VI. Auf Leben und Tod

Tunara spazierte fröhlich über den langen Flur zum Speisesaal. Im Vorbeigehen nickte sie einer anderen Nachtschwester zu. Sie hielt den Kopf ein wenig höher als vorher und ihr Gang war aufrechter. Sie hatte das berauschende Gefühl, hierher zu gehören. Sie war kein niemand mehr.

Gestern Abend hatte Kaya sie zu Gethzerion gebracht. Diese hatte Tunara in den Clan der Nachtschwestern aufgenommen. Freundlich war sie zwar nicht gewesen und Tunara war nach wie vor nur eine Schülerin, aber trotzdem gehörte sie nun ganz offiziell dazu.

Überrascht fiel ihr jetzt die Unruhe auf, die von den im Saal versammelten Hexen ausging. Sie entdeckte Kaya an einem der hinteren Tische und lief zu ihr.

Die grinste sie an: „Na, wie fühlst du dich an deinem ersten Tag als Schwester der Nacht?"

Tunara erwiderte mit einem Lachen: „Großartig, absolut großartig. Als hätte ich Zugang zu einem geheimen Zirkel bekommen."

„Das kommt der Sache ja auch ziemlich nahe."

Tunara blickte zur Theke hinüber. „Entschuldige mich, ich werde mir auch schnell ein Frühstück holen."

Als sie in der Reihe hinter den anderen stand spürte sie wieder diese ungewöhnlich starke Nervosität überall. Zurück an ihrem Platz fragte sie ihre Schwester danach.

„Was ist denn bloß los? Warum sind alle so aufgeregt?"

Kaya zögerte. „Naja, weißt du es ist...ach, das wäre nicht richtig, es dir zu erzählen. Bitte frag' mich nicht danach!"

Aus den Augenwinkeln sah Kaya, daß ihre Strategie anschlug. Aus dem flüchtigen Interesse in Tunaras Gesicht war nun brennende Neugierde geworden.

„Warum nicht? Was ist los, Kaya?"

„Glaube mir, es ist zu deinem Besten, wenn du es nicht erfährst."

„Ich bin kein Kind mehr. Ich will wissen, was hier vor sich geht1" drängte Tunara.

Kaya seufzte tief. „Also schön, aber ich habe dich gewarnt. Wir werden uns auf einen Angriff gefaßt machen müssen."

Tunara wirkte überrascht, dann nachdenklich. „Und weshalb darf ich das nicht wissen?"

„Die Sache ist die, wir, oh, ich kann das nicht!"

„Raus damit! Das ist unfair, jetzt mußt du es mir auch sagen."

„Na gut. Gestern Nacht erreichte uns die Nachricht, daß sich der Clan des singenden Berges auf den Weg gemacht hat, uns morgen in aller Frühe anzugreifen. Wir werden ihnen entgegen gehen und uns in den Savannen einem Kampf stellen. Ich hielt es für besser, dir das nicht zu sagen. Immerhin hast du dort noch Freunde und Familie. Und außerdem...naja, ich wußte nicht, ob du mir glauben würdest. Ich hatte Angst, die Loyalität zu deiner Vergangenheit wäre stärker als die zu mir."

Sie sah Tunara bedrückt und fragend an.

Betroffen starrte Tunara vor sich hin. Nie hätte sie gedacht, daß ihr alter Clan etwas derartiges tun würde. Im ersten Moment war sie versucht, Kaya der Lüge zu bezichtigen. Doch dann begann sie nachzugrübeln.

Sie hatte bereits erfahren, wie falsch das Bild der Clans von den Nachtschwestern war. Wenn Kaya nun die Wahrheit sagte? Es war immerhin gut möglich, daß man Tunara ihr Leben lang veraltete Einstellungen eingetrichtert hatte. Wer garantierte dafür, daß so etwas nicht schon früher geschehen und vertuscht worden war?

„Es sieht so aus, als müßte ich eine Entscheidung treffen."

„Nein", fiel Kaya ihr ins Wort. „Warum mußt du das? Du bleibst hier im Gefängnis und hältst dich einfach aus dieser Sache heraus."

„Wie könnte ich das tun? Ich bin jetzt eine von euch, oder nicht?"

„Doch, natürlich, aber das heißt nicht, daß du gegen deinen alten Clan kämpfen mußt. Und überhaupt, du bist noch nicht soweit."

Tunara schüttelte heftig den Kopf und traf ihre Entscheidung.

„Ich werde mitkommen! Nichts, was du sagst, könnte mich daran hindern. Du warst für mich da, als ich draußen in der Höhle ganz allein war. Nun werde ich dich nicht im Stich lassen."

„Oh Tunara! Ich weiß das zu schätzen, ehrlich. Aber bedenke doch, es wird zu einem echten Kampf kommen! Vielleicht begreifst du nicht, wie ernst das ist. Wir werden manche von ihnen töten müssen!"

Kaya war aufgestanden und lief hin und her. Sie lieferte eine glanzvolle schauspielerische Leistung ab. Innerlich lachte sie sich halbtot, aber ihre Schwester schien die Idee, der von Zweifeln und Ängsten geplagten Hexe zu schlucken. Dann tat sie so, als sei sie mit großer Überwindung zu einem Entschluß gelangt.

„Hör' mir gut zu Tunara. Wenn es wirklich dein Wunsch ist, dann werde ich Gethzerion überreden, dich mitkommen zu lassen. Ich weiß, daß du dich für alles rächen willst, was man dir angetan hat, aber trotzdem will ich, daß du dir das jetzt noch einmal reiflich überlegst, verstanden?"

Tunara hatte bisher noch gar nicht an Rache gedacht, aber nun schien ihr diese Aussicht den Kampf nahezu verführerisch zu machen.

„Ich will dich begleiten und wäre dankbar, wenn du das Gethzerion beibringen könntest."

Kaya nickte zustimmend. „Dann ist es also beschlossen, du wirst an unserem Kriegszug gegen den Clan des singenden Berges teilnehmen."

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Gethzerion kicherte hämisch. „Soso! Sie will tatsächlich mitkommen? Ich muß sagen, ich hätte nicht gedacht, daß du sie dazu kriegen würdest."

„Sie ist leicht zu manipulieren ein Kinderspiel."

„Ja, aber danach wird das aufhören. Kein albernes Gerede mehr. Danach wird sie mit der Wahrheit konfrontiert werden. Entweder sie bleibt dann trotzdem oder du wirst sie erledigen. Haben wir uns da verstanden?"

Kaya richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. „Ich habe verstanden. Nach dem Schlag gegen diese Speichelleckerinnen von Hexen werde ich ihr die Augen öffnen."

„Gut, ich will, daß sie heute Abend mit der ersten Welle angreift. Das wird der lieben Augwynne bestimmt einen gehörigen Schlag versetzen, wenn sie Tunara in unseren Reihen sieht."

Ihr grausames Lächeln ließ Kaya frösteln.

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Gegen Mittag brachen die Nachtschwestern auf. Tunara trug ein schwarzes Gewand, das Kaya ihr geliehen hatte, und hatte ihr Haar unter einem Tuch verborgen.

„Es wird sonst wie ein Signalfeuer allen unsere Ankunft schon von Weitem mitteilen", hatte Kaya zu Recht gesagt.

Nun gingen sie nebeneinander auf einem verborgenen Pfad durch den Wald. Tunara hatte ihre Schutzaura erzeugt, um unliebsame Insektenstiche zu vermeiden. Sie dachte verwundert daran zurück, wie seltsam ihr das noch vor einer Woche erschienen war. Heute war es fast selbstverständlich, die natürlichste Sache der Welt.

Lautlos bewegte sich der Zug der Hexen vorwärts. Schon bald hatten sie den Rand der weiten Steppen erreicht. Gethzerion blieb stehen und flüsterte einer Nachtschwester neben ihr ein paar Befehle zu.

Kaya erklärte ihrem Zwilling, was nun folgen würde.

„Es wird jetzt eine Späherin ausgesandt, damit wir wissen, wo sich unsere Feindinnen befinden. Wenn sie zurückkommt, schleichen wir uns an sie heran und vernichten sie. Sie rechnen sicherlich nicht mit einem Angriff hier in den Savannen. Schließlich haben sie keine Ahnung, daß wir über ihr Kommen informiert sind. Die Überraschung wird uns einen entscheidenden Vorteil liefern."

Daß Tunara selbst ebenfalls einen großen Teil zu dieser Überraschung beitragen würde, sagte sie allerdings nicht.

Die Gruppe ließ sich bei ein paar Felsen nieder.

Tunara zupfte ihre Schwester am Ärmel. „Warum nehmen sie denn den Weg durch die Steppe? Ich meine, es wäre doch für sie viel besser, durch den Wald zu kommen. Da sieht man sie erst später und es ist doch auch ein riesiger Umweg, wenn sie einen so großen Bogen schlagen."

Kaya schaute sie forschend an. Dann wurde ihre Miene wieder neutral und sie antwortete: „Ja, das stimmt. Aber sie fühlen sich sicher und wissen, daß wir gelegentlich Wachposten ausschicken, um den Wald abzusuchen. Sie glauben wohl dummerweise, mit einem Schlag aus Richtung der Savanne würden wir niemals rechnen."

Tunara runzelte die Stirn. Früher war Augwynne ihr immer so klug und fähig vorgekommen. Wer hätte gedacht, daß sie in Wahrheit so einfältig war. Sie teilte das Kaya mit, die darüber lachte. Das Lachen erreichte jedoch ihre Augen nicht.

Eine Stunde später, kehrte die Späherin zurück. Sie berichtete, die Clanhexen befänden sich etwa eine halbe Stunde nördlich von hier. Sie würden unter ein paar Bäumen lagern. Offenbar um den kühleren Abend abzuwarten.

Leise flüsterte Tunara Kaya zu: „Wie wollen wir uns denn da anschleichen?"

Ihre Frage wurde augenblicklich beantwortet.

Gethzerion erhob ihre Stimme. „Schwestern! Mein Plan ist einfach, aber er wird erfolgreich sein. Wir werden uns in drei Gruppen aufteilen. Die kleinste Gruppe wird zuerst frontal angreifen und Verwirrung stiften. Die anderen beiden Gruppen werden von den Seiten aufrücken und die Kriegerinnen vom singenden Berg zwischen sich aufreiben. Um uns unbemerkt zu nähern, müssen wir auf eine List zurückgreifen.

Das Steppengras ist zum Glück schon ziemlich hoch. Wir können uns darum kriechend bis auf hundert Meter an ihren Lagerplatz schleichen. Wenn alle Gruppen ihre Positionen erreicht haben, wird die erste Gruppe aufspringen und den Angriff beginnen. Gibt es noch irgendwelche Fragen?"

Selbst wenn noch eine Hexen Fragen gehabt hätte, so hätte sie sie wohl dennoch nicht vorbringen wollen, denn Gethzerions Blick war eisiger als ein kalter Wintersturm.

„Sehr schön, dann los!"

Sie konnten noch etwa 10 Minuten aufrecht gehen, dann mußten sie sich auf Hände und Knie sinken lassen. Sie kamen nur langsam weiter und es war ausgesprochen schwierig, zwischen dem scharfkantigem Gras zu kriechen, ohne sich dabei sämtliche Finger zu zerschneiden.

Tunara war der ersten Gruppe zugeteilt worden, ebenso wie Kaya. Den Grund dafür konnte sie selbstverständlich nicht ahnen. Sie nahm daher an, daß dies auf ihrer Unerfahrenheit beruhte. Die erste Gruppe mußte lediglich Durcheinander anrichten und den Feind erschrecken. Nicht, daß sie sich darüber viele Gedanken machte.

Nach wenigen Minuten dachte sie nur noch an ihren schmerzenden Rücken und die blutenden Schnitte in ihren Handflächen. Sie blickte zu ihrer Schwester hinüber, die jedoch keine Anzeichen von Erschöpfung oder Schmerz zeigte. Ihre Hände waren auch nahezu unversehrt.

„Ein weiterer Trick?"fragte sie sich still.

Dann hob die Führerin ihrer Gruppe die rechte Hand. Alle hielten an. Vorsichtig lugten sie durch die Halme.

Knapp hundert Meter vor ihnen lag ein größerer Felsen, den Sand und Wind im Laufe der Jahrzehnte immer weiter abgeschliffen hatten. Daneben standen in einem Kreis fünf Talaita-Bäume. Darunter hatten die Hexen vom Clan des singenden Berges ihr Rastlager aufgeschlagen. Man konnte einzelne Wortfetzen auffangen und gelegentlich schallte Gelächter herüber.

Bittere Galle stieg Tunara in den Mund. Da saßen sie und scherzten, als ob dies eine ganz gewöhnliche Jagd für sie wäre. Wahrscheinlich riefen sie sich Witze über die verdorbenen Nachtschwestern zu, die sie nun schon bald besiegen würden.

„Aber so einfach, wie ihr euch das gedacht habt, wird es nicht werden", dachte sie grimmig.

Doch jetzt hieß es vorerst warten. Die anderen Gruppen mußten das Lager umrunden und würden noch Zeit brauchen, um ihre Positionen zu erreichen.

Nach einer halben Stunde zuckte die Anführerin plötzlich zusammen. „Die anderen sind breit. Wir greifen an. Und denkt daran, wir müssen möglichst viel Verwirrung stiften. Also los!"

Sie erhob sich und in einer fließenden Bewegung tauchten alle anderen Hexen einschließlich Tunara aus dem Gras auf.

Augenblicklich ertönte im Lager der schrille Warnschrei der Clans. Tunara und ihre Gruppe hasteten los. Einige trugen Speere bei sich, andere hatten Messer gezückt. Tunara hatte von Kaya einen spitzen Dolch erhalten. Mit Geschrei und wilde Flüche ausstoßend rannten sie auf die Bäume zu.

Dann waren sie bei den Hexen und die Welle des Angriffs wurde brutal gestoppt. Die gegnerischen Seiten prallten aufeinander.

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Casima kämpfte neben Augwynne und versuchte verzweifelt, das um sie tobende Chaos zu durchschauen. Niemand hatte mit einem Angriff der Nachtschwestern hier draußen gerechnet. Sie hatten sich in der großen Gruppe sicher gefühlt. Alles deutete darauf hin, daß die dunklen Hexen einem lange gehegten Plan folgten.

Dies sah nicht wie ein spontaner Überfall aus, weil man zufällig aufeinander gestoßen war. Nein, das war ein geschickter Hinterhalt! An den Flügeln tauchten jetzt weitere Gegnerinnen auf. Absolute Verwirrung breitete sich unter den Clanhexen aus, die nicht wußten, was sie als erstes tun sollten. Dann griff eine Nachtschwester Casima an und sie hatte keine Zeit für weitere Überlegungen.

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Es lief gut, entschied Tunara für sich. Die Nachtschwestern waren zwar zahlenmäßig nur gering überlegen, aber wie Gethzerion vorausgesagt hatte, gab es eine Panik und die Clanhexen sahen sich von allen Seiten eingekreist.

Tunara hatte sich ganz dem Bann der dunklen Magie ergeben und tanzte wie ein Todesengel ihren Dolch schwingend durch die Reihen der Kämpferinnen. Ja, alles lief hervorragend.

Plötzlich fühlte Tunara ein Gewicht auf ihrem Rücken und wurde zu Boden geworfen. Eine Hexe hatte sie von hinten angesprungen. Mit vor Zorn funkelnden Augen drehte sie sich um. Es war eine ihr unbekannte Hexe mit langen braunen Zöpfen. Ihre kräftige Hand schloß sich um Tunaras Kehle. Keuchend konzentrierte sie sich auf ihren Haß und wie schon einmal nutzte sie ihn als Waffe und setzte tödliche Energie frei.

Die andere ließ ihren Hals los und schrie gellend. Tunara sah sie zurück wanken und rappelte sich auf. Benommen starrte die Clanhexe sie an. Tunara zog ihren Dolch hervor und machte Anstalten ihn der Gegnerin ins Herz zu rammen. Zitternd brach diese auf einmal vor ihr zusammen. Ihre Augen waren vor Angst geweitet. Erst jetzt registrierte Tunara ihre Jugend.

„Bitte!" flüsterte sie.

Tunara blickte hinunter. Sie dachte an ihre Kindheit in der Festung, ihre Schwester Casima und an die glücklichen Tage vor ihrer Verbannung.

Die Verbannung! Wie ein Stachel bohrte sich dieser Gedanke in ihr Bewußtsein. Und mit einer schnellen Bewegung schnitt sie der am Boden knienden Hexe die Kehle durch.

„Tunara!"

Der entsetzte Schrei drang von links an ihr Ohr. Sie wandte sich um und sah Casima, die sie fassungslos anstarrte.

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Casima zwinkerte heftig in der Hoffnung, sie habe gerade nur ein Trugbild gesehen. Aber es war tatsächlich ihre kleine Schwester, die da blutüberströmt unter den Nachtschwestern kämpfte.

Casima hatte gerade rechtzeitig in ihre Richtung geschaut, um zu sehen, wie sie eine jungen Hexe tötete. Hinter Tunara tauchte eine zweite Nachthexe auf. Und plötzlich erkannte Casima sie.

Das war die Frau aus ihrem Traum, die totgeglaubte Zwillingsschwester von Tunara. Aber das war doch nicht möglich!

Die blauhaarige Hexe sah zu Casima herüber und ein böses Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. Jetzt packte sie ihren Speer und rannte auf sie zu.

Zwei Sekunden später war sie bei Casima und schlug nach ihr. Casima blockte den Schlag ab und ging zum Gegenangriff über. Nun folgte Schlag auf Schlag. Der ganze Kampf vollzog sich stumm. Erbittert wehrte Casima sich gegen die immer wilderen Attacken.

Grimmig lächelnd suchte Kaya nach einem Schwachpunkt in ihrer Verteidigung. Und dann geschah es. Casima glitt einen Schritt zurück und übersah dabei eine Baumwurzel. Sie strauchelte und fiel schließlich hin. Kaya schrie triumphierend. Sie hob ihren Speer.

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Tunara stand wenige Meter entfernt und hatte beobachtet, wie ihre beiden Schwestern miteinander kämpften. Dabei konnte sie befriedigt feststellen, daß Casima immer weiter unter die Bäume getrieben wurde. Dunkle Zufriedenheit überkam sie.

Jetzt mußte ihre eingebildete große Schwester zahlen!

„Ha, jahrelang hast du fortwährend an mir herumgemäkelt, mich nur kritisiert. Wie passend, daß nun ausgerechnet Kaya meine Rache an dir vollbringen wird!"sagte sie leise.

Plötzlich stolperte Casima und Tunara sah sie fallen. Kaya warf den Kopf in den Nacken und setzte zum Todesstoß an.

Und auf einmal passierte etwas Seltsames.

Die Zeit schien sich zu dehnen, sich in eine zähe Masse zu verwandeln. Bruchteile von Sekunden schienen sich zu Stunden zu verändern. Tunara hatte das Gefühl mitten in einer Blase zu stehen, die sie von dem Geschehen um sie herum isolierte.

Eine Erinnerung blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Es gab nur einen Talaita-Baum und darunter lag ihre tote Freundin Rasha. Getötet von den Nachtschwestern. Sie sah wieder deren Gesicht vor sich.

Weitere Bilder zogen vorbei. Rasha, wie sie lachend einen Fisch aus einem Eimer nahm, Casima, die Tunaras Knie mit einer Heilsalbe bestrich, weil sie es sich beim Spielen aufgeschrammt hatte.

Und dann abrupt wieder die tote Rasha. Ihre leeren Augen, das mit Dreck und Blut verschmutzte Haar und vor allem der entsetzte Ausdruck, der ihre Züge hatte erstarren lassen.

Tunara hatte das Gefühl aus einer Trance zu erwachen. Sie blickte an sich hinab. Das Blut an ihren Händen begann bereits zu trocknen. Ekel überkam sie und Scham. Die Worte aus ihrem Traum mit Mutter Rell kangen in ihren Ohren:

„Laß' nicht zu, daß sie deine Erinnerungen manipulieren!"

Genau das war geschehen! Bei den brennenden Sternen, wie hatte es soweit kommen können? Was war aus ihr geworden?

Dann erfaßte sie plötzlich das Geschehen um sie herum wieder. Ihre widerwärtige Zwillingsschwester stand in Begriff Casima zu töten. Panik durchflutete Tunara. Sie war zu weit fort, um Casima noch helfen zu können. Himmel, was sollte sie tun?

Doch im nächsten Augenblick wußte sie es. Wie ein kleiner Funken entzündete eine Idee ein wärmendes Feuer in ihrer Seele. Sie wurde ruhig, erstaunlich ruhig und entspannt. So entspannt, wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Und sie fand sie! Fand die helle Quelle reiner Energie, die sie nie hatte entdecken können.

Sie zielte mit ihrem Dolch und das Bild vor ihr rückte näher, wurde klar und präzise. Sie balancierte die Waffe aus und spürte dann, daß etwas richtig war. Mit einer kraftvollen Bewegung schleuderte sie den Dolch durch die Luft.

Getragen von der Magie, die Tunara nun fließen ließ, fand er sein Ziel und bohrte sich mitten in Kayas Brust.

Die Zeit beschleunigte sich wieder, Tunara hörte Kayas Schrei. Sie drehte sich zu ihr um, starrte sie an mit einer Mischung aus Verblüffung und Wut. Dann dämmerte Verstehen in ihren Augen und mit einer letzten verzweifelten Geste faßte sie den Dolch und zog ihn aus ihrem Körper bevor sie zu Boden stürzte.

Casima setzte sich auf. Ein Blick genügte, um sicher zu sein, daß die andere tot war. Tunara stürmte heran und schrie unter Tränen unverständliches Zeug heraus.

Sie fiel Casima so ungestüm um den Hals, daß diese beinahe wieder umgekippt wäre. Nur mit Mühe konnte Casima sie beruhigen.

„Tunara, Tunara! Bitte hör' aus zu weinen, Kleines. Es ist alles wieder gut, alles ist in Ordnung."

„Oh, Casima! Ich wollte das nicht. Ich weiß auch nicht, wie das geschehen konnte, aber ich war so wütende und..."

„Dafür ist nachher noch Zeit", unterbrach die Ältere sie. „Wir müssen den anderen helfen!"

Sie sahen sich um. Offenbar hatten die Clanschwestern sich organisieren können. Augwynne stand auf dem Felsen und brüllte Befehle in alle Richtungen.

Die Nachtschwestern wurden langsam zurück gedrängt. Gethzerion schrie etwas. Daraufhin brach der Angriff ab. Ihre Anhängerinnen machten kehrt und liefen in die offene Savanne.

„Sammeln! Sofort geordneter Rückzug!"erschallte Augwynnes Stimme.

Minuten später standen alle Clanhexen am Fuß des Felsens beisammen. Augwynne nickte Tunara knapp zu und erklärte: „Wir müssen so schnell, wie es geht zur Festung zurück! Vielleicht holen sie Verstärkung. Offensichtlich waren wir Gethzerion eine zu anstrengende Beute."

Trotz der angespannten Stimmung brandete Jubel auf.

„Und jetzt, Abmarsch!"

Die Gruppe setzte sich in Bewegung.

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Drei Tage später stand Tunara vor der Versammlung der Hexen im großen Kriegssaal. Sie trug ihr bestes Kleid und zwinkerte Casima beruhigend zu, die sichtlich nervös neben Augwynne saß.

Die Clanfüherin sah es, und lächelte. „Du wirkst sehr entspannt, Tunara. Darf ich fragen, warum? Eigentlich müßtest du ja noch nervöser sein, als deine Schwester."

Tunara nickte und erklärte dann mit lauter, klarer Stimme: „Ich bin deshalb nicht nervös, weil ich mir vergangene Nacht bereits Gedanken über meine Zukunft gemacht habe und zu einer Entscheidung gekommen bin."

Augwynne wirkte verdutzt. „So, tatsächlich? Nun, dann darf ich dir vielleicht erst einmal meinen Beschluß mitteilen? Dem der Rat übrigens schon zugestimmt hat. Tunara, du wirst nach reiflichen Überlegungen wieder in den Clan des singenden Berges aufgenommen!

Zwar ist das Jahr deiner Verbannung noch nicht um und einige haben zu bedenken gegeben, daß du eigentlich noch länger ausgestoßen werden müßtest, weil du dich vorübergehend den Nachtschwestern angeschlossen hast, aber ich denke, du hast bereits eindrucksvoll bewiesen, daß du dich inzwischen vollkommen von ihnen losgesagt hast. Nicht zu erwähnen, daß wir darüber hinaus auch noch wertvolle Informationen durch deinen Bericht gewinnen konnten, die uns für die Zukunft sehr nützlich sein werden. Willkommen zurück!"

Beifall brach los.

Tunara strahlte, hob aber eine Hand, um für Ruhe zu sorgen.

„Zuerst einmal danke ich dem Clan. Ich kann kaum ausdrücken, wieviel mir das bedeutet. Aber ich habe auch noch etwas zu verkünden."

Verwundertes Gemurmel wurde laut.

Augwynne schaute tadelnd in die Runde. „Und das wäre?"

„Nun, ich werde nicht beim Clan bleiben!"

Diese Nachricht schlug mit der Wucht einer Granate unter den Hexen ein.

„Bitte, Ruhe!"rief Tunara. „Ich habe mir diesen Entschluß gründlich überlegt. Ich weiß einfach, daß ich noch nicht wieder soweit bin, hier zu leben. Ich brache Zeit und Abstand, um die Dinge, die geschehen sind, zu verarbeiten. Ich habe gestern Abend lange meditiert und schließlich bin ich zu einer Lösung gelangt.

Wenn man mich dort aufnimmt, dann werde ich zum Clan des nebligen Wasserfalls gehen. Dort gibt es viel Arbeit zu tun, dort könnte ich mir eine neue Existenz aufbauen. Die anderen Hexen dieses Clans stehen praktisch auch wieder am Anfang. Ich glaube, daß ich in dieser Umgebung wider zu mir selbst finden kann. Besser, als hier beim Clan des singenden Berges.

Natürlich möchte ich auch in Zukunft einen Kontakt aufrecht erhalten, aber ich will nicht hier leben! Noch nicht, vielleicht werde ich a eines Tages zurück kehren."

Augwynne musterte die junge Frau vor ihr, die in den letzten Tagen um viele Jahre gereift zu sein schien. Dann sagte sie ruhig: „Ich denke, daß du vermutlich Recht hast. Wenn es dein Wunsch ist, dann werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um dir behilflich zu sein. Ich werde gleich Kontakt zum Clan des nebligen Wasserfalls aufnehmen."

Tunara nickte dankbar. „Das wäre in der Tat eine große Hilfe. Ich danke dir, Augwynne. Und ich danke dem Clan, der bereit ist, mir meine Fehler in der Vergangenheit zu verzeihen."

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Tunara umarmte Casima.

Die Ältere schaute sie liebevoll an. „Und du bist sicher, daß du es so willst?"

„Ja! Glaub' mir, es ist das Beste für mich."

„Nun, dann bleibt mir nur, dir alles Gute zu wünschen."

„Wir werden uns sicher ab und an sehen, vergiß das nicht."

„Nein, tue ich nicht. Im Gegenteil, ich hoffe darauf!"

„Also dann, auf Wiedersehen, Casima!"

„Ja, auf Wiedersehen."

„Ich liebe dich, du wirst immer meine große Schwester bleiben."

„Das will ich auch meinen!"Ihr Blick wurde wehmütig. „Ich werde dich schrecklich vermissen, Kleines!"

Dann schüttelte sie energisch den Kopf. „Und nun, mach' schon, daß du auf den Weg kommst. Sonst werde ich noch morgen früh hier stehen und dir eine ganz furchtbar alberne Abschiedsszene machen."

Tunara lachte und trat aus dem Tor hinaus. Ihr Blick schweifte über das Dorf. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie hier gestanden hatte.

Wie anders war doch heute alles! Sie ging nicht mit Wut oder Schmerz im Herzen. Sie ging in Frieden und blickte den kommenden Tagen erwartungsvoll entgegen. Sie drehte sich noch einmal um und hob die Hand zum Gruß. Sie stieß den Kriegsschrei der Hexen aus und Casima winkte.

Danach wandte sie sich endgültig ab uns stieg den Berg hinunter.

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Tunara lag auf einem Fell unter den klaren Sternenhimmel. In zwei Tagen würde sie den Clan des nebligen Wasserfalls erreichen. Jetzt vor den Einschlafen fragte sie sich, wie die Zukunft wohl aussehen mochte.

Ihre und die von Dathomir.

Gethzerion und ihre Nachtschwestern waren noch lange nicht besiegt. Im Gegenteil, sie wurden von Tag zu Tag stärker. Sie dachte an Rashas Vision, in der die Sterne von Dunkelheit verschluckt wurden. Was mochte das wohl bedeuten? War das ein schlechtes Omen?

Tunara schlief ein, doch die befürchteten Alpträume der letzten Nächte blieben aus. Diesmal träumte sie von einem fremden Krieger und einer schönen, jungen Frau. Sie kamen nach Dathomir, als die Dunkelheit hereinbrach, aber sie brachten den Hexen Hilfe. Tunara lächelte im Schlaf.

Das war bestimmt ein gutes Omen, denn das Schwert des Kriegers war aus purem Licht!

ENDE

Diese Geschichte basiert auf dem durch Lucasfilm lizensierten Star Wars Roman

„Entführung nach Dathomir"von Dave Wolverton.