Kapitel 12: Hoffnung
"Nein!" Anie blinzelte um sich ganz sicher zu sein, dass sie nicht halluzinierte. „Was macht ihr denn hier?"
„Wir besuchen unsere Schwester!", Jens, ihr zwei Jahre ältere Bruder strahlte sie an.
„Mein Gott, Süße, was machst du denn? Wir zumindestens haben uns riesige Sorgen um dich gemacht.", ergänzte ihre Schwester Kirsten, die drei Jahre junger als sie war.
„Ihr seid jetzt nicht extra wegen mir hergekommen, oder?", fragte Stephanie ungläubigwobei sie versuchte sich aufzurichten, jedoch kläglich versagte.
Sie erzählten ihr, dass Michael sie noch am Tag angerufen hatte und sie sich beide sofort darum gekümmert hatten Urlaub und einen Flug in die USA zu bekommen. Kirsten sei aus Hamburg schließlich zu ihrem Bruder nach Berlin gefahren und zusammen mit ihm in die Staaten geflogen. Michael habe sie dann vor einigen Stunden am MIA abgeholt.
„Hast du es ihr schon gesagt?", Calleigh trat näher an H heran, der jetzt das Tape aus dem Rekorder entfernte.
„Bis du verrückt?", er schaute sie mit großen Augen an. „Sie ist gerade ein paar Minuten wach gewesen..."
„Irgendwann muss sie es erfahren, je früher, desto besser.", sagte Calleigh mit Nachdruck.
„Ja, aber doch nicht jetzt!", Horatio blickte zur Decke. „Wir sollten warten, bis sie von der Intensivstation runter ist, bevor wir ihr sagen, dass Kent noch lebt, okay?"
Zwar freute sie sich ihre Familie um sich zu haben, aber irgendwie fühlte sie sich erleichtert, als diese gegen 17:30 Uhr von einem Arzt nach Hause geschickt wurde und sie etwas Ruhe hatte. Vier Personen auf einmal waren etwas zu anstrengend. Horatio schaute am nach Feierabend noch einmal vorbei, erzählte ihr, dass Jeffrey Malcom von Mr Cook persönlich auf unbestimmte Zeit vom Dienst suspendiert worden war, das Team versuchte so gut es ginge mit einem Mitglied weniger auszukommen und übermittelte die Grüße ihrer Kollegen.
Es vergingen weitere vier Tage, die Anie auf der Intensivstation verbrachte. Langweilig wurde es für sie jedoch nie, da sie in diesen Tagen Besuch von ihrem Team, ihren Eltern und Geschwistern, Pablo und Yelina bekam. Ihre Familie besuchte sie jeden Mittag, Horatio kam jedes Mal bevor und nachdem er im Büro war vorbei. Am Sonntag blieb er sogar den ganzen Vor- und Nachmittag.
Am Dienstagmorgen kam der Stationsarzt Dr. Parker zu ihr.
„Ms Bremer, wie geht es ihnen heute?"
Anie, die sich mittlerweile aufrichten konnte, tat dies und sagte mit einer deutlich kräftigeren Stimme als noch vor vier Tagen:
„Danke, Doc... ich fühle mich schon viel besser..."
„Und genau deswegen werden sie heute auf die innere Station verlegt.", sagte der Arzt mit einem letzten, prüfenden Blick in Anies Krankenakte. „Ihre Werte sind alle im Normalbereich, das Fieber der letzten Tage ist weg und wir wollen doch alle, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine kommen."
Seine Patientin nickte strahlend und deutete dann auf das EKG und die Infusion.
„Ich hoffe, dann erlösen sie mich auch von den Sachen hier, oder?"
„Natürlich, das EKG wird gleich abgestellt und ihre Infusion kommt heute Nachmittag raus."
„Hey, super, dann kann ich mich endlich wieder mal im Bett umdrehen... mein Rücken ist schon ganz wund."
Der Arzt lachte. Im nächsten Moment stand Horatio in der Tür.
„Hey, was ist denn hier los?", fragte er erstaunt, als der Arzt begann das EKG auszuschalten.
„Aufbruchstimmung, mein Lieber! Ich werde verlegt."
„Das ist ja großartig...", war das einzige was H dazu sagen konnte, da wurde er auch schon von zwei Krankenschwestern beiseite geschoben, die Stephanies Infusion an ihrem Bett befestigten und den Schlauch des Beatmungsgerätes, sowie die Elektroden des EKGs entfernten. Eine sagte:
„So, Ms Bremer. Wir konnten ein großes Einzelzimmer für sie reservieren. Das ist ja wohl auch nötig, bei dem Besucheransturm, der bei ihnen ständig herrscht."
Dann richtete sie sich an Horatio:
„Junger Mann, wenn sie gleich noch zu ihr wollen, fahren sie doch mit dem Besucherlift schon einmal in den 14. Stock, ja? Es ist Zimmer 1403. Wenn sie aus dem Fahrstuhl kommen, den hinteren, linken Gang fast ganz runter."
„Ja, okay. Bis gleich.", sagte er ganz überrumpelt und machte sich auf den Weg zum Lift.
Während die Schwestern Stephanie zum Patientenlift schoben fragte die zweite:
„Dieser Lieutenant... ist das ihr Partner?"
Anie zog eine Augenbraue hoch.
„Wie meinen sie das? Beruflich oder privat?"
Sie lächelte Anie an: „Beides..."
„Nunja, beruflich bin ich seine Stellvertreterin bei den hiesigen CSIs und privat geht... ähm... Nichts.", sagte sie und fügte in Gedanken ein Soweit ich weiß hinzu.
Die Krankenschwestern schauten sie ungläubig an, bis die erste sagte:
„Kleines... ich möchte mich ja nicht in ihr Privatleben einmischen, aber dafür, dass angeblich nichts zwischen ihnen läuft ist er ziemlich oft hier..."
Ein bisschen in Gedanken sagte Anie:
„Tja, es soll ja vorkommen, dass es zwischen Männern und Frauen auch noch rein platonische Freundschaften gibt... Ladies..."
„Gute Freundschaft... platonisch... hum?"
Die Schwestern grinsten sich an und schwiegen, bis sie Anie aus dem Lift schoben.
„Sie haben Glück Ms Bremer. Westseite. Bombastischer Ausblick und himmlische Sonnenuntergänge...", sagte die erste.
„Und wie oft werde ich diese Sonnenuntergange erleben müssen?", wollte Anie wissen.
„Naja, so 18 bis 21 mal."
„WAS???", Stephanie fuhr blitzschnell hoch um von beiden Pflegerinnen mit sanfter Gewalt wieder ins ihr Kissen gedrückt zu werden. „Sie wollen mich doch nicht drei Wochen hier behalten, oder?"
Die drei waren mittlerweile bei Anies Zimmer angekommen. H wartete schon an der Tür.
„Wenn sie Glück haben werden es zwei."
„Zwei Wochen?", sie blickte verzweifelt in die Runde, während eine der beiden die Türe zu ihrem neuen Domizil öffnete. „Warum müssen sie es denn gleich so übertreiben? Eine Woche ist doch vollkommen ausreichend."
„Das besprechen sie am besten mit ihrem Arzt... also.", sie stellten das Bett an seiner vorgesehenen Stelle im Raum ab und verabschiedeten sich mit den Worten:
„Ihr Kollege hier wird ihnen sicherlich auch in den nächsten Tagen Gesellschaft leisten! Gute Besserung!"
„Na, super!", sie ließ sich in ihr Kissen fallen und kommentierte Horatios Gesichtsausdruck: „Da lachst du wieder, hum? Die wollen mich hier zwei bis drei Wochen festhalten und du lachst... jetzt weiß ich ja, was du von mir hältst!", sie drehte sich von ihm weg, verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Und sagte beleidigt: „Pah, sag doch, dass du froh bist mich los zu sein."
Horatio stieg in das Spielchen ein:
„Und was wäre, wenn ich wirklich froh sein würde?", fragte er herausfordernd.
„Dann könntest du gleich wieder verschwinden..."
„Und wenn ich das nicht machen würde? ..."
„...kämest du zu spät zur Arbeit!"
„Und wenn mir das egal sein würde?"
Sie drehte sich wieder zu ihm, schielte ihn von oben herab an und sagte:
„Sag mal, Kleiner... Möchtest du dich ernsthaft mit mir anlegen?"
Horatio, der auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß, stützte seine Ellenbögen auf seine Knie und schaute zu ihr hoch, während er sagte:
„Ach, Quatsch, ich hätte doch keine Chance..."
„Na das will ich doch gemeint haben...", sagte sie und lächelte ihn freundlich an.
Während Anie mit Hilfe ihrer Familie versuchte wieder in ein normales Leben zurückzukehren, indem ihre Mutter ihr half aus dem OP-Hemdchen in normale Joggingkleidung zu wechseln, ihr Bruder ihr Unterhaltung in Form von Büchern und Musik mitbrachte und die Krankenschwestern ihr bei Aufstehen und gehen halfen, verbrachten die CSIs, ohne, dass Anie etwas davon wusste immer noch einen Teil ihrer Zeit damit die Gerichtsverhandlung von Mario Kent vorzubereiten.
Horatio erschrak, als er am Morgen des achten Tages nach Anies Verlegung in Zimmer 1403 keine Anie vorfand. Die Bettdecke war ordentlich zurückgeschlagen, ihre Sachen lagen sortiert auf dem Nachtschrank, in ihren Schrank zu gucken erschien Horatio etwas taktlos. Er ging weiter in den Raum herein und schaute sich um, als eine Stimme hinter ihm sagte:
„Suchst du etwas Bestimmtes?"
Er fuhr herum. Hinter ihm stand Anie auf Krücken und schloss gerade die Zimmertür hinter sich. Eine gewisse Erleichterung in seiner Stimme war unverkennbar, als er fragte:
„Ja... dich. Wo warst du?"
„Ich habe eine kleine Morgenrunde gedreht.", war ihre Antwort.
„Alleine?", fragte H ungläubig und schaute auf ihr geschientes Bein.
„Nein, mit meinem bösen Klon!", sie schielte ihn von unten heran an. „Natürlich war ich alleine!"
„Ha, ha!", er hob tadelnd den Zeigefinger. „Denkst du nicht, dass es ein wenig riskant ist alleine herumzulaufen? Hättest du nicht eine Krankenschwester fragen können?"
Anie bewegte sich erstaunlich zügig auf ihr Bett zu wobei sie antwortete:
„Nein, Papa!", sie ließ sich auf ihr Bett fallen und ergänzte: „Horatio... es ist vollkommen okay, wenn ihr alle euch ein bissl Sorgen um mich macht, aber irgendwann muss es auch mal gut sein... ich bin schließlich fast 40 und nicht fast vier!"
H kam nicht mehr zu Wort, da es in diesem Moment an der Tür klopfte und Anies Geschwister eintraten.
Nachdem Stephanie Horatio, Kirsten und Jens bekannt gemacht hatte, ergriff die jüngere Schwester das Wort:
„Anie, Jens und ich fliegen für vier Tage, sprich von heute bis Samstag nach New York zu Grandma und Grandpa. Wir wollten uns nur von dir verabschieden."
„Wann geht der Flieger?", fragte Anie nach.
„In dreieinhalb Stunden. Daddy bringt uns zum Flughafen und will danach hier vorbeikommen.", erklärte Jens. Dann ging er auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen.
„So, meine Kleine. Pass auf dich auf und wird nicht zu übermütig..."
„Ha Ha! Grüßt die beiden ganz lieb von mir und sagt, dass ich sie so bald wie möglich besuchen kommen werde, okay?"
„Machen wir.", sagte Kirsten und drückte sie ebenfalls. „Und du siehst zu, dass du gesund wirst, am Samstag will ich Erfolge sehen!"
Anie lachte.
„Ich geb mein Bestes. Bis Samstag, ihr zwei. Guten Flug!"
Als die Beiden den Raum verlassen wollten sagte H, der die Szene interessiert beobachtet hatte:
„Warten sie, ich werde jetzt auch gehen, ich muss ins Büro... Bis nachher Anie!"
„Ja... ähm... okay. Bis nachher.", sie winkte zum Abschied un begann dann das fünfte Buch in den letzten Tagen zu lesen.
Es war Freitagabend, halb neun, als Horatio mal wieder nach dem Dienst bei Anie vorbeischaute.
„Klopf, Klopf.", meldete er sich an.
„Hey, Horatio! Komm rein.", sie stand am Fenster und schaute dorthin, wo im Westen die Sonne in einem beeindruckenden Farbenspiel unterging. Sie tauchte Stephanies Gesicht in ein mildes Licht und spiegelte sich als glühend roter Feuerball in ihren unglaublich grünen Augen wieder.
„Wow.", Horatio stellte sich neben sie und schaute gen Himmel.
„Unglaublich, oder?", fragte sie.
„Unglaublich...", bestätigte H und schaute ihr tief in die Augen. Stephanie seufzte:
„Mir wird jetzt erst richtig bewusst, dass ich so etwas beinahe hätte nicht mehr erleben sollen...", sie senkte den Blick für einen Moment. „Habe ich mich eigentlich schon anständig bei dir bedankt?"
„Wofür?", fragte H leise.
„Nun, wenn du das Team nicht so angetrieben hättest, wäre ich nicht mehr hier... ihr habt mir das Leben gerettet.", sagte sie ernst und lehnte sich etwas vor um seinen Blick zu erlangen. „Danke." Sie schenkte ihm ein unwiderstehliches Lächeln.
„Tja, was soll ich dazu sagen? Wahrscheinlich hätte jeder in meiner Situation so gehandelt, hum? ..."
„Wahrscheinlich... hmm... trotzdem danke."Stephanie löste die Arme aus ihrer Verschränkung und legte ihm die linke Hand auf die Schulter. „Ich hoffe, dass ich mich in dieser Größenordnung nie revanchieren muss."
H blickte zu Boden. Nach ein paar Sekunden sagte er:
„Ich glaube wir sind quitt... ähm ich habe mich für jemanden revanchiert, der es selber nicht mehr kann..."
Sie wollte ihre Hand von seiner Schulter nehmen und sich wegdrehen, doch Horatio hielt ihre Hand mit seiner rechten fest, dann griff er mit seiner linken langsam zu ihrer rechten Hand, sodass er letztendlich beide vor seinem Körper festhielt und ihr mit schräg gehaltenem Kopf tief in die Augen sah.
„Stephanie. An dem Abend... hat Yelina mir erzählt, dass du dir Vorwürfe deswegen gemacht hast... Ich bin nicht sauer, dass du es mir nicht gesagt hast...", sie wollte ihn unterbrechen, doch er sprach weiter. „Ich habe doch keinen Grund dazu... Ich bin dir sehr, sehr dankbar..."
Anie schluckte und sagte dann leise:
„Weißt du Horatio. Ich rede nicht gerne darüber, weil Ray ein verdammt guter Kumpel von mir war... und ich habe einfach nicht den passenden Zeitpunkt gefunden... ähm..."
„Shh...", Horatio ging noch etwas näher an sie heran und legte ihr den rechten Zeigefinger auf die Lippen, bevor sie sich rechtfertigen konnte. „Es ist okay, Anie... es ist einfach okay..."
Endlose Augenblicke verharrten sie in dieser engen Position, einander in die Augen blickend, schweigend. Schließlich nahm Horatio seinen Zeigefinger von ihren Lippen und strich ihr über die linke Wange. Sie seufzte leise und lehnte sich etwas gegen diese Hand um die Berührung zu intensivieren. Beide spürten, wie ihnen wärmer wurde, der Puls zu steigen begann und wie sich ein vollkommen neues Gefühl in dieser Situation breit zu machen begann: Verlangen.
Ihre Gesichter näherten sich langsam, H zog Stephanie vorsichtig näher an sich heran, indem er die linke Hand auf den unteren Teil ihres Rückens legte. Sie spürten den heißen Atem des jeweils anderen auf der Haut und schlossen beide synchron die Augen, als ihre Lippen sich fast berührten.
