Rabenherz
Rauchsäulen erhoben sich in den klaren, blassen Morgenhimmel, verwehten langsam im frischen Wind, der über die Lande wehte von Osten her. Die Feuer verhungerten langsam in der Einöde aus Asche, die sie selbst geschaffen hatten während der letzten Nacht; die letzten Brände schwelten noch vor sich hin in den Ruinen der Häuser, den schwarzen Überresten der einst so stolzen Bäume.
Radagast seufzte tief und schloss kurz die Augen angesichts der Zerstörung, die um ihn herum herrschte. Für einen Moment sperrte er die Bilder des Schreckens aus, das leise Knistern der letzten sterbenden Flammen, den Geruch des Rauchs, das Gefühl der Asche, die in seinen Augen schmerzte. Wieder einmal war er zu spät gekommen.
Kopfschüttelnd angesichts der Grausamkeit, die sich ihm immer wieder aufs Neue bot, wandte er sich ab und blickte gen Osten, wo gerade die schwache, silberne Wintersonne aufging. Die Bilder hinterließen schon lange keine Spuren mehr in seiner Seele – er hatte bereits zu viel Leid gesehen... Seine Reise musste weitergehen...
Das war es, was er sich versuchte einzureden. Aber die Wahrheit war, dass es ihn jedes Mal beinahe zerriss, wieder einmal zu spät gekommen zu sein, um den Bewohnern eines Dorfes oder eines einsamen Hofes zu helfen. Um ihnen beizustehen im Kampf gegen die grausamen Räuber, die frei und ungestraft durch diese Lande zogen. Um sie zu retten. Die Wunden, die die Anblicke wieder und wieder in seine Seele rissen, würden kaum mehr heilen, Tränen hatte er schon lange nicht mehr. Dies war sein Schicksal, dies war seine Reise, und es ging immer nur Vorwärts. Es gab kein Zurück, nicht mehr. Nicht für ihn.
Mit versteinertem Gesicht schritt der durch die warmen Überreste des kleinen Waldes, der das Dorf umgeben hatte, den Blick starr nach Osten gerichtet. Asche ließ seine braunen Gewänder schwarz scheinen, verfing sich in seinem Bart, sein Stab fand kaum halt auf dem losen Boden. Um ihn herum verlor sich das Knacken des letzten Feuers, die Herrschaft der eisigen Stille des Todes begann, Meilen um Meilen über das verbrannte Land bis zum Horizont. Hier lebte, hier gab es nichts mehr, nur noch Schweigen, kalte Hoffnungslosigkeit.
Doch Hoffnung gibt es immer. Wenn man sie am wenigsten erwartet, macht sie plötzlich auf sich aufmerksam – leise flüstert sie, dass sie immer noch lebt, immer am Leben sein wird, solange man an sie glaubt.
Radagast merkte auf aus seinen trüben Gedanken, als ein schwaches, klägliches Krächzen die tödliche Ruhe durchbrach. Wie versteinert blieb er stehen, lauschte. Aber nun, da das leise Rascheln seiner Gewänder und das Geräusch seiner Schritte verstummt war, zweifelt er, ob er wirklich etwas gehört hatte... schon wollte er weitergehen... dann war es wieder da, dieses Krächzen, lauter und klagender als zuvor. Beinahe war es ihm, als ob Tränen zu ihm schrieen, geweint von jemandem, der keine verständliche Stimme hatte, um ihm sein Leid zu klagen.
"Verrat mir, wer bist du denn?"fragte der alte Mann sanft, als er die Quelle des Klagens ausgemacht hatte und beugte sich vorsichtig herab zu einem der geborstenen Baumstümpfe, „Keine Angst, ich will dir nichts Böses", murmelte er beruhigend. Seine Hand verschwand vorsichtig zwischen den Überresten ehemals stattlicher Baumwurzeln. „Ganz ruhig..."
Das Krächzen wurde leiser, verstummte schließlich ganz. Radagast blickte in große, ängstliche schwarze Augen, die ihn anstarrten, klagend, fragend, so schien es ihm. Klagend, warum er nicht eher gekommen war. Fragend, warum er nicht geholfen hatte.
Auf seiner Hand saß, zersaust und zusammengekauert, ein junger Rabe.
„Keine Angst... kennst du mich nicht? Deine Eltern haben dir bestimmt von mir erzählt – sie nennen mich Aiwendil, den Freund der Vögel... oder Radagast, den Braunen", erzählte er und strich dem jungen Tier über den Kopf, über jenes flaumige Gefieder, mit welchem der Rabe noch nicht fliegen konnte. Zögernd Vertrauen fassend schmiegte er sich in die Hand des Mannes, krächzte noch einmal kläglich und vergrub schließlich den Kopf unter einer seiner noch schwachen Schwingen. Lächelnd suchte Radagast nach einem Stück Stoff in seinen Taschen und bettete den Vogel vorsichtig darin ein. Dann wisperte er, beinahe unhörbar: „Daehên sollst du heißen, das Kind des Schattens, und mein Begleiter werden für alle Zeiten von jetzt an, bis ich zurückkehren darf in den Frieden, in die Heimat, die ich verlor."
TBC...
