3. Kapitel
Sie war wieder eingeschlafen. Sie hatte es nicht gewollt- ihr Körper hatte sich einfach das genommen, was sie ihm nun schon seit Jahren vorzuenthalten versuchte. Tiefen, erholsamen Schlaf.
Im Traum war sie wieder ein Kind von zehn Jahren, ein kleiner, weinerlicher Lockenkopf mit schwarzen Kulleraugen .
Mit unterschlagenen Beinen saß sie inmitten der Stube des Bauernhofes, auf dem sie damals gelebt hatten. Sonst hatten hier verschiedene Einrichtungsgegenstände, ein Tisch, Stühle, Kästen und Truhen gestanden. Doch in diesem Traum war der Raum leer- bis auf sie und ihre Familie. In einem Kreis standen ihre Eltern und ihr kleiner Bruder um sie herum, sie ausdruckslos anblickend. Ihre Gesichter und Körper waren übersät von nässenden, schwärzlich gelben Wunden- hässliche Zeichnungen von den Pocken hervorgerufen. Ihre Augen waren leer- die Augen von Toten.
Doch sie standen aufrecht da, seltsam steif und in zerrissenen Gewändern und lächelten. Ein Lächeln, das ihre entstellten Gesichter in hässliche Grimassen verwandelte, so schrecklich anzusehen, dass Jerfy wegsehen wollte. Aber sie konnte es nicht. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht einmal ihre Augen konnte sie schließen. Aus irgendeinem Grund zwang eine grausame Macht sie, ihre tote Familie anzusehen.
Langsam begannen die Körper sich zu bewegen, auf sie zuzukommen, ihre verwesenden Hände nach ihrem Gesicht ausstreckend.
Jerfy konnte bereits das faule Fleisch riechen, nur noch wenige Augenblicke, und sie würde die zerstörten, kalten Körper fühlen. Ekel regte sich in ihr, und Angst, eine furchtbare, nicht gekannte Angst, die alles überstieg, was sie bisher empfunden hatte. Noch immer konnte sie sich nicht bewegen. Ihr Herz begann schmerzhaft schnell zu schlagen und kalter Angstschweiß stand auf ihrer Stirn.
"Sie verfolgen dich nun schon seit Jahren. Hast du es denn nicht satt?"
Woher kam diese Stimme?! Es klang, als spräche jemand direkt neben ihr, doch da war niemand.
"Willst du vergessen?"
Es war eine weibliche, sehr melodiöse Stimme. Fast wie ein Lied klang diese Frage.
Ob sie vergessen wollte?
Natürlich wollte sie das! Sie hätte alles dafür gegeben, wirklich a l l e s!!
Sie wollte wieder in Frieden schlafen können! Nicht bloß ihr Geist würde bald unter dieser ständigen Angst, mit der sie zu leben hatte, zusammenbrechen, nein, auch ihr Körper wurde schwächer und kränker mit jeder Nacht, die Jerfy sich zwang, wach zu bleiben. Sie konnte so nicht weiterleben. Sie würde verrückt werden, wenn sie es musste.
"Was muss ich tun?"
Skeptisch betrachtete Jerfy sich in einem blankpolierten Kochtopf. Sie trug den schwarzen Heeresmantel ihres Vaters, ein abgetragenes Reisekleid aus dem Besitz ihrer verstorbenen Mutter, das ihr um Welten zu groß war, und das Schwert, welches jahrelang unberührt über der Eingangstür der kleinen Fischerhütte gehangen hatte.
Den ganzen Morgen lang hatte sie nach den Sachen gesucht, die fast ein Jahrzehnt lang unberührt in einer Holztruhe gelegen hatten. Was sie nun trug, war zwar nicht unbedingt auf dem neuesten Stand der Mode und das Schwert war nicht einmal scharf genug, um Brot damit zu schneiden, aber immerhin ähnelte Jerfy nun doch eher einer Kriegerin als der jungen Fischerin, die sie war.
Mit einem dunklen Band bändigte sie ihre braune Lockenmähne zu einem unordentlichen Zopf, warf einen letzten Blick in den "Spiegel" und griff nach der einzigen Waffe, mit der sie etwas anzufangen wusste: Dem Kurzbogen ihres Vaters, mit dem sie als Kind hatte üben dürfen.
Bevor sie ihren Rucksack schulterte und nach draußen ging, um verfolgt von den neugierigen Blicken der anderen Fischer in die Stadt zu reisen, warf sie noch einen letzten Blick in ihre ärmliche Behausung.
Die Ritzen in der brüchigen Bretterwand hatte sie letzten Winter notdürftig mit Moos zugestopft, der Boden bestand aus gestampftem Lehm, den sie in mühevollster Arbeit vom Ufer des Glanduin hierher geschleppt hatte. Zwar gab es auch Lehm an den Uferbänken der Grauflut, aber er war nicht rein und verwitterte rasch.
In der hintersten Ecke des einzigen, großen Raumes stand ein schmales Holzbett mit einem Strohsack darauf- neben der Holztruhe, einem Tisch und ein paar Stühlen das einzige Möbelstück im Haus. Sie stammten noch aus dem Bauernhaus, welches nun von einer fremden Familie bewohnt wurde. Jerfy war es egal, dass nun Unbekannte in ihrem alten Zimmer schliefen. Sie war damals regelrecht von zuhause geflohen, und sie hatte nicht vor, je wieder einen Fuß in das Haus zu setzen.
"Wann wirst du wiederkommen?"
Es war Betta, eine gebrechliche alte Frau, die in der Hütte gegenüber wohnte. Sie saß auf einem Schemel vor dem Haus und hatte ein Netz auf ihren Knien liegen, das wohl geflickt werden musste.
Jerfy zuckte mit den Schultern. Sie konnte es nicht sagen.
Die Stimme der Frau hatte nichts von der Länge der Reise erwähnt.
"Gib auf mein Haus acht!", rief sie anstelle einer Antwort und winkte der Alten kurz zu, bevor sie schnellen Schrittes weiterging und das kleine Dorf am Ufer der Grauflut ein und für alle Male hinter sich ließ.
Im Gasthaus "Zum grauen Fluss" hatte sich bereits eine ansehnliche Menschenmenge versammelt.
"...zu diesem Zwecke haben sich die Wagemutigsten und Furchtlosesten von euch heute hier eingefunden, um nach dem Stein zu suchen!", rief gerade ein Mann, der sich auf einen Tisch im Zentrum der Gaststube gestellt hatte.
"Alle, die es wagen, die gefährliche Reise zu beschreiten, sollen jetzt zu mir vortreten!"
Augenblicklich wurde es leise in der gedrängt vollen Stube. Selbst am Schanktisch sah man für einige Momente von seinem Bier oder Wein auf und wartete voller Spannung, was nun geschehen würde.
Zwei Männer erhoben sich von ihren Plätzen, streiften die Kapuzen ab und traten durch eine Gasse in der Menge, die sich wie selbstverständlich vor ihnen bildete, zum Tisch hin.
Jerfy streckte den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die beiden besser sehen zu können.
"Mein Name ist Neldor, und ich bin im Auftrag König Thranduils hier", stellte sich der erste kurz vor. Ein ungläubiges Raunen ging durch die Reihen, und auch Jerfy riss überrascht die Augen auf. Ein Elb! Zwar sah sie bloß die obere Hälfte seines Gesichtes, aber das Murmeln um sie herum verriet ihr, dass es wohl tatsächlich einer vom alten Volk war.
"Und ich bin Ceorl aus Rohan- ich bin in meinem eigenen Auftrag hier."
Ein Rohir- auch etwas, was man nicht allzu oft zu Gesicht bekam, hier in Tharbad.
"Kommt dir der Bursche auch irgendwie bekannt vor?", flüsterte ein Mann vor ihr einem weiteren zu, der als Antwort unschlüssig mit den Schultern zuckte. "Weiß nicht. Ich hab das Gefühl, als müsste ich ihn kennen..."
Die beiden unterbrachen ihr Gespräch als sich eine dritte Gestalt sich aus der Zuschauermenge löste und zum Tisch hintrat. Jerfy hatte ihn schon öfter gesehen- es war eine Stadtwache.
"Ich heiße Baranor und werde den Silmaril im Namen der Bevölkerung Tharbads finden! Tharbad verfällt zusehends, und vielleicht ist dieser Stein die einzige Hoffnung, die uns bleibt!"
Wie zu erwarten brach Jubel aus und Rufe wie: "Hoch lebe Baranor!", und "Ganz Tharbad steht hinter dir!!", wurden hörbar. Aber seltsamerweise ließ Jerfy das Gerede des dunkelhaarigen Mannes kalt, auch wenn sie darüber erfreut hätte sein müssen. Schließlich hatte sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wie schlecht die Lage in der Stadt war.
Sie konnte nicht sagen wieso- doch seine edlen Gründe wollten nicht zu dem finster dreinschauenden Riesen in den blauen Kleidern der Stadtwache da vorne passen.
"Nun, ist sonst noch jemand hier, der sich der Herausforderung stellt?!" Der Redner ließ seinen Blick abwartend über die Köpfe der Anwesenden schweifen.
Nach einer Weile, in der sich keiner gemeldet hatte, wurden die Blicke gesenkt , man widmete sich zum größten Teil wieder seinen Bierkrügen.
Jerfys Herz begann schneller zu schlagen. Die Ellbogen zu Hilfe nehmend drängte sie sich zwischen den Männern, die sie beinahe alle um einen Kopf überragten, nach vorn.
All ihren Mut sammelnd rief sie dem Redner zu:
"Ich möchte mich der Gruppe anschließen!".
Entweder ignorierte der Sprecher sie absichtlich weil sie eine Frau war, oder er hatte sie einfach nicht gehört. Jedenfalls schien keiner von Jerfy Notiz zu nehmen. Nach einem weiteren, vergeblichen Versuch, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, kletterte Jerfy auf den Tisch und hob die Arme.
"Ich werde den Silmaril finden!!"
Und wirklich, einige Leute drehten sich nach ihr um.
Allerdings reagierten die meisten nicht wie erwartet: Viele drehten sich einfach wieder weg, andere grinsten amüsiert. "Sicher. Und danach besiegst du noch einen Drachen!", lärmte es in der Schenke, gefolgt von einem Chor von kehliger Lachern. Jerfy spürte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg und ihre Ohren zu glühen begannen. Gleichzeitig begann sie langsam zu verzweifeln. Warum hörte ihr niemand zu? War es denn wirklich abwegig, dass eine Frau sich für diese Aufgabe meldete?
"VERDAMMT, NUN HÖRT MIR DOCH MAL ZU!!!" Während sie das brüllte, zog sie fast ohne es zu wollen das Schwert und rammte seine Spitze in die Tischplatte. Es war wirklich erstaunlich, wie schnell Ruhe im Raum einkehrte. Der Redner brach ein Gespräch ab, das er mit einigen Männern geführt hatte, und drehte sich erstaunt zu ihr um.
Jerfy seufzte erleichtert. Na endlich!
"Mein Name ist Jerfy, und ich werde mich mit den anderen auf die Suche nach dem Silmaril machen!"
Schweigen. Hie und da ein unwilliges Murren und etwas Geflüster.
"Woher kommt Ihr, und in wessen Auftrag handelt Ihr?"
Es war Ceorl, der Rohir. Auch er hatte die Unterhaltung, die er mit den beiden anderen Kriegern geführt hatte, unterbrochen und musterte sie interessiert.
"Ich wurde in der Nähe von Tharbor geboren und handle, wie Ihr, Ceorl, bloß in meinem eigenen Interesse."
Ceorl lächelte, wohl amüsiert über die junge Frau, die sich für eine Kriegerin hielt.
"Könnt Ihr kämpfen?"
Hinter Jerfys Stirn begann es zu arbeiten. Sie räusperte sich und strich nervös über das Schwert an ihrer Seite. "Mein Vater hat mich das Kämpfen gelehrt", behauptete sie. Ihre Mundwinkel zuckten vor Nervosität.
"Und wer war Euer Vater?"
"Ein...Landbesitzer". - Was nicht einmal gelogen war.
"Und...?" Ceorls Augenbrauen wanderten misstrauisch nach oben.
"...ein weiser Mann", beendete Jerfy lächelnd, "doch lasst uns solche Unwichtigkeiten ein anderes Mal besprechen. Nun möchte ich zuerst einmal wissen, ob ich mich euch anschließen darf oder nicht."
"Natürlich dürft Ihr", antwortete der Elb namens Neldor an der Stelle des Rohir, "warum auch nicht? Etwas weibliche Intuition kann uns sicher von Nutzen sein!" Neugierig musterte sie den Elben. Er hatte schulterlanges, rabenschwarzes Haar, war mindestens zwei Köpfe größer als sie und betrachtete sie mit einem Blick, der einen wirklich nervös machen konnte. Wie alt er wohl war? Zwei-, dreitausend Jahre?
"Danke, Neldor", grinste sie und nahm dankbar seine Hand zur Hilfe, als sie vom Tisch stieg. "Nun, und was sagt der Rest der Gruppe dazu?", wollte sie wissen.
Baranor brummte irgendetwas in seinen schwarzen Bart hinein was sich wie ein begeisterungsloses : "Von mir aus", anhörte und auch Ceorl schien keine weiteren Einwände zu haben. Seine braunen Augen maßen sie allerdings weiterhin abschätzend, als ahnte er, wer sie wirklich war.
Der Redner hatte sich währenddessen wieder an das Publikum gewandt und ein letztes Mal richtete sich die Aufmerksamkeit der Leute auf ihn.
"Nun, dann sind es also vier Gefährten. In zwei Tagen werden unsere Helden abreisen- wir wollen noch eine Weile warten- vielleicht kommt jemand, der sich verspätet hat! Und nun lasst euch euer Abendmahl schmecken!"
"Lasst uns etwas essen!", schlug Neldor vor und wies auf einen frei gewordenen Platz, "bei dieser Gelegenheit kann unsere neue Weggefährtin uns gleich erzählen, was sie über den Silmaril weiß."
Jerfy grinste. "Bis auf die Tatsache, dass er existiert weiß ich bloß, dass er anscheinend Wünsche erfüllen kann."
Baranor lächelte, als wüsste er um ein Geheimnis und Neldor lächelte bloß schulterzuckend. "Das werden wir herausfinden, wenn wir ihn gefunden haben."
Ceorl allerdings sah sie auf eine Weise an, die ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.
Ceorl war nicht ganz so unsympathisch, wie sie am Anfang gedacht hatte.
Baranor hingegen schien ihr nach wie vor merkwürdig. Die Rolle des selbstlosen Kämpfers, der zum Wohle der Stadt auf Reichtum und Macht verzichten würde, passte einfach nicht zu ihm. Er hatte sie weder beleidigt noch sonst irgendwelche auffälligen Äußerungen gemacht- aber gerade seine Verschwiegenheit machte ihn noch verdächtiger.
Wie auch immer, Jerfy mochte ihn nicht und hatte die dumpfe Ahnung, dass er bloß Ärger bringen würde.
Müde schloss sie die Zimmertür hinter sich ab, legte ihre Waffen vorsichtig auf einen Tisch und nahm Rucksack und Mantel von den Schultern. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über die in der Abenddämmerung liegende Stadt schweifen.
Was tat sie hier eigentlich? Sie war keine Kriegerin. Im Gegenteil, sie war ängstlich wie ein Kind- sie panische Angst davor, nachts alleine durch dunkle Gassen zu gehen, sie ekelte sich unsagbar vor fetten Käfern und sie fürchtete sich vor Leichen- was seine berechtigten Gründe hatte.
Die Pest hatte sie damals aus irgendeinem Grund verschont. Möglicherweise hatte sie ja noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen.
Sie öffnete das Fenster und atmete die kühle, frische Abendluft genüsslich ein. Den ganzen Tag über war es unerträglich schwül gewesen. Nun zogen sich am Himmel dunkle Gewitterwolken zusammen und der Wind begann immer stärker zu wehen.
In der Nacht würde es wohl ein heftiges Unwetter geben. Das war gut. Bei Gewittern konnte sie ohnehin nicht schlafen, also brauchte sie sich nicht mit irgendwelchen unsinnigen Arbeiten wach zu halten.
Sie suchte nach einer Kerze, zündete sie an und vernahm plötzlich gedämpfte Stimmen durch die Tür.
Es hörte sich eindeutig nach Streit an. Verschlafen trat sie auf den Gang vor ihrem Zimmer und lauschte. Die Stimmen kamen von unten, aus der Wirtsstube.
Ein Streit?
Neugierig nahm sie die Kerze und schlich die Treppe hinab, um nachzusehen, was da los war.
