Das Foto
Nachdenklich lungerte Harry auf seinem Bett und starrte an die Decke. Zwei Wochen waren vergangen seit Petunia diese merkwürdige Offenbarung hatte. Es war keine Antwort von Lupin gekommen, nur Ron hatte einmal geschrieben, Harry hatte nicht zurückgeschrieben.
Seine Stimmung war äusserlich ähnlich der von Tante Petunia geworden, gleichgültig. Er sprach mit niemandem und lag oder sass die meiste Zeit in seinem Zimmer. Vor zwei Wochen war er im Geiste noch voller Tatendrang gewesen, nun hatte er zu nichts mehr Lust. Er zwang sich legendlich noch dazu den Tagespropheten zu lesen und die Nachrichten der Muggel sich anzusehen.
Mit Tante Petunia hatte er seit diesem Tag nicht mehr gesprochen und auch sie war ihm so gut es ging aus dem Weg gegangen. Selbst mit ihrem heissgeliebten Sohnemann und ihrem Ehemann hatte sie wenig gesprochen. Dudley bemerkte dies natürlich nicht, denn einerseits war einfach nur doof und anderseits war er ziemlich oft mit seinen „Freunden"unterwegs, um seine beängstigend grossen Muskeln bei kleinen Kindern spielen zu lassen. Wenigstens Onkel Vernon hätte doch die Veränderungen seiner Frau bemerken sollen, so glaubte Harry – Fehlanzeige. Entweder war Onkel Vernon seine Frau egal oder er stellte sich taub, stumm und blind.
Harry hatte sein Zimmer verwahrlost – es stank. Hedwigs Käfig war nicht geputzt und seine Schmutzwäsche lag überall am Boden verstreut und irgendwo lagen ein paar Essensreste herum.
Schon lange hatte er es aufgeben etwas gegen seine Langeweile zu unternehmen. Er lebte nur noch vor sich hin und wartete auf irgendjemanden in der Aussenwelt – womit die Zauberergesellschaft gemeint war – der ihn noch nicht ganz vergessen hatte.
Harry hatte immer noch diese merkwürdigen Albträume, am Tag dachte er jedoch an nichts mehr, nicht einmal an Sirius. Vielleicht brachte es ihm etwas für Okklementik, er wusste es nicht und wenn er ehrlich sein sollte, interessierte es ihn auch nicht wirklich.
In den seltenen Momenten in welchen er einmal sein Hirn benutzte, spürte nur eine Wut, die irgendwo tief in ihm steckte, eine Wut auf alles und jeden. Wut auf Ron und Hermine, die wahrscheinlich ihren Spass hatten, während er in einem stinkenden, heissen Zimmer lag, auf Sirius, der einfach so, ihn, den berühmten Harry Potter alleine gelassen hatte, auf Lupin, der ihm eine Antwort schuldig war, auf Petunia, die solch merkwürdige Dinge erzählt hatte, die er eigentlich gar nicht hatte wissen wollte, auf Voldemort, der eh an allem Schuld war, auf Cho, die nicht die war, für die er sie gehalten hatte, auf Dumbledore, der ihm nicht früher seine missliche Lage erklärt hatte und auf so viele mehr.
Es wurde noch zwei Wochen dauern bis zu dem Tag, an dem er letztes Jahr abgeholt worden war, in Wirklichkeit machte er sich jedoch keine grossen Hoffnungen für diesen Tag.
Harry drehte sich um und seufzte, da hörte Harry plötzlich einen lauten Knall und etwas, das sich wie etwas anhörte, was gerade irgendwo runterrutschte.
„Erol", flüsterte Harry.
Für die Situation schon fast unanständig langsam öffnete Harry das Fenster, gegen welches die steinalte Eule der Weasleys gerade geflogen war. Nur eine Sekunde bevor sie auf den gepflegten Rasen der Dursleys geplumpst wäre, packte Harry die Eule, doch es war nicht Erol, auch wenn sie nicht minder betagt war. Um das rechte Bein der Eule war ein Briefumschlag gebunden. In Zeitlupentempo öffnete Harry den Briefumschlag und ein doch etwas älteres Foto fiel aus dem Umschlag. Es dauerte seine Zeit, bis Harry begriff, dass der Inhalt des Umschlags auf sein unortendliches Kleidergewühl gefallen war. Er bückte sich wie ein 80 Jähriger nach dem Foto. Die Rückseite zeigte nach Oben. Harry nahm das Foto, ohne es sich anzusehen, und setzte sich auf sein Bett, dann las er, was auf der Rückseite mit einer sauberen, etwas kindlichen Schrift geschrieben stand.
„Räum deinen Saustall auf und packe, es wird nicht mehr lange dauern."
Harry klappte der Mund auf und vor lauter Erstaunen und vielleicht auch vor Freude, über die überraschend frühe Möglichkeit der Flucht vor den Dursleys, vergass er das Foto und der alte Eifer und Tatendrang machte sich wieder bemerkbar.
Er weckte die schlummernde Hedwig und sagte voller Freude: „Wir können bald weg von hier. Und... ähm... mach Platz für die hier", er stopfte die halb tote Eule in Hedwigs Käfig
Die Eule machte ein Gesicht, als zwinge Harry sie, ihren Käfig mit einem von Hagrids Krötern zu teilen.
Harry liess keinen Dämpfer auf seine gute Laune zu und holte den grossen Hogwartskoffer unter seinem Bett hervor und packte seine Schulsachen, persönliche Gegenstände und seine wenigen noch sauberen Kleider ein.
Den ganzen restlichen Tag war damit beschäftigt seine Wäsche zu waschen und sein Zimmer wieder mehr oder weniger so herzurichten, dass ein menschliches Wesen darin leben konnte.
Als er fertig damit war ging er gut gelaunt und pfeifend in die Küche der Dursleys. Ausnahmsweise war der Herr Sohn zu Hause, vielleicht lag es daran, dass es draussen in Strömen regnete. Er sass neben dem Kühlschrank, stopfte Popcorn und ein Salamisandwich in sich hinein und starrte mit seinen Schweinchenaugen auf die Glotze. Harry wollte sich etwas zu Essen machen und musste sich an Dudley vorbeiquetschen.
Dudley machte sich nicht die Mühe sich von der Stelle zu rühren und knurrte nur leise: „Na, Missgeburt, verschwindest du bald von hier?"
„Ja, das tue ich, Gott sei Dank", knurrte Harry zurück, dann lächelte er und fügte hinzu: „Es ist merkwürdig, dass mich jemand Missgeburt nennt, der Big D genannt wird, schon mal den Ringelschwanz eines Schweinchens hatte und eine fünf Meter lange Zunge."
Dudley wurde rot vor Wut und vor Scham, hielt jedoch seine fette Klappe.
Harry nahm sich ein Glas Essiggurken mit auf sein Zimmer und legte sich auf sein Bett, er bemerkte dabei nicht, dass ein vergilbtes schwarz-weiss Foto von seinem Bett fiel und auf dem Boden landete.
Ungewöhnlich früh fiel Harry in einen schwachen Schlaf. Er träumte von Tante Magdas Lieblingshund, einer uralten, verzogenen Bulldoge, die gerade Sirius versuchte zu beissen, bis dieser seinen Zauberstab hob und „Avada Kedabra"schrie. Harry hatte diesen Köter immer gehasst, aber er wollte nicht, dass Sirius ihn umbringt, laut schrie Harry: „Sirius, NEIN!!!! Hör auf!!!!"
Harry wachte schweissgebadet und keuchend auf. Ein komisches Gefühl in der Magengegend, als würde er irgendwo in die Tiefe Stürzen, machte sich bemerkbar.
„Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte jemand mit falscher Besorgnis in der Stimme. Obwohl es bereits dunkel war und Harry nicht sehen konnte, wer da sprach, erkannte er die Stimme sofort.
„Onkel Vernon?"
„Kann ich rein kommen?", fragte Onkel Vernon, der in der versehentlich offen gelassen Tür stand, gewählt höfflich und doch mit unüberhörbaren Abschaum in der Stimme.
Harry wusste zwar, dass Onkel Vernon, derjenige war, der Moodys Drohung am ernstesten genommen hatte, trotzdem, so etwas hätte er niemals erwartet.
Onkel Vernon wartete nicht auf eine Antwort, er trat in Harrys Zimmer und betätigte den Lichtschalter, dann setzte er sich vor Harrys Schreibtisch auf dessen Stuhl.
„Was war denn das eben?", fragte Onkel Vernon, ohne Floskeln.
„Nichts, nur ein Albtraum, nichts weiter."
„Wer ist Sirius?", fragte Onkel Vernon weiter.
„Hör mal, Onkel Vernon, was soll das. Ich meine du warst zuvor, glaube, ich nur einmal in meinem Zimmer und da habe ich noch im Schrank unter der Treppe gewohnt und ansonsten interessiert es dich einen Scheissdreck, wegen wem ich Albträume habe."
Harry war nun ziemlich wütend. Es war in Ordnung so lange diese schreckliche Familie ihn in Ruhe liess, aber Onkel Vernon brauchte nicht so zu tun, als ob Harry ihm irgendetwas bedeuten würde.
„Is ja gut, is ja gut", beschwichtigte Onkel Vernon seinen angeheirateten Neffen.
„Ich meine nur... na ja... Dudley hat gesagt, dass du bald gehst. Wir waren doch nett zu dir, oder?"
Aha, es ging also darum, das hätte Harry sich ja denken können.
Genervt antwortete er: „Ja, das wart ihr. Ich werde euch nicht anschwärzen. Darf ich jetzt weiterschlafen?", in Wirklichkeit dachte er gar nicht ans Schlafen. Das würde er sowieso nicht zu Stande bringen, er wollte nur diesen fetten, hässlichen, falschen, schon etwas angegrauten Mann aus seinem verdammten Zimmer.
„Natürlich... ähm... gute Nacht."
Harry schnaubte nur und drehte sich zur Seite.
Onkel Vernon wollte gerade aufstehen und gehen, da sagte er mit erstaunter Stimme: „Was ist denn das?"
„Was?", fragte Harry, der sich wieder zu Onkel Vernon gedreht hatte, überrascht.
„Na das."Onkel Vernon zeigte auf das Foto einer jungen Frau.
Harry stand auf und bückte sich nach dem Foto und, wie in Trance starrte er das Bild an.
Darauf abgebildet war eine junge Frau oder ein Mädchen, nur wenig älter, als Harry nun war. Auf der beweglichen Fotografie trug sie ein eng anliegendes traumhaft schönes Kleides, welches geschickt ihre Rundungen verbarg. Das Mädchen tanzte zu nicht hörbarer Musik und lachte dabei so wunderschön, dass Harry glaubte von fern ein glockenreines Lachen zu hören. Auch Onkel Vernon, der durch das Bild, auf dem eine Frau tanzte zwar etwas irritiert war, staunte über diese Frau.
Sie war nicht das, was man im Allgemeinen schön nennt, aber sie hatte etwas exotisches, etwas geheimnisvolles und sehr spezielles, doch sie war schön.
Sie hatte langes, glattes, sehr dunkles Haar, grosse Augen und einen sinnlichen Mund.
Sie lachte, sie lachte und ab und zu sahen sie, wie sich ihre Lippen bewegten, als rufe sie jemanden. Immer wieder schüttelte sie das lange Haar über ihren schlanken Nacken. Die Zeit schien still zu stehen. Sowohl Onkel Vernon, als auch Harry fixierten das etwas vergilbte Foto einer wahren Schönheit.
Sie wussten nicht, wie lange sie das Bild angestarrt hatten, plötzlich rief eine schrille Stimme, welche die Schönheit des Momentes wie mit einem scharfen Messer durchschnitt: „Vernon, wo bleibst du?" Harry war nun der Erste, der seine Sprache wieder gewann: „Ich glaube das gehört mir."
Onkel Vernon schwieg und wenig später verliess er Harrys Zimmer wirklich. Er würde es nie wieder betreten.
Harry hatte das Foto immer noch in seiner Hand. Er starrte es während er sich in sein Bett legte weiter an und bis er einschlief, umklammerte er es fast. Wer war dieses bezaubernde Mädchen? Ein Mädchen, wie er es zuvor nie gesehen hatte. Lebte sie noch? Wie alt sie jetzt wohl war...
