And you could be my someone, you could my sea...
Küsse, Blut und Tränen…
Mit einem leisen Seufzer schwang sie ihre Beine aus dem Bett, die Erinnerung an den gestrigen Tag noch immer wie ein Echo in ihrem Kopf. Unwillkürlich brachte es sie zum Lächeln, auch wenn es noch ein müdes und unsicheres war. Mit ihrer rechten Hand drückte sie sich vom Bett ab und quälte sich langsam zum Spiegel hin um ihr zerwuscheltes selbst zu betrachten. Heute, im Gegensatz zu den letzten paar Tagen, fiel es ihr nicht so schwer aufzustehen, da sie die Nacht in einem anderen, für sie fremden Bett verbracht hatte und war zum ersten Mal seit Wochen komplett von seiner Präsenz, in welcher Art auch immer, abgeschottet. Sie fuhr sich ein paar mal durch die Haare und tat die Sache dann erst einmal als Dinge der Unmöglichkeit ab und wand sich stattdessen dem kleineren Übel zuwand, sich mit einer Hand anzuziehen. Das unverwechselbare Gefühl eines Montags ebbte über sie und plötzlich verspürte sie doch wieder den Drang zurück ins Bett zu gehen, doch es half nichts. Sie hatte schon viel zu oft gefehlt und außer das ihr so langsam die Ausreden ausgingen, war da auch noch der Gedanke an Michiyos Belehrungen für den Fall, dass sie die ganze Sache rausbekommt. Und erfahrungsgemäß tat sie das immer.
Nachdem sie den schier endlos scheinenden Kampf gegen die Schuluniform endlich gewonnen hatte und keine Lust auf einen erneuten mit dem Haargummi hatte, strich sie sich einfach ein paar Mal mit der Bürste durch die Haare bis sie deren Zustand akzeptabel fand.
Noch immer mit den Gedanken im Bett trat sie aus dem Zimmer heraus, doch wunderte sich plötzlich über die Stille die sie grüßte. Sie wusste nicht weshalb, doch irgendwie hatte sie erwartet das Subaru um die Zeit jetzt auch schon wach war. Prüfend sah sie um die Ecke in das Wohnzimmer hinein, doch fand niemanden dort. Für einen Moment wunderte sie sich ob er vielleicht verschlafen hatte und ging kurz entschlossen in den Gang zurück. So leise sie konnte öffnete sie die Tür zu seinem Zimmer einen Spalt und erhaschte einen Blick nach innen. Niemand war da. Sie öffnete die Tür ganz und trat in den Raum. Das Bett sah benutzt aus, doch von ihm war keine Spur. Eine Welle von Panik ebbte kurz über sie, verging nach einigen Sekunden jedoch wieder als sich ihre Vernunft einschaltet die ihr sagte, dass er sicher nur irgendwo einen Auftrag hatte.
Mit einem weiteren Wehrmutstropfen auf ihrem Gemüt ging sie zurück in die Küche um schnell irgendwas, was sich noch im Kühlschrank befand, zu frühstücken. Auch wenn sie wusste, dass es kindisch und unsinnig war, konnte sie nicht anders als sich ein wenig verlassen zu fühlen. Sie hatte sich in der letzten Zeit so sehr an seine Nähe gewöhnt, dass es sich so seltsam anfühlte ohne ihn zu sein.
Ohne ihn gab es nichts weiter was sie noch lange in der Wohnung halten würde, weshalb sie schon etwas früher als sonst los ging. Auch auf ihrem Weg zur Schule fand sich nichts, was ihre Laune auch nur annähernd hätte so heben können, wie wenn Subaru am Morgen da gewesen wäre. Also quälte sie sich allein und eher geistesabwesend durch die Massen von Mensch die sich durch die Straßen von Tokio schlängelten und ihr gestern, geführt von seiner Hand, noch so befreiend und angenehm vorkam. Heute schien der Weg zur Schule viel zu kurz zu sein und die Massen schienen sie viel zu schnell mit ihrem Strom mitzureißen und sie unweigerlich immer näher an ihr Ziel brachte, welches sie nicht erreichen wollte. Und trotzdem war sie schon nach wenigen Minuten und somit viel zu früh auf dem Clamp Campus angekommen. Kurzentschlossen setzte sie sich auf das Geländer was die Grünflächen des Parks von dem Vorplatz der Schule abtrennte und lies ihre Tasche neben sich fallen. Da sie heute so früh dran war, war noch kaum jemand zu sehen, nur der grimmig aus der Wäsche schauende Hausmeister drehte jetzt schon seine Runden auf der ständigen Suche nach Dingen an denen er rummeckern kann. Sicher würde er gleich auf sie zukommen und ihr eine Standpauke über den Sinn von Geländern und Bänken halten, dachte sie und lächelte in sich hinein.
Eine plötzliche Berührung auf ihrer Schulter ließ sie zusammen zucken. Sie schreckte auf und schüttelte sich in einem ersten wilden Anflug von Panik als sich die Krallen eines Vogels mit Kraft in ihre Schulter presste. Es war der Shikigami. Sie nahm einige kontrollierte Atemzüge um die Panik vorüber ziehen zu lassen. Mit einem bösen Blick sah sie das magische Wesen an, was sich trotz aller Anstrengungen nicht abschütteln ließ. Sie biss sich auf die Lippen um den stechenden Schmerz zu verdrängen, in der Hoffnung, dass der Erschaffer ihn bald zurückrufen würde.
„Du schon wieder?" sagte sie in betont genervter Art, um jegliche Anzeichen von Schwäche dahinter zu verbergen, auch wenn er sie bisher letztendlich immer aus der Reserve gelockt hatte. „Man könnte ja glatt meinen du verfolgst mich."
Auch wenn sie das Gesicht des Sakurazuka nicht sah, wusste sie instinktiv, dass er wieder dieses Lächeln trug, was ihn so unglaublich überlegen erscheinen ließ. Mit einem eleganten Satz schwang er sich über das Geländer und kam dicht neben ihr zum sitzen. Auf sein gewohnt charmantes Lächeln konnte Tenshi nur müde eine Augenbraue hochziehen, schließlich kannte sie ja mittlerweile seine Masche. Anscheinend machte es ihm nichts aus, dass Tenshi ihn so argwöhnisch musterte. Im Gegenteil. Er genoss es und um den Moment noch ein wenig länger auszukosten zündete er sich zuerst eine Zigarette an und nahm einen langen Zug bevor er wieder sprach.
„Ihr seid wirklich süß... du und Subaru mein ich." Sagte er und starrte dabei in die Ferne.
„Du... hast uns nachspioniert?" entgegnete Tenshi mit einem leichten Ton von Empörtheit in ihrer Stimme.
Der Sakurazuka konnte nicht anderes als sich zu einem amüsierten Lächeln hinreißen zu lassen. „Nein. Ich würde es eher als ‚zufällig über den Weg laufen' beschreiben."
Tenshi lachte zynisch „Sicher..."
„Jedenfalls..." lenkte er von der sinnlosen Debatte ab. „weist du ja jetzt alles." Er zog noch einmal lang an seiner Zigarette, einzig und allein um sie noch länger durch seine Wort in Unwissenheit zu lassen. „Ein wirklich traurige Geschichte, das Ganze... zwei Liebende Seelen, getrennt durch das Schicksal... grade zu theatralisch möchte man meinen."
„Woher weist du davon?" fragte sie, irritiert von der Ironie in seiner Stimme.
„Ganz einfach. Subaru weis es, also weis ich es." antwortete er emotionslos.
Ohne das sie es hätte kontrollieren können huschte ein Stirnrunzeln über Tenshis Gesicht. Der Sakurazuka wand sein Gesicht zu ihr und das Lächeln was er vorhin bei seiner Antwort noch so gekonnt versteckt gehalten hatte kam nun zum Vorschein.
„Bist du wirklich so naiv?" fragte er mit einem spöttischem Lachen in der Stimme. „Die alte Sumeragi hat es dir wohl doch nicht ganz klar gemacht?" Provokativ lehnte er sich so nah an Tenshi heran, dass er in ihr Ohr flüstern konnte. „Er liebt mich."
Diese Worte waren wie ein Schlag in ihr Gesicht. Ja, vielleicht war sie wirklich die ganze Zeit lang zu naive gewesen um es zu sehen, oder sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Es war soviel einfacher sich selbst etwas vorzumachen, zu glauben, dass noch nicht alles für sie und ihn verloren war. Plötzlich fühlte sie unweigerlich die Röte in ihr Gesicht steigen. Vielleicht war Subaru heute Morgen doch nicht bei irgendeinem Auftrag gewesen, sondern... Sie seufzte resignierend bei dem Gedanken, was den Sakurazuka nur Bestätigung brachte.
„Aber... jetzt hasst du mich doch, nicht wahr?" fragte er triumphierend.
Noch ein Schlag. Entfernt nahm sie wahr, wie im Hintergrund nach und nach die Massen von Schülern ankamen. Nein, so naiv war sie nicht, dachte sie und machte ihrer Frustration mit einem ironischen Lachen Luft. „Du bist es doch, der naiv ist..." sagte sie, worauf der Sakurazuka ihr einen überraschen Blick zuwarf. „Wie könnte ich dich hassen, wenn du das bist, was er liebt?" fragte sie ihn mit einem vorwurfsvollem Blick, der ihre eigene Ohnmächtigkeit kaum verbergen konnte. Stille fiel zwischen die Beiden, wahrscheinlich zum ersten mal in seinem Leben, war Seishiro sprachlos.
Tenshi wand sich von ihm ab und verfluchte innerlich diesen trostlosen Morgen und wünschte sich zurück zu dem gestrigen Tag, wo die Welt, wenn auch nur für ein paar Stunden, komplett in Ordnung zu sein schien.
„Ihr ähnelt euch wirklich, du und Subaru..." brach Sakurazukamori endlich die Stille. „Und genau das wird euch noch das Genick brechen..."
Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette bevor er den Stummel auf den Boden warf und ihn austrat. Als sein Meister von dem Geländer stieg, lies auch endlich der Shikigami von Tenshi ab. Der Sakurazuka trat ein wenig näher an sie heran, was Tenshi schon gar nicht mehr als seltsam erachtete, da er dies immer tat. Heute konnte sie, noch viel deutlicher als je zuvor den unterschwelligen Geruch von Blut an ihm riechen, vermischt mit dem kalten qualm von Zigaretten. Sie spürte seinen bohrenden Blick sogar durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille. Es war als würde sie davon paralysiert werden, wieder einer seiner Tricks?
Er hob seine rechte Hand und legte sie an ihre Wange. Unangenehm wurde sie an seine letzten Worte erinnert, als sich seine Hand weiter hinter zu ihrem Nacken suchte. Sie wollte sich von ihm lösen, den Kopf von ihm weg ziehen, doch sie konnte es einfach nicht. Irgendwie hielt er sie.
So plötzlich wie ein Raubtier auf seine Beute springt, schnellte sein Kopf nach vorn, nach ihren Lippen jagend und diesmal bekam er sie auch. Mit seiner Hand drückte er ihren Kopf seinem entgegen, sodass sie keinerlei Chance hatte sich zu befreien. Einlass fordernd presste er seine Lippen auf ihre, doch sie war nicht bereit dazu ihm diesen zu gewähren. Nach den ersten Sekunden des Schrecks kam Tenshi wieder zu sich und versuchte den starken Mann mit beiden Händen von sich weg zu drücken. Ein stechender Schmerz durchzuckte dabei ihre linke Hand und sie zog sie schnell wieder zurück. Notgedrungen öffnete sie ihren Mund ein wenig und biss mit einem mal fest in die Lippe des Sakurazuka. Im ersten Moment schreckte zurück von ihr, doch als er dann sah, wie sie, noch immer erschrocken durch diesen plötzlichen Ausbruch, keuchte formten sich seine blutenden Lippen zu einem Lächeln.
Er musterte sie für einen Moment, bevor er mit einem ausgestrecktem Finger über seine Lippen fuhr um etwas Blut damit abzuwischen.
„Vielleicht seid ihr beide euch doch nicht so ähnlich." Sagte er, auf seinen Überfall anspielend.
Tenshi warf ihm einen verachtenden Blick zu, spürte jedoch gleichzeitig wie von neuem Hitze durch ihre Wangen schoss. Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein, fragte sie sich, innerlich kochend.
Das laute klingeln der Schulglocke riss sie aus ihrer Wut zurück in die Realität.
„Ich muss los." Sagte sie ihm knapp und hing sich ihre Schultasche um.
„Es hält dich niemand auf." Antwortete er gelassen und grinste sie an.
Mit einem letzten bösen Blick drehte sie sich von ihm weg ging stur auf den Eingang der Schule zu. Wieso sollte sie auch nur ein Wort glauben das er sagt, dachte sie wutentbrannt, er war ein kaltblütiger Mörder und wollte sie sich nur provozieren. Kräftiger als gewollt stieß sie die Eingangstür auf, sodass sie gegen die Wand knallte, doch das war ihr jetzt grad egal. Sie lief automatisch in die erste Etage hinauf zu ihrem Klassenzimmer und stoppte dann vor der Tür. Durch das kleine Fenster konnte sie sehen, dass der Unterricht schon angefangen hatte. Nein, sie konnte da jetzt nicht rein. Kurz entschlossen drehte sie sich um und lief noch eine weitere Etage hinauf. Oben angekommen nahm sie die kleine Treppe die auf das Dach hinauf führte. Sie stieß die Türe auf und lief zum Rand des Daches wo sie ihre rechte Hand um das Geländer verkrampfte. Wem machte sie hier eigentlich etwas vor? Natürlich glaubte sie Seishiros Worten... denn sie wusste, dass sie wahr waren. Resignierend ließ sie sich auf den Boden sinken.
Der plötzliche Geruch von Rauch der in ihre Nase stieg lies sie aufschrecken. War der Sakurazuka ihr etwa gefolgt? Sie suchte nach der Quelle des Geruchs und plötzlich fiel ihr jemand neben sich auf. Es war eines der Mädchen die sie gestern auf der Straße gesehen hatte, als sie mit Subaru zum Tokio Tower ging. Yuka, so glaubte Tenshi sich zu erinnern, hieß sie. Das sonst so hübsche blonde Mädchen mit den strahlenden blauen Augen sah heute so anders aus. Mit zitternden Händen hob sie eine Zigarette an ihre Lippen. Im Gesicht hatte sie einen Kratzer und ihr ganzer rechter Arm war übersäht mit blauen Flecken. Tenshi runzelte erschrocken die Stirn.
„Yuka, was ist denn mit dir pa-"
„Ich hab dich gesehen. Gestern, mit diesem süßen Typen." Sagte sie und starrte dabei mit einem Lächeln in die Ferne. „Du sahst ziemlich glücklich aus."
Das Mädchen kniete sich hinunter zu Tenshi und sah ihr in die Augen. „Ich geb dir nen gut gemeinten Rat... verlieb dich nicht erst in ihn, er wird dich nur unglücklich machen. Alle Männer sind so." sagte sie bitter.
Verwirrt wollte Tenshi etwas erwidern, doch das Mädchen sprach schon weiter. „Ich hab das alles so satt weist du?"
„Was hast du satt?"
„Die ganze Scheiße hier. Liebe, Wahrheit, Treue, Vertrauen und die ganzen anderen Lügen. Alles nur kindische Illusionen die dir die Medien verkaufen. Die Welt ist krank, las dich bloß nicht von ihr anstecken." Sie zog zitternd an der Zigarette. „Weißt du mein Freund hat mir versprochen, dass er sich von seiner Frau trennt und dann mit mir zusammen zieht, mich weg bringt von meinen Scherbenhaufen von Familie. Und irgendwann später dann, wollte er mich heiraten." Sie nahm noch einen Zug. „Dabei wollte er mich doch nur damit rumkriegen. Ich war doch die ganze Zeit lang nur seine Hure, zu seinem Vergnügen da. Und jetzt... hat er mich sitzen gelassen. Keine Träne wird er wegen mir vergießen." Sie schluchzte einmal laut. „Tut mir leid. Du fragst dich bestimmt wieso ich dir das alles erzähle."
Tenshi runzelte die Stirn. Ja, irgendwie fragte sie sich das schon, doch schon allein aus Höflichkeit sagte sie nichts.
„Ehrlich, ich weis es selber nicht so genau. Irgendwie denk ich jedes Mal wenn ich dich ansehe, dass du über so was erhaben bist, als würde dieser ganze Dreck einfach an dir vorbei gehen." Sie verstummte und Zog noch mal an der Zigarette. „Ziemlich naive oder? Aber am Ende glaubt doch sowieso jeder nur das, was er glauben will. Und ich will glauben, dass so jemand Gutes wie du etwas verändern kann."
Ihr Blick war quälend. Ohne das sie es bemerkt hatte, oder hätte verhindern können waren Tränen in Tenshis Augen aufgestiegen. Sie wusste nicht so recht was sie dem Mädchen antworten sollte, ohne bemitleidend zu klingen. Doch sie brauchte nichts zu sagen, der Blick aus Yukas roten, aufgequollenen Augen sagte alles. Sie zog noch ein letztes mal an der Zigarette und drückte sie dann aus.
„Du solltest gehen, sonst verpasst du auch noch deine zweite Stunde." Sie fuhr Tenshi über die Haare. „Ein Engel wie du sollte nicht wegen jemandem wie mir ärger bekommen."
„Yuka..." begann Tenshi, doch sie wusste nicht wie sie die vielen Gedanken in ihrem Kopf zu einem klaren Satz ordnen sollte. „es wird sicher wieder alles gut... versprich mir nichts unüberlegtes zu machen."
Das Mädchen lächelte. „Keine Sorge, das werd ich nicht. Ich hab mir schon alles genau überlegt. Und jetzt geh."
Tenshi zögerte. Irgendwas in ihr sagte, dass sie hier bleiben sollte. Und trotzdem stand sie auf und kehrte ihr den Rücken zu. Ihre Worte hallten noch immer als Echo in ihrem Kopf. Entfernt hörte sie das Zischen der Luft und sie spürte wie jeder Muskel in ihr zusammenzuckte. Das dumpfe Geräusch eines Aufpralls folgte. Tenshi konnte sich nicht bewegen. Sie war wie starr. Gewaltvoll kämpfte sich ein Schrei ihre Kehle hinauf, der es nicht zu lies, das sie ihn erstickte. Sie schrie ihren Namen, hörte sich dabei aber selbst nicht. Affektiv drehte sie sich um, doch es war niemand mehr da. Vollkommen automatisch lief sie zum Rand des Daches zurück und sah bevor sie sich selbst stoppen konnte hinunter. Die Tränen überkamen sie von neuem und liefen diesmal ungehindert ihre Wangen hinab. Überall auf den Bodenplatten verteilte sich Yukas Blut, wie eine dunkelrote Seuche und dazwischen lag sie und war so weiß wie ein gefallener Engel. Tenshi wurde übel. Sie nahm nur entfernt wahr, wie unten Leute aus der Schule liefen oder andere aus den Fenstern sahen. Weiter Schreie wurden laut, doch sie vergingen wie ein fernes Echo in ihren Ohren.
Sie konnte sich an nichts mehr zwischen Yukas Anblick und jetzt erinnern. Alles was sie wusste war das sie nun als zitterndes Bündel auf einem Bett im Zimmer der Krankenschwester saß. Ihre Gedanken waren still, denn sie waren gänzlich von dem schaurigen Anblick ausgefüllt. Sie wusste nicht was besser wäre, das Bild in ihrem Kopf oder die ohne das Bild herrschende Leere, die sofort von Zweifeln und Fragen gefüllt werden würde.
Zu spät. Allein der Gedanke daran ließen genau diese in ihrem Kopf auftauchen. Ihr war klar, dass sie früher oder später kommen mussten, sonst würde sie das Ganze nie verarbeiten, doch sie wusste nicht einmal wo sie ansetzten sollte ihre Ohnmacht in Gedanken zu ordnen. Was muss einem Menschen wiederfahren, das er so etwas tut? Wieso hatte sie sich als letztes, Minuten vor ihrem Tod noch ihr anvertraut? Ausgerechnet ihr, wo sie doch noch nie mit ihr gesprochen hatte?
„Wieso konnte ich ihr nicht helfen?" fragte Tenshi sich selbst bitter und schlug eine Faust gegen die Wand an die sie lehnte.
Wenn sie nicht einmal Menschen wie Yuka helfen konnte, wie sollte sie dann die ganze Welt beschützen? Ein Bannkreis beschützt Menschen nur vor Erdbeben, nicht vor anderen Grausamkeiten des Lebens... Für solche Leute wäre das Ende der Welt eine Erlösung. Welches Recht hatte sie jene zum weiterleben zu zwingen?
Das leise klacken der Tür riss sie aus ihren Gedanken und sie wischte schnell alle Tränen von ihrem Gesicht. Es war die Krankenschwester. Sie lächelte mitleidig und setzte sich neben sie aufs Bett.
„Na, geht's dir etwas besser? Ich weis, du hast schreckliches mitgemacht..." sagte sie und legte einen Arm um Tenshis Schulter.
„Ja, viel besser. Kann ich nach Hause gehen?" log sie schnell. Alles was sie wollte, war von hier weg zukommen, doch die Krankenschwester schien nicht so begeistert zu sein.
„Eigentlich wäre es mir lieber, wenn dich einer deiner Eltern abholen könnte."
Tenshi schluckte und zögerte etwas mit der Antwort. Sie war in keiner Verfassung in der es ihr sonderlich leicht fiel Ausreden über ihre Eltern zu erfinden. „Das geht nicht... beide arbeiten heute lang. Aber ich bin mir sicher, das ich es alleine schaffe. Ich wohn nicht weit von hier."
Nur zögerlich willigte die Krankenschwester ein, doch Tenshi ließ sich nicht zweimal bitten zu gehen. Sie hing sich ihre Schultasche um die Schulter und verließ mechanisch den Raum. Beim hinabsteigen der Stufen konzentrierte sich auf jede einzelne von ihnen um mit allen Mitteln zu vermeiden, dass diese Gedanken wieder ihren Kopf füllten. Sie wollte nicht von ihnen überwältigt werden, denn sie wusste, dass sie nicht zweifeln durfte, nicht zweifeln sollte. Plötzlich lief sie gegen etwas solides, und ließ in der Überraschung ab vom zählen. Sie brauchte einige Sekunden um zu erkennen wer es war, trotzdem sie ihm offen ins Gesicht sah.
„Tenshi..." es war Subarus Stimme, aber sie realisierte nicht so recht, dass er da war. „Ich... wollte dich abholen, weil ich doch heute morgen nicht da war." Hörte sie ihn weiter sagen.
Sie sah mit gerunzelter Stirn und wässrigen Augen hinauf zu ihm. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch bevor er dazu kam machte Tenshi einige Schritte vorwärts und schloss ihre Arme zitternd um seine Brust. Sofort kamen die ganzen Emotionen wieder in ihr hoch und sie resigniert gegenüber deren Gewalt. Der Tag war grausam gewesen und jetzt fand sie Erlösung davon bei ihm. Der Einzige auf der Welt der ihr diese Erlösung schenken konnte. Der Einzige bei dem sie sein wollte und auch der Einzige bei dem sie ganz sein konnte. Ohne jeden Zweifel, jedes Hinterfragen. Sie spürte wie er ihr sanft einen Kuss auf die Stirn gab, seine Arme um sie schloss und somit diesen kleinen Teil von heile Welt den sie allein besaß abriegelte.
Anmerkung:
Selbstmord ist egoistisch, dieses Kapitel soll keine Befürwortung davon sein.
Meine masochistische Seite hat Yuka erschaffen, bitte mich deswegen jetzt nicht für gestört (dafür ist es schon zu spät, stimmts? ) oder gefährlich halten!!
Sie musste all das ertragen, was ich Tenshi nicht antun kann, zumindest jetzt nicht, da ich hier ja keine Prognosen aufstellen will!
