2. Kapitel (von Shakti)

Seit vielen Stunden ritten die Soldaten der Éored des Dritten Marschalls der Mark nun schon Richtung Süden zurück nach Aldburg. Ceorl blickte noch einmal zurück in die Richtung der Goldenen Halle. Er hatte sie noch nie zuvor in seinem Leben gesehen, und fand, dass es kein schöneres Bauwerk in Mittelerde geben konnte. Das Holz der Halle war so dunkel wie seine Augen, und den Glanz des Goldes an ihren Wänden konnte man noch meilenweit entfernt erspähen. Er freute sich schon, wenn ihn das nächste Mal eine Aufgabe nach Edoras führen würde.

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"Ihr habt mich rufen lassen, mein Hauptmann?"
"Ja, Ceorl." Der Marschall wandte sich von Ceorl ab und fragte die kleine, armselige Gestalt, die neben seinem Tisch stand: "Ist er das?"
"Ja, Herr! Das ist er. Sein Vater war Heorot, der Verräter, der unter Wulf diente und für den Tod vieler guter Menschen verantwortlich war. Er sieht genau so aus wie der Verräter!"
"Ist das die Wahrheit?"
"Ja." Ceorl war nicht in der Lage sich zu verteidigen. Es war die Wahrheit, und mehr war nicht zu sagen.
"Warum habt Ihr mich belogen?"
"Ich habe Euch nicht belogen, Marschall! Ich sagte Euch, mein Vater sei im Langen Winter vor drei Jahren gestorben, und so war es auch!" Nachdem ihn der Marschall lange gemustert hatte, schickte er den Mann, der ihm die Botschaft gebracht hatte, hinaus. Nachdem die große Tür wieder geschlossen war, sprach er wieder zu dem jungen Krieger. "Ihr werdet nicht weiter mit den Rohirrim reiten. Geht noch heute, und ich werde Euch nicht für Eure Lüge bestrafen."

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Als Ceorl das Haus des Marschalls verließ ruhten alle Blicke auf ihm. Jedem war die Geschichte bekannt, von dem, der seinem Land in den Rücken gefallen war und Wulf, dem Hauptmann der Dunländer, die Treue geschworen hatte. Aber dass Ceorl sein Sohn sein sollte, dem wollte niemand wirklich Glauben schenken. Ceorl war kein Verräter.

Er ging in seine Unterkunft und packte die wenigen Dinge zusammen, die ihm wichtig waren, und die er sein Eigen nennen durfte. Nachdem er zur Waffenkammer gegangen war und seine Rüstung abgegeben hatte, schwang er sich wortlos und mit Tränen in den Augen auf sein treues Pferd Fylstan und ritt mit seinem Hab und Gut davon. Niemand von der Éored sah ihn jemals wieder.

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Auf dem Weg nach Minas Tirith hatte er viel Zeit nachzudenken. Er hasste seinen Vater für den Verrat an seinem Volk und an seiner Familie. Nach dem Tod von Ceorls Mutter war er bei deren Schwester aufgewachsen, und erst kurz bevor diese starb hatte sie ihm erzählt, wer sein Vater gewesen war. Nicht lange, nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, wurde Edoras zurückerobert und Wulf und seine Anhänger getötet.

Ceorl hatte gedacht, dass sonst niemand die Wahrheit kannte, aber er hatte sich getäuscht. Jetzt musste auch er für den Verrat seines Vaters bezahlen. Seine Tante hatte ihm oft gesagt, dass er seinem Vater sehr ähnlich sah, wenn er auch seinen Sohn um einiges überragt hätte, wären sie sich einmal begegnet. Sie hatten dieselben braunen Augen und dasselbe lange, dunkelblonde Haar. Aber dass er nur äußerlich wie sein Vater war, das sah niemand.

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In einem kleinen Dorf, in der Nähe des Leuchtfeuers Erelas, kehrte er in ein kleines Wirtshaus ein. Die wenigen Gäste, die mit einem Krug Bier ihren Tag beenden wollten, hatten sich alle um eine Frau versammelt. Sie schien schon sehr alt und gebrechlich zu sein, aber ihre Stimme war fest und klar als sie sprach. Der junge Rohir hörte nicht hin. Er mochte Geschwätz nicht.

Einer der Männer kam auf Ceorl zu und legte einen Arm um seine Schulter. Etwas lallend begann er mit ihm zu reden: "Ha! Habt Ihr gehört, was die Alte gesagt hat?" Der Mann ließ ihm gar keine Möglichkeit um zu antworten, sondern sprach gleich weiter. "Einen Silmaril hat man gefunden, hat sie gesagt. So ein Schwachsinn! Sie sollte nicht alles glauben, was in den Straßen einer großen Stadt gesprochen wird! Ha! Einen Stein der Elben ..."

Mit den letzten Worten nahm er seinen Arm wieder von der Schulter des jungen Mannes und ging in Richtung des Wirtes, um seinen Krug wieder füllen zu lassen. Ceorl schüttelte den Kopf und wollte sich in seinem gemieteten Zimmer schlafen legen. Er bemerkte nicht, wie plötzlich die alte Frau vor ihm stand.

"Was wollt Ihr von mir?" Sie umfaßte seinen Oberarm und drückte ihn etwas zusammen. "Ihr seid jung und stark! Ihr könntet den Stein sicher finden. Aber Ihr müsst Euch beeilen! Die schöne Frau, die die Kunde nach Minas Tirith gebracht hat, sagte, dass sich am dritten Tag des Monats Nárië die, die den Stein suchen wollen in Tharbad treffen. Ihr müsst Euch wirklich beeilen! Es sind nur noch wenige Wochen bis zu diesem Tag!"
"Laßt mich in Ruhe, alte Frau. Ich will Euer kleines Märchen nicht hören!" "Ach ja? Märchen, sagt Ihr? Ich hörte, dass selbst die mächtigen Valar den Stein suchen, und dem, der ihn findet eine angemessene Belohnung geben werden."
"Was könnten mir die Valar geben?" fuhr er sie etwas grob an. Er wollte diese eher einseitige Unterhaltung so schnell wie möglich beenden und sich schlafen legen. Es war ein langer Tag gewesen. "Alles was Ihr Euch wünscht!" antwortete sie ihm mit leiser Stimme. "Alles!" Seine Augen blitzten für einen Moment auf. "Alles was ich mir wünsche" wiederholte er noch einmal leise bevor er auf sein Zimmer ging und in einen unruhigen Schlaf fiel.

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Er träumte von einer Frau. Sie war so wunderschön mit ihren langen roten Haaren und ihrer porzellanweißen Haut, dass er es kaum wagte sie anzusehen. Aber nicht nur ihr Äußeres war atemberaubend, denn wenn man in ihre Augen sah, schien es als würde man ihre Seele sehen können, und bei diesem Anblick stockte einem der Atem. Als sie begann zu singen, war es, als würde die Welt still stehen und alles Lebendige auf sie blicken. Sie sang in einer fremden Sprache, aber Ceorl verstand trotzdem jedes Wort. Es war das Lied, wovon die alte Frau in der Gaststube gesprochen hatte.

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Ceorl wurde ganz plötzlich aus dem Traum gerissen, als ihn jemand packte. Als er die Augen öffnete stand ein großer Mann an der Seite seines Bettes und zerrte ihn unsanft an den Haaren hoch. "Da ist ja die Brut des Verräters! Jetzt -" Mehr konnte der ungebetene Gast nicht sagen, denn Ceorl ergriff sein Schwert und schlug dessen stählernen Griff gegen den Kopf des Angreifers.

Dieser ging sofort zu Boden und stöhnte etwas benommen. Als er wieder zu sich kam, stand das Fenster weit offen und er war alleine in dem Zimmer. Fluchend stürmte er hinunter in die Stube. "Der Bastard ist entwischt!" Mit diesen Worten wischte er sich das Blut von seinem Gesicht und befahl seinen Männern Ceorl zu folgen. "Er wird sicher weiter nach Osten reiten ... Worauf wartet ihr noch?" Die Männer ritten los, wie es ihnen befohlen wurde. Nach Osten.

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Als Ceorl den Mann blutend auf dem Boden liegen sah, packte er seinen Besitz und war kurz davor zur Tür hinaus zu stürmen. "Was tust du da Ceorl? Du glaubst doch nicht, dass er alleine ist" mahnte er sich selbst und sah sich in dem kleinen Raum um. Ein kleiner Kasten stand gegenüber der Türe an der Wand, und daneben befanden sich ein Tisch, und ein morscher, wackeliger Stuhl, der schon lange nicht mehr geeignet war, sich darauf zu setzen. Über dem Bett war ein kleines Fenster. Er hatte gestern schon versucht es zu öffnen, aber durch die Feuchtigkeit und das Alter war der Rahmen verzogen. Ceorl musste es noch einmal versuchen.

Er stieß mit aller Gewalt gegen den Rahmen, und hoffte, dass er nicht all zu viel Lärm machen würde. Krachend öffnete sich das Fenster, aber zum Erstaunen des jungen Reiters blieb das Glas heil. Unter dem Fenster befand sich das Vordach zum Eingang des Hauses, und wieder hoffte er, nicht all zu viele Geräusche zu verursachen. Er sprang hinunter und landete auf dem Vordach, das sich knarrend zu Wort meldete. Ceorl sah sich nur kurz um, und machte sich auf den Weg zum Stall, wo ihn Fylstan mit einem leisen Wiehern begrüßte. "Still, Fylstan. Wir müssen weiter! Hier sind wir nicht sicher." Er sattelte sein Pferd und führte es leise ins Freie. Er setzte sich auf seinen Freund, und hieß ihm so leise wie möglich das Dorf zu verlassen. Als sie einige Meter vom Haus entfernt waren spornte er Fylstan an und dieser galoppierte los. Richtung Tharbad. Richtung Westen.

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Schwermütig blickte er auf das Funkeln am Horizont, als er Edoras mit einigem Abstand passierte. In zwei bis drei Tagen würde er den Isen an der Furt überqueren, und dann waren es noch ungefähr 120 Wegstunden bis Tharbad. Ceorl musste sich nicht beeilen, um bis zum dritten Nárië in der Stadt zu sein. Er hatte beinahe noch zwei ganze Wochen Zeit.

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Noch nie war er auf der westlichen Seite des Nebelgebirges gewesen. In Rohan gab es nur wenige große Wälder nördlich der Großen Weststraße, aber hier war es anders. Hier gab es auf dem ganzen Land verteilt kleine und größere Wälder, und Ceorl konnte sich nicht daran erinnern jemals so viele verschiedene Schattierungen der Farbe Grün gesehen zu haben. Auch Fylstan schien es zu gefallen, denn mehrmals ging der kleine, fuchsfarbene Hengst vom Weg hinunter, um die manchmal fremdartigen Bäume zu beschnuppern.

Einmal kam ihnen ein Kaufmann entgegen, der die Reisenden anhielt und ihnen Stoffe und etwas zu Essen verkaufen wollten. Der Kaufmann war sehr neugierig und konnte auch sein Lachen nicht zurückhalten, als Ceorl erzählte, dass er und sein Pferd aus Rohan waren. Oft schon waren Pferd und Reiter belächelt worden, weil sie etwas kleiner waren, als die Menschen und Pferde in der Mark eigentlich sind, aber wenn man sie reiten sah, wurden die Gesichter der Zuseher wieder ernst, denn schnell war Fylstan mit dem kleinen Reiter auf dem Rücken, und Ceorl konnte sein Schwert gut im Sattel des Pferdes führen, wobei er sein Ziel nur selten verfehlte.

Ceorl schweifte in Gedanken und ließ sich wohl etwas zu viel von der Schönheit der neuen Umgebung mitreißen, weshalb er sein Pferd schließlich etwas mehr anspornte, um nicht zu spät nach Tharbad zu kommen.

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"Jetzt sind wir doch zu früh hier, Fylstan." Er ritt gemächlich durch die Straßen der großen Stadt, und hielt erst an einer Tränke, um seinen Freund den Durst, den er nach diesem Ritt mit Sicherheit hatte, stillen zu lassen. Es waren auch zwei Soldaten dort, die kurz aufsahen, um den Fremden zu mustern. "Ich muss furchtbar aussehen!" dachte er bei sich und versuchte etwas die wirren Haare zu entknoten. Aber nicht nur die Haare ließen ihn wie einen Landstreicher aussehen, auch sein Bart wuchs wie es ihm gefiel. Nichts war mehr übrig von dem stolzen Rohir, der in der Éored des Dritten Marschalls hatte mitreiten dürfen.

Die Soldaten wandten sich aber bald ab, um wieder mit den jungen Mädchen zu sprechen, die ihnen gegenüber standen. Als die Worte "ein Elb ist in der Stadt" fielen wurde Ceorl hellhörig, denn nur selten waren Elben in den Städten der Menschen zu sehen. Und ausgerechnet kurz vor dem Tag, an dem sich die, die den Silmaril suchen, treffen sollten. Ceorl lauschte noch eine geraume Zeit, bis endlich eines der Mädchen den Aufenthaltsort des Elben verriet. Er machte sich sofort auf den Weg, und nachdem ihm ein stinkender Fischhändler den Weg zum Gasthaus erklärt hatte, hielt er vor dem ihm beschriebenen Haus, das bei weitem nicht so heruntergekommen war, wie manch andere Bleibe in dieser Stadt.

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Ceorl setzte sich an einen Tisch und bestellte sich etwas zu essen, nachdem er sichergestellt hatte, dass Fylstan gut versorgt wurde, und er sich seine Haare neu geflochten und den Bart gestutzt hatte. Er beobachtete den Elben eine geraume Weile, bis er beschloss ihm etwas Gesellschaft zu leisten, denn es schien als würde er sich nicht besonders wohl fühlen. "Ich grüße Euch, Herr Elb. Mein Name ist Ceorl. Ich komme aus Rohan. Darf ich Euch etwas Gesellschaft leisten?" Der Elb sah ihn mißtrauisch an, deutete ihm aber dann, Platz zu nehmen. "Mein Name ist Neldor. Ich komme aus dem Düsterwald." "Was führt einen Elben so weit fort aus seinem Heim?" "Eine Geschichte." Ceorl sah ihn kurz an und musste dann lächeln. "Dann sind wir aus demselben Grund hier."

Ceorl war etwas erleichtert darüber, dass sich noch jemand hier eingefunden hatte, denn er wußte nichts über den Silmaril, weder seinen Aufenthaltsort, noch warum sich ausgerechnet hier die treffen sollten, die den Mut hatten sich auf die Suche zu machen, die sicher lang und beschwerlich sein würde. Aber jetzt war wenigstens ein Elb hier, und dieser Elb würde sicher vieles erklären können.

Oder?

Anm.:

2758-59: Wegen dem Langen Winter verhungern viele Menschen in Eriador, Rhovanion und Rohan. Dadurch, dass Rohan geschwächt ist, fällt Wulf ein und besetzt Edoras. König Helm und sein Sohn sterben, und sein Neffe, Fréaláf, vertreibt Wulf und wird König von Rohan. (Die Zweite Linie der Könige beginnt.) (HdR Anhänge)

Nárië Juni in Westron (Das Große Mittelerdelexikon)

1 Wegstunde 3 Meilen ( Nur wenn es jemanden interessiert ;-) (HAvME)