My whole world surrounds you, without you I will fall…
Tokio Tower…
Es war noch dunkel draußen als Tenshi wieder aufwachte. Das Mondlicht durchflutete sanft den Raum und lies alles in ihm wie aus einem Traum erscheinen, was auch der Grund war weshalb Tenshi mehrmals blinzeln musste bevor sie sich daran erinnerte was geschehen war. Das plötzliche Gefühl von warmen Atem auf ihrem Gesicht lies sie erschrecken. Sie fühlte wie Hitze in ihre Wangen stieg als sie bemerkte, dass es Subarus war. Seine Stirn lehnte an ihre, vermutlich war sein Kopf während er schlief schwer geworden und auf ihren gerutscht. Die unmittelbare Nähe seiner Lippen jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Im langsamen Rhythmus stießen sie immer wieder Atem aus, dessen Wärme zwischen seinen und ihren Lippen hängen blieb. Es war grade zu herausfordernd. Sie spürte ihn überall. Sein Arme um ihren Rücken und an ihrer Taille, seinen Schoß unter ihr und seine Brust an ihrer. Es war ein so angenehmes Gefühl einfach nur in seinen Armen zu liegen, scheinbar geschützt von allem Schlimmen was ihr jemals in ihrem Leben begegnet war und noch würde. Sogar das mit Yuzuriha...
Zum ersten Mal waren all ihre Gedanken Still. Die Fragen hatten aufgehört zu kommen wissend, dass es keine Antworten mehr gab. Sie versteckten sich wieder in jener fernen Ecke ihres Verstandes, still und leise, wie ein Schatten der sich ungehindert und unerkannt über ihr Gemüt legte. Gestern hatte sie gesagt bekommen, dass ihr ganzes Leben manipuliert und falsch war, doch auch diese Manipulation war nur durch jene Emotion entstanden, die ihr genommen werden sollte. Jene die sie hier hielt. Die sie diese Geborgenheit fühlen ließ. Liebe. Plötzliche Zweifel ebbten über sie. Wie weit würde sie selbst gehen? Vielleicht hatte sie nicht das Recht Subarus Großmutter zu verurteilen, denn schließlich begann auch sie langsam den Schmerz und das Leid was diese Emotion mit sich trug zu verstehen. Wie von selbst suchte sich ihre Hand hinauf zu dem Verband über Subarus Auge. Schon allein als das geschah war ihr Herz am zerbrechen...
Plötzlich fokussierte ihre Blick sich auf ihre linke Hand die perfekt mit Subarus Verband über dem Auge harmonierte. Sie war dick bandagiert, sodass Tenshi lediglich ihr Handgelenk bewegen konnte. Doch sie zweifelte daran, dass sie selbst wenn der Verband ab wäre sie jegliche Feinmotorik der Hand bewegen konnte. Wahrscheinlich hatte der Kabelstrang ein oder zwei Knochen gebrochen, dachte sie überraschend rational, denn sie fühlte ihre Finger immer noch nicht, aber wenigstens hatte der pochende Schmerz sich gelegt. Vermutlich hatte sie irgendein Schmerzmittel bekommen.
Tenshi seufzte leise und lies sich noch tiefer in Subarus Umarmung sinken. Automatisch klammerte sich ihre funktionierende Hand an seinem Rücken fest um immer sicher zu sein, dass er da war. Alles was jetzt zählte war dieser Augenblick den sie mit Subaru teilte. Ganz allein und harmonisch. Wie es immer hätte sein sollen.
Es war ein komischer Traum den sie hatte. Wirre Dinge über Schicksal und Bestimmung. Schnell merkte sie, dass sie etwas auf jeden Fall nicht geträumt hat, nämlich das mit Subaru. Sie war noch nicht ganz aufgewacht, als sie leichte Bewegungen unter sich spürte. Sofort stieg wieder die Röte in ihre Wangen und ihre Finger verkrampften sich wie aus Reflex. Ihr beiden Arme umklammerten noch immer fest seinen Rücken und auch das Gewicht seiner Stirn gegen ihrer war noch da. Tenshi seufzte leise. Instinktiv öffnete sie die Augen als sich das Gewicht plötzlich verlagerte und eine schrecklich kalte Stelle auf ihrer Stirn hinterließ.
Subaru sah sie mit großen Augen zurück an. Für einen Moment hing komplette Stille zwischen ihnen. Es war keine drückende Stille, denn beide von ihnen wussten, dass ihr Verlangen nach der Nähe des anderen rein instinktiv war. Und trotzdem konnte Tenshi auch auf Subarus Wangen einen zarten, roten Schimmer sehen.
„Geht's dir gut?" fragte er, wahrscheinlich auf ihre Hand anspielend.
„Ja." Antwortete Tenshi knapp, wobei sie sich immer noch an ihm festklammerte. „Was... machen wir jetzt?"
Sie wusste nicht, ob sie diese Frage auf diesen Moment bezog oder ob sie damit allgemein ihrer ganzen Hilflosigkeit Luft machte. Jedenfalls war die Antwort auf ihre Frage auf die nahe Zukunft bezogen erst mal Frühstück zu machen. Subaru erklärte sich bereit das zu übernehmen, während Tenshi sich erst mal ihrer Sachen von gestern entledigte. Zum größten Teil waren sie noch mit ihrem Blut verschmiert und auch an einigen anderen Stellen ziemlich mitgenommen. Unweigerlich musste sie wieder an Yuzuriha denken. Ihr Gehirn schien einfach nicht verstehen zu wollen, dass das kleine quirlige Mädchen tot war. Dabei hatte sie doch gewusst, dass die Möglichkeit bestand, dass nicht alle von ihnen durchkommen werden. Erneut begann leise Tränen sich ihre Wangen hinab zu suchen, während sie in den Rock stieg und ihn mit einer Hand hochzog und auch nachdem sie sich das T-Shirt über den Kopf gezwängt hatte hörten sie einfach nicht auf zu rollen. Entschlossen wischte sie die Tränen mit dem Ellenbogen von ihren Wangen und musterte sich danach im Spiegel. Du hast auch schon bessere Tage gesehen, dachte sie mit Galgenhumor und klemmte eine widerspenstige Haarsträne mit der rechten Hand hinter ihr Ohr.
Mit einem Seufzen öffnete sie die Tür und versuchte ein Lächeln auf ihre Lippen zu bringen während sie den Gang entlang zurück ins Wohnzimmer lief, wo Subaru schon alles fürs Frühstück vorbereitet hatte. Tenshi war im ersten Moment etwas verdutzt als sie sah, wie häuslich Subaru sein konnte, doch vielleicht war es auch einfach Fürsorge, dachte sie und das Lächeln kam wie von allein über ihre Lippen.
„Kann ich dir irgendwie helfen?" fragte sie automatisch, bekam jedoch ein „Nein" als Antwort. Als dann letztendlich sich beide hingesetzt hatten betrachtete Tenshi die eher mager ausgefallene Ausbeute des Kühlschranks. Sie wollte schon seit Tagen einkaufen gehen, doch irgendwas kam immer dazwischen oder schien schlicht hin wichtiger. Und genau wegen dieser Gleichgültigkeit war sie jetzt mit dem Problem ‚Toast' konfrontiert. Sie hätte sich es nie träumen lassen wie schwer es ist mit nur einer funktionierenden Hand etwas auch nur annähernd auf den Toast zu bekommen. Nach einigen Sekunden hoffnungslosen Versuchens und dem Austesten von mehreren Methoden, seufzte sie frustriert und legte das Messer wieder zur Seite.
„Warte, ich helf' dir." Sagte Subaru und nahm sich der Sache an. Tenshi hatte nicht bemerkt, dass er sie während ihres Kampfes der Titanen mit dem Toast zugesehen hatte. Für einen Moment öffnete sie den Mund, als wollte sie etwas erwidern, entschied sich jedoch dann dagegen und sah Subaru mit einem etwas verlegenem Lächeln an. Also war es vielleicht wirklich Fürsorge. Sie bedankte sich artig als er ihr die Scheibe Toast zurück gab und begann langsam davon abzubeißen. Es folgte eine Weile Stille in der sich beide aufs Essen konzentrierten, wobei Tenshi mehr damit beschäftigt war ihre neu gewonnene Einschränkung in ihrer Selbstständigkeit zu verfluchen und so langsam wie möglich von dem Toast abzubeißen.
„Hast du... schon viel von Tokio gesehen?" fragte Subaru plötzlich, offensichtlich darum bemüht etwas Smalltalk zu halten. „Schließlich bist du ja eigentlich nicht von hier."
Tenshi kämpfte mit einem Stück Brot was par tout nicht ihren Hals hinunter wollte bevor sie antworten konnte.
„Nicht wirklich. Eigentlich wollte ich schon lang mal zum Tokio Tower,..." gestand sie sich selbst ein und wurde dadurch unweigerlich an ihre erste Begegnung mit dem Sakurazukamori erinnert. „...aber irgendwie kommt immer etwas dazwischen. Wenn es nicht etwas mit den Erddrachen ist, dann ist es Schule."
Sie seufzte deprimiert. Das war eine weitere, vergleichsweise belanglose, Sache um die sie sich zusätzlich sorgen musste.
„Es ist Wochenende. Wir könnten hingehen, wenn du möchtest." Stellte Subaru fest. „Ich muss... sowieso mal wieder dahin. Dort passieren öfter seltsame Dinge."
Natürlich wusste sie sofort was er mit „seltsame Dinge" meinte, war sich jedoch nicht sicher ob sie nicht den Anflug einer Ausrede aus diesem Satz heraus hörte.
„Gern." Antwortete sie mit einem Lächeln, glücklich darüber sich den ganzen Tag in seiner Gesellschaft zu wissen.
Nachdem das eher magere Frühstück beendet und alles aufgeräumt war (sie hatte darauf bestanden Subaru beim abräumen zu helfen, wodurch sich das Ganze etwas in die Länge zog) machten sie sich endlich auf den Weg. Es war noch Vormittag als sie die Wohnung verließen, doch Tokios Straßen waren schon lange zum Leben erwacht und voll mit Menschen. Kein wunder, denn schließlich war dies wieder einer jener Tage an denen der Sommer schon fast zum greifen nah war. Kaum eine Wolke war am Himmel zu finden und die wärme der Luft staute sich unwillkürlich zwischen den Häuserschluchten Tokios.
Schon nach wenigen Schritten waren die beiden in die Menschenmassen eingetaucht und für einen Moment fühlte sich Tenshi als würde sie von ihr verschluckt werden. Überall waren Menschen und gingen ihren individuellen Tätigkeiten nach ohne jedes Interesse für die anderen um sie herum, oder das genau Gegenteil war der Fall. Vor allem junge Leute sah man immer wieder in Gruppen stehen und die Passanten beobachten. Gelegentlich zeigten sie auf jemanden in der Masse und steckten dann kichernd die Köpfe zusammen. Es waren einfach so viele Reize auf einmal die auf Tenshi einwirkten, dass sie zeitweise gar nicht wusste wo sie überhaupt war und hinging, oder ob sie sich einfach nur von dem Strom der Masse mitreißen ließ. Plötzlich spürte Tenshi eine Hand sich um ihre rechte schließen und sie sah erschrocken auf. Es war Subaru.
„Sonst verlieren wir uns." Erklärte er auf ihren leicht verwirrten Blick hin. Sie nickte nur als Antwort und verkrampfte ihre Hand in seiner.
Jetzt war ihr die Masse egal. Plötzlich schienen beide einfach perfekt in sie hinein zu passen und in ihr zu versinken, als wären sie selbst eines der zahlreichen Pärchen denen man auf der Straße begegnete, die man als einziges immer lächeln sah. Bei der ganzen Anonymität die sie umgab, schien sie plötzlich ganz bei sich selbst zu sein. In diesem Moment, genau jetzt und hier mit ihm war sie einfach nur sie selbst. Tenshi. Das Mädchen, die junge Frau, die Oberstuflerin die mit einer geliebten Person den Tag verbracht, so weit weg von dem Himmelsdrachen und der Tempelwächterin. Ihr Blick schweifte über die Masse von unbekannten Mensch und für einen Augenblick wunderte sie sich, was für Schicksale sie wohl durchlebten. Plötzlich fiel ihr ein Mädchen auf, was sie von der Schule her kannte. Es hatte zuerst auf sie und dann auf Subaru gezeigt, wodurch Tenshi unweigerlich Lächeln musste. Anscheinend gaben sie zusammen ein sehr überzeugendes Bild ab, denn das Mädchen drehte sich sofort zu ihren Freundinnen um von ihrer Entdeckung zu berichten. Für einen Moment hatte Tenshi das ungute Gefühl gehabt, dass die Clique ihnen eventuell folgen würde, das verging jedoch genauso schnell auch wieder.
Der Strom der Masse hatte beide wie automatisch zum Tokio Tower mitgetragen und sie dann dort entlassen. Wie es an einem solchen Tag zu erwarten war, tummelten sich zahlreiche Besucher, vor allem ausländische Touristen, um das Fundament des Wahrzeichens. Durch den Andrang dauerte es eine Weile bis sie es endlich hinauf zu der ersten Plattform geschafften hatten. Der Einfachheit halber hatten sie sich dazu entschlossen die Treppen zu steigen, anstatt wie viele andere den hoffnungslosen Versuch zu unternehmen einen Fahrstuhl zu ergattern. Letztendlich oben angekommen kämpften sie sich auch noch bis vor zu dem Geländer.
„Wow!"
Tenshi riss die Augen weit auf vor Begeisterung. Selbst die schönste Beschreibung der Aussicht währe keinerlei an die Realität heran gekommen. Sie hätte nie gedacht, dass die Großstadt Tokio so schön und so natürlich wirken könnte. Überall um das Fundament herum befanden sich Parks, deren grüner Schimmer scheinbar von dem Licht auf die Häuserschluchten projiziert wurden. Das helle Sonnenlicht wurden an den verspiegelten Fensterscheiben der vielen Bürogebäude reflektiert und ließen dadurch die ganzen Umgebung wirken, als ob sie leuchtet.
„Hier hatte ich mal einen Auftrag, vor langer Zeit." Sagte Subaru und riss Tenshi somit aus ihrer Bewunderung.
„Was war passiert?" fragte sie ihn verwundert.
„Eine junge Frau... kam immer hier her wenn es ihr schlecht ging. Sie hasste Tokio, aber diesen Ort hier, den mochte sie. Irgendwann waren ihre Probleme ihr über den Kopf gewachsen und sie beging Selbstmord." Antwortete er mit leicht bedrückter Stimme. „Aber selbst dann noch kam sie hier her zurück."
Tenshi betrachtete ihn für einen Augenblick mit gerunzelter Stirn. Obwohl es schon so lange her war, konnte er sich noch so genau daran erinnern, dabei müsste er doch seitdem schon wieder Hunderte andere Aufträge gehabt haben.
„Das kann ich verstehen. Es ist wirklich schön hier... Andererseits auch nicht" Erwiderte Tenshi. „Wenn man von so viel Schönheit wie hier umgeben ist, dann wird man doch automatisch an die guten Seiten des Lebens erinnert, oder? Wie-" sie stockte in der Mitte des Satzes und verfluchte ihre Unüberlegtheit.
„Wie was?" fragte Subaru.
„Naja..." stammelte sie verlegen. „...wie... das hier eben."
Subaru sah sie mit einem verwunderten Blick an, dem sie schnell wieder auswich.
„Ich meine... hier zu sein an diesem Ort mit... einer Person die einem wichtig ist und umgeben von so vielen fröhlichen Menschen die einfach nur diesen Moment hier genießen, ganz gleich was sonst in ihrem Leben passiert, als könnte man alles andere abschalten, neu und von vorn beginnen, es diesmal richtig machen."
Der Redeschwall war einfach aus ihr herausgeplatzt, ohne das sie eine Chance gehabt hätte ihn aufzuhalten. Es waren ihre aufrichtigsten Gefühle gewesen und sie war erschrocken wie unkontrolliert sie sich Luft gemacht hatten. Nur zögerlich sah sie zu Subaru auf, denn sie war sich nicht sicher wie er auf ihre Worte reagiert hatte. Ihre Augen suchten sich über seinen Körper, der ihr auf einmal so nah war, hinauf zu seinem Gesicht. Und wieder kam er ein kleines Stück näher.
Tenshi schluckte schwer und spürte wie ein kribbeln durch ihren Bauch ging, als würde sie den Boden unter ihren Füßen verlieren. Sie sah dass seine Stirn gerunzelt war, doch sein trauriger Blick war verschwunden und an seine Stelle trat wieder diese unschuldige Verwirrtheit, die sie schon einmal vor langer Zeit bei ihm gesehen hatte. Unweigerlich hob Tenshi ihren Kopf ein wenig an und spürte wie sich von neuem heißer Atem zwischen ihren Lippen staute.
Plötzliche Zweifel schossen durch ihren Kopf, entstanden durch die Erinnerung an die Worte des ehemaligen Oberhaupts die nun wie ein Echo durch ihren Kopf hallten. Seine Seele ist genauso an die des Mörders gebunden, wie an deine. Sie runzelte die Stirn bei dem Gedanken. Wenn ihre Gefühle derart durcheinander waren, wie musste es ihm dann erst gehen?
„Vielleicht... sollten wir jetzt gehen." Brach sie plötzlich die Stille und zog ihren Kopf wieder etwas weg von ihm.
„Ähm... ja, wenn du willst." Antwortete Subaru nach einer kurzen Pause, in der er sich anscheinend erste einmal fangen musste.
Tenshi war sich nicht sicher, ob sie ihre Reaktion nicht gleich wieder bereute, doch dafür war es jetzt ohnehin zu spät. Sie verließen den Tokio Tower und schlenderten so langsam wie möglich wieder zurück, dem komplizierteren Dasein, den Himmelsdrachen entgegen. Doch ohne es zu bemerken klammerten sich beide die ganze Zeit lang noch fest an diese andere Möglichkeit, auf ein glücklicheres und friedlicheres Leben, an die Hand des anderen.
