sollst nicht jammern, du sollst dich anstrengen!"

„Das tue ich!"

Tunara mußte sich sehr beherrschen, um Kaya die Rute nicht aus der Hand zu reißen und sich mit ihr zu prügeln. Ein erneutes Zischen vorbei an ihrem Ohr. Diesmal traf Kaya sie auf die Schulter.

„Hör' gefälligst auf mich zu schlagen, du Biest!"schrie sie die andre an.

Kaya lachte böse. „Ah, du bist wütend? Du bist wütend auf mich? Gut so! Laß' deine Wut fließen. Nutze die Kraft und die Stärke, die dein Zorn dir verleiht. Richte ihn auf die Kröte. Wut bedeutet Energie, Tunara. Tu' es!"

Sie zielte auf Tunaras ungeschützten Knöchel und traf. Mit einem Kreischen sprang Tunara auf. Sie spürte dieselbe Macht, wie an Rashas Todestag in sich aufsteigen. Sie wollte sie auf Kaya richten, doch diese sah sie gebieterisch an und zeigte auf die Kröte.

Und in Tunaras Augen veränderte sich das Tier mit einem Mal. Hier war jemand, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. All die Verbitterung und Frustration der letzten Tage. Ein gemeines, unwürdiges Geschöpf. Und mit einem Schrei entfesselte sie die dunklen Energien und mit einem häßlichen Schmatzen platzte der Körper der Kreatur.

Dann, blitzschnell, war alles vorüber. Tunara starrte ungläubig auf die tote Kröte. Kaya stand da und grinste sie triumphierend an. Tunara wurde von Schuldgefühl und Scham ergriffen.

Doch bevor diese Gefühle sie richtig vereinnahmen konnten, fiel ihre Zwillingsschwester ihr fröhlich um den Hals. „Ich wußte es! Du kannst es! Sieh doch nur, du hast es geschafft!"

Zweifelnd sah Tunara sie an. Mißtrauisch an die Schläge denkend.

„Du hast mich geschlagen", sagte sie vorwurfsvoll.

„Oh, ich weiß. Das tut mir leid, aber es war die beste Möglichkeit. Wut bedeutet Macht, Tunara. Dein Zorn hat dich stark gemacht."

„Aber das ist nicht richtig", wollte Tunara protestieren.

„Doch, genau das ist das Geheimnis. Du hast es geschafft! Sicher, du warst noch unkontrolliert und ich mußte dich provozieren, aber du hast es geschafft."

Tunara war verunsichert. „Heißt das, daß ich nur im Zorn hexen kann?"

Man hatte ihr immer beigebracht, daß Zauberei innere Ruhe erforderte.

Kaya wiegte den Kopf. „Weißt du, nicht direkt. Alle Gefühle geben dir Kraft. Aber Wut ist am mächtigsten. Am leichtesten findet man über Zorn Zugang zur Magie. Mit der Zeit kannst du lernen, deinen Haß zu kontrollieren. Du kannst dann auch ohne einen großen emotionalen Ausbruch diese Macht finden. Aber das kommt später. Nun kannst du dich erst einmal verteidigen. Darauf kommt es zunächst an. Wenn dich jemand angreift, brauchst du in Zukunft nur noch all deine Wut zusammenzunehmen. Das wird dir genug Energie geben."

„Aha", machte Tunara.

Sie war immer noch nicht ganz überzeugt. Andererseits, es war so einfach gewesen. Vorher hatte sie sich ohne Erfolg angestrengt und dann war es wie von allein gegangen. Vielleicht hatte Kaya doch Recht

„Laß' uns gleich noch etwas ausprobieren!"sagte ihre Schwester.

„Was denn?"Ihre Neugierde war geweckt.

„Wir könnten es mit einem kleinen Kampf versuchen. Wir haben so einen aufsässigen Gefangenen hier. Der hat heute Morgen ein paar andere aus seiner Zelle verprügelt. Wir wollten ihm ohnehin eine Lektion erteilen, die er verdient. Ich denke, du solltest diejenige sein, die ihn für sein Verhalten bestraft."

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Gethzerion wischte ärgerlich einen Stapel Papiere von ihrem Schreibtisch und funkelte die Nachtschwester vor ihr an.

„Das kann doch wohl nicht euer Ernst sein, oder? Das ist einfach lächerlich und wenn ihr......"

Plötzlich abgelenkt sah sie aus dem Fenster um zu ergründen, woher der Lärm kam, der ihr aufgefallen war. Es war bereits dunkel draußen und im Schein der Hofbeleuchtung sah sie, wie zwei Schwestern den sich heftig wehrenden Brones auf den großen Hof schleppten.

Kaya stand dort mit ihrem Zwilling uns sah ihnen erwartungsvoll entgegen.

„Was soll das werden?"wollte Gethzerion von ihrer Beraterin wissen.

„Ähm, ich weiß es nicht genau, vielleicht....."

„Vielleicht, vielleicht! Ich will kein vielleicht. Hol' mir sofort Kaya her!"

Die andere nickte und stolperte hastig aus dem Raum, sichtlich erleichtert, Gethzerions Zorn für eine Weile entkommen zu können.

Wenige Minuten später trat Kaya ein. „Du wolltest mich sprechen?"

Gethzerion fuhr herum. „Ja, ich will wissen, was dieses Spektakel im Hof soll."

„Ach so, nun ich dachte....."

„Du sollst nicht denken, du sollst mir antworten!"

„Ja, Gethzerion. Das wollte ich doch gerade tun."

„Machst du Fortschritte mit Tunara?"unterbrach Gethzerion sie erneut.

„In der Tat! Du hättest sie vorhin sehen sollen, sie hat die Kröte buchstäblich zermatscht."

„Ha, eine Kröte zu quälen und einen Menschen zu töten, sind zwei verschiedene Dinge."

„Eben darum das Theater mit Brones! Ich möchte Tunara gegen ihn kämpfen lassen."

„Bitte?"

„Ja, das ist doch eine ganz einfach Idee. Auf diese Weise kann ich sie darauf trainieren, Menschen umzubringen. Brones ist aggressiv genug, um sich bis zuletzt zu wehren. Das macht ihn zu einem idealen Übungsobjekt."

„Hmm", machte Gethzerion.

„Stimmt etwas daran nicht?"

„Sie denkt, sie würde einen Verbrecher bestrafen. Aber ob sie deshalb auch gegen ihren alten Clan kämpfen wird, ist doch sehr fraglich."

„Es ist zumindest einen Versuch wert. Man müßte ihr nur ein paar nette Gründe liefern, warum wir die Hexen vom Clan des singenden Berges angreifen. Dann wird sie uns sicher folgen."

„Nun, in einem hast du recht. Der Versuch kann nicht schaden. Du kannst jetzt gehen und weiter machen."

Mit einer herrischen Geste schickte sie Kaya hinaus.

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Tunara starrte den Mann an, der vor ihr stand. Zwei Nachtschwestern hielten ihn fest. Es sah heruntergekommen und bösartig aus. Kaya trat zu ihr.

„Bist du bereit?"

„Ja, aber was genau soll ich eigentlich tun?"

„Du sollst lediglich gegen ihn kämpfen. Er wird sich natürlich wehren. Aber ich weiß, daß du jetzt in der Lage bist, dich zu verteidigen. Du mußt ihn nicht töten, aber wenn das passiert, dann ist es auch nicht schlimm. Im Grunde genommen hat er den Tod verdient."

„Warum sitzt er im Gefängnis?"

„Er hat ein paar kleine Kinder mißhandelt und ermordet."

Kaya schlug sich im Geiste auf die Schulter, als sie den Ekel sah, der in Tunaras Gesicht auftauchte.

„Sehr gut, meine Kleine. Sieh' in ihm ein abscheuliches Tier, eine häßliche Bestie. Das wird dich umso leichter auf unsere Seite bringen", dachte sie.

Tunara nickte und fixierte den Mann.

„Schlag' ihn zuerst, dann werden die Schwestern ihn loslassen."

Tunara holte aus und boxte ihn in den Magen. Augenblicklich wichen die anderen Nachtschwestern und Kaya zurück.

Der Mann ließ ein wütendes Gebrüll hören und ging auf Tunara los. Er holte aus, aber Tunara duckte sich und versetzte ihm einen Tritt in die Kniekehlen. Er fiel der Länge nach in den Staub. Tunaras Gesicht spiegelte Befriedigung wieder. Diese Ratte gehörte in den Dreck!

Brones rappelte sich auf und beäugte sie mißtrauisch. Beim nächsten Mal war er vorsichtiger. Geschickt täuschte er einen Tritt an, wich aber in letzten Moment aus und schlug ihr die Faust ins Gesicht.

Tunara spürte den plötzlichen Schmerz. Dann sah sie das Blut, das aus ihrer Nase quoll. Zorn machte sich ihr breit. Diese schmutzige Kreatur wagte es, sie zu schlagen?

Ihr linker Wangenknochen fühlte sich merkwürdig taub an. Vielleicht hatte er ihr ja sogar die Nase gebrochen. Sie erinnerte sich an eine Hexe beim Clan, die sich die Nase gebrochen hatte. Sie war nie wieder richtig zusammen gewachsen und sah heute schief und häßlich aus.

Ohnmächtige Wut erfaßte Tunara bei dem Gedanken daran, sie könnte nun für immer verstümmelt sein. Wie war das gewesen? Sie mußte ihre Wut auf ihn konzentrieren. Sie ballte die schwarze Energie in ihrem Inneren zusammen und schlug mental zu. Ein widerliches Knirschen ertönte, als Brones' Kiefer brach.

Tunara triumphierte. Es war so leicht!

Doch Brones gab noch nicht auf. Schreiend stürzte er sich auf seine Gegnerin. Das Ringen das nun folgte war kurz und für beide schmerzhaft. Schließlich gelang es Tunara, ihn keuchend von sich zu stoßen.

„Mach' ein Ende, Tunara!"rief Kaya ihr plötzlich zu.

Tunara zögerte eine Sekunde lang. Doch dann gewann ihr Zorn. Wie in einem Rausch sah sie diese ekelhafte Kreatur, die versuchte, sich aufzurichten. Verschwommen nahm sie die anderen Frauen wahr. Und mit einem entsetzlichen Schrei entfesselte sie die dunkle Magie in ihrer Seele.

Das freigesetzte Böse heulte auf und warf sich wie ein Raubtier auf den hilflosen Brones. Er wurde davon verschluckt und zermalmt. Das Tosen hielt noch wenige Sekunden an bis es schwächer wurde und schließlich wieder verschwand.

Im Neonschein der Hoflampen blieben eine unsichere Tunara, eine grinsende Kaya, zwei weitere Hexe und eine verstümmelte Leiche zurück. Kaya brach das Schweigen und jubelte los. Da erfaßte auch Tunara ein seltsames Hochgefühl.

Sie hatte es vollbracht! Dieser Mann hatte versucht, sie anzugreifen und er war gescheitert. Nein, sie war keine hilflose Beute mehr, sie war eine Hexe! Sie war im Stande jeden zu beseitigen, der ihr etwas antun wollte.

Und ohne nachzudenken stimmte sie in den Jubel ihrer Schwester ein.

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In der Festung des singenden Berges schreckte Casima zur gleichen Zeit aus dem Schlaf hoch. Sie blickte sich verwirrt um. Langsam beruhigte sich ihr Atem wieder. Sie hatte nur geträumt. Ihre Decken waren völlig verschwitzt.

„Tunara?" flüsterte sie in die Dunkelheit ihrer Kammer.

Sie erhielt keine Antwort.

Vorsichtig stieg sie aus dem Bett. Dieser Alptraum war so real gewesen. Sie hatte ihre kleine Schwester gesehen, aber sie war vollkommen verändert gewesen. Ihre Augen waren kalt und hart gewesen. Und neben ihr hatte eine zweite Tunara mit blauem Haar gestanden. Die beiden hatte Casima angesehen und gelacht.

Casima ging hinüber zum Fenster und öffnete es. Die kühle Nachtluft strich über ihre schweißgebadete Haut und trocknete sie. Dieses Bild aus dem Traum rief verborgene Erinnerungen wach. Erinnerungen, die Casima längst verdrängt geglaubt hatte. Erinnerungen an ein Unglück vor vielen Jahren. Leid, Schmerz und Hilflosigkeit.

Man hatte ihre kleine Schwester geraubt. Bilder schossen Casima durch den Kopf. Wie sie von andren Hexen getröstet wurde, wie sie stumm in der Ecke des Kriegsraumes saß, die weinende Tunara auf dem Schoß. Und später, die Stimme von Augwynne, die sie ermahnte, das niemals wieder vor Tunara zu erwähnen. Das Kind würde das vermutlich über kurz oder lang verdrängen.

Casima schüttelte den Kopf. Wie lange hatte sie schon nicht mehr daran zurückgedacht? Tunaras Zwillingsschwester war vor über 17 Jahren von den Nachtschwestern entführt und wahrscheinlich getötet worden. Nein, nicht wahrscheinlich, ganz sicher!

Casima fröstelte, sie erinnerte sich kaum noch an das Kind. Zamina! Ja, Zamina war ihr Name gewesen. Was hatte dieser Traum bloß zu bedeuten? Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an dieses Unglück von damals?

„Vermutlich ist das meine Angst um Tunara", sagte sie zu sich selbst. „Sie ist jetzt irgendwo da draußen in der Dunkelheit. Allein und schutzlos. Kein Wunder, daß ich mir Sorgen mache! Ich habe Angst, daß ich sie auch noch verliere. Daß die Nachtschwestern sie finden und umbringen. Genau wie Zamina vor so vielen Jahren."

Der zweite Mond von Dathomir ging gerade am Himmel auf. Casima blickte hinauf.

„Wo bist du Kleines?"sprach sie in den Nachtwind. „Wo bist du und was machst du?"