Sie rannte
Ihr Gewand floss um sie herum, als sie blind voranstürmte, ihr gesunder Arm hielt die Röcke zurück, um nicht zu stolpern. Ihre schnellen Schritte echoten durch das Haus, in das man sie einquartiert hatte, und es war ihr gleich, ob sie jemanden wecken würde. Es war ihr sogar gleich, ob ihre Verletzung ihr letztendlich doch die Gnade erweisen würde, sie in Ohnmacht fallen zu lassen, in herrliches Vergessen, ein für alle mal. Der Drang ihres Blutes war stark, das Gefühl, gefangen zu sein, gefangen, als könne sie niemals wieder frei atmen. Die Steinwände schienen immer enger um sie zu werden, und die Steinstadt Minas Tirith machte die Klaustrophobie nicht besser. Eowyn fühlte das Trommeln von Pferdehufen, das in ihrem Blut sang, spürte, wie die freiheitsgewohnte Seele, die sie in Wahrheit war, die Flügel ausbreiten und in schierer Verzweiflung schreien wollte, als sie den Käfig um sich herum spürte.
Sie hatte Gefängnisse jedweder Art stets gehasst.
Ihr schwindelte, als die Anstrengung ihres schnellen Laufes sie zu überwältigen drohten. Sie war weit davon entfernt, gesund zu sein, und jeder Schritt, jeder rasselnde Atemzug, bestätigten dies, auch wenn sie sich sehr viel Mühe gab, nicht darauf zu achten.
Sie liess die Röcke wieder fallen, um mit ihrem gesunden Arm die Tür in den Garten aufzustossen. Beinahe bemerkte sie den metallischen Klang nicht einmal, mit dem der Flügel, den sie eben so heftig aufgerissen hatte, gegen die Wand des Hauses donnerte. Wenn es noch eine Menschenseele gegeben hatte, die in den Häusern der Heilung geschlafen hatte, so war es wohl damit nun vorbei, und ihr war es gleich. Sie floh die wenigen Stufen zum Rasen hinunter, stürzte beinahe in ihrer Hast und hielt schliesslich inne, warf den Kopf zurück und sog tief die kalte Luft der Nacht ein.
Das war besser. Die Kälte der Nacht, die Freiheit, fern der Steinwände zu sein, taten der Schildmaid wohl, eine leise Erinnerung an die endlosen Ebenen Rohans, endlos, tröstend, von einer Freiheit flüsternd, die ihr nicht gegeben war.
Der Garten war nicht Rohan, doch ihre Augen zu schliessen und den Gedanken freien Lauf zu lassen, half.
"Es tut mir leid, dass ein Fenster gen Osten Euren Schmerz nicht zu lindern vermochte, edle Dame."
Sie zuckte sichtbar zusammen, als sie die leise Stimme hoerte und verfluchte sich beinahe noch im selben Moment. Trotz des Aufruhrs, den sie verursacht hatte, haette sie niemals gedacht, dass die anderen Einwohner dieses Hauses etwas anderes tun wuerden, als hinter ihrem Rücken den Kopf zu schuetteln. Sie konnte solches Verhalten nicht ausstehen, doch im Moment war es ihr gleich.
Offensichtlich hatte sie sich getäuscht, und ein weiteres Mal hatte sie sich vor der einen Person vom Narren gemacht, die sie lieber nicht von ihrer Unreife überzeugt haette...
Den Truchsess...
Sie wusste, dass er hinter ihr stand, auch wenn sie nicht sagen konnte, für wie lange schon. Seine Freundlichkeit demütigte sie, wie sie es niemals gedacht haette, und ein weiteres Mal war es ihm gelungen, sie zu überrumpeln. Und nie war etwas anderes als Freundlichkeit und Mitleid in seinen Augen gewesen.
Beides haßte sie aus tiefstem Herzen.
Sie holte tief Luft, einmal, dann ein zweites Mal, bevor sie den Rücken durchdrückte und sich für die kommende Schlacht stählte.
"Und dennoch muß ich Euch danken, edler Herr, für Eure Mühe, denn ich ziehe es vor, zu sehen, was meinen Weg bedroht." Ihre Stimme klang kühl und unbeteiligt, und sie erlaubte sich einen weiteren Augenblick, bevor sie sich umdrehte.
Er stand neben einem Baum, der seinen Schatten in Sonnenzeiten auf den Eingang der Häuser warf, lehnte dagegen in einer ruhigen Haltung, die ihn ausgezeichnet beschrieb, wenn man von dem aus urteilte, was sie bisher von ihm gesehen hatte. Er wich ihrem Blick aus, als sie herumfuhr, sah hinunter zu einigen Blumen zwischen dem Gras. Ein Lächeln, dessen Bedeutung sie nicht ganz einordnen konnte, geisterte um seine Lippen.
"Ich bin untröstlich", sagte er, sanft, doch mit einem Hauch von Schmerz, der ihre Wut in Sekunden verwehen ließ. Wütend wie sie war, wenn mehr auf sich selbst, weil sie sich ein weiteres Mal hatte verunsichern lassen, klangen ihre Worte härter, als sie es wohl vorgehabt hatte.
"Seid es nicht."
Er akzeptierte den harten Tonfall ohne eine äußere Reaktion. Doch mochte es so klingen, als husche ein wenig Ironie durch das müde Lächeln auf seinen Lippen.
"Ich werde es versuchen, edle Dame."
Für einen Augenblick fragte sie sich, was er hier draußen suchte. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, und irgend etwas an der Art, wie er sich gerade hielt, flüsterte ihr zu, daß er sich selbst dieselbe, fast grausame Selbstkontrolle auferlegte, die sie ebenfalls auf ihre Schultern lud. Nur schien es ihm leichter zu fallen.
"Wie kommt es, daß ich den Truchseß von Gondor um diese Zeit in den Gärten antreffe?"
Schuldbewußtsein und Mißtrauen kämpften einen Kampf im Klang ihrer Stimme, und keiner von beiden gewann die Oberhand. Er hob den Blick um sie anzusehen, auch wenn sie sich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß alles, was sie sah, ein Schauspiel war. Es war nicht der wahre Faramir, wer auch immer dies sein mochte. Ärgerlich biß sie sich auf die Lippen. Schon lange überschattete Täuschung ihren Weg. Einer war darin besonders gewandt gewesen. Einer, der es ebenfalls verstanden hatte, stets aufzutauchen, wenn sie Einsamkeit ersehnte. Ohne daß sie es verhindern konnte, floß Hass wie eine Welle durch ihre Adern und sie sah, daß Faramir vor dem Ausdruck in ihren Augen zurückschrak, nicht wissend, daß nicht er gemeint war.
"Ihr wart kaum zu überhören", antwortete er, immer noch mit ruhiger Stimme. Sogar ein Hauch von Humor spielte um seine Lippen, auch wenn dies ihr in diesem Augenblick entging. Er sah zurück zu den Blumen, als Wut erneut von ihr Besitz ergriff, und ein entschuldigendes Lächeln flackert über seine Züge.
"Und ich fürchte, daß keiner von uns in diesen Tagen sehr gut schläft..."
Sie nickte und ersparte ihm eine weitere scharfe Antwort. Stattdessen wandte sie sich ab, sich der Unhöflichkeit der Geste bewußt, doch nicht in der Lage, der Sehnsucht nach dem endlosen Firmament zu widerstehen, nach dem letzten Versprechen einer Freiheit, die man ihr versagt hatte. Ihr Herz schlug schneller als die Hufschläge zurückkehrten in endlosem Trommeln, das Gefühl eines niemals endenden Rittes, das Donnern der Rohirrim, die über die Ebenen eilten um in der Schlacht zu tanzen.
Sie schloß ihre Augen.
"Ich kann in dieser Stadt nicht atmen..."
Sie sprach mehr zu sich selbst, als sei er aus ihrem Bewußtsein verschwunden, hinfortgewischt von den donnernden Hufschlägen, und als sie ihn hinter sich scharf Luft holen hörte, verspürte sie das dringende Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen, dafür, so offen zu ihm zu sein... oder ihn, dafür, daß er da war.
"Es tut mir leid dies zu hören." Seine Stimme stockte kurz und sie wandte sich um. Er blickte sie forschend an. "Ich wünschte, ich könnte etwas tun."
"Das könnt Ihr, doch Ihr werdet nicht", erinnerte ihn Eowyn, weniger hart als sie es empfand, denn etwas in seinem Ausdruck gemahnte sie zur Vorsicht.
"Das ist richtig." Er nickte, senkte den Kopf wie in Bedauern gesenkt. "Wir alle folgen den Pfaden, die sich uns darbieten, Eowyn von Rohan. Und so wie Eure bittere Medizin ist, daß Ihr nicht zum Schwarzen Tor aufbrechen könnt, wie Ihr es wünscht, so seid versichert daß das Gift in meinem Becher darin besteht, daß ich Euch diesen einen Wunsch nicht gewähren kann, noch werde."
Er hob seinen Blick ein weiteres Mal, und unter der Müdigkeit und Trauer war eine Stärke, die sie bereits zuvor gesehen hatte. Eine Stärke, die nicht nachgeben würde, nicht vor ihr, vor niemandem. Und wieder fühlte sie sich gedemütigt von dieser Stärke, von der niemals wankenden Hingabe an das, was er tun mußte, was auch immer er sich selbst wünschen möge. Nicht gerade eine ihrer Tugenden, wie sie mit bitterem Zorn bemerkte.
"Kommt mit mir, edle Dame." Immer noch klang seine Stimme vorsichtig - und wen sollte es wundern, hatte ihm jedes seiner Worte doch nichts als ihren Zorn eingebracht, mochte er auch den falschen treffen. "Lasst mich Euch etwas zeigen."
Sie folgte, für einen Moment gezähmt vom Gefühl des Bedauerns, und er führte sie durch den Garten hinüber zur Mauer. Eine verwitterte Treppe schlang sich die Wand entlang und sie folgte dem ruhigen, leisen Schritt des Truchseß nach oben.
Dort angekommen trat er einen Schritt zur Seite, um ihr freie Sicht zu ermöglichen auf das, weswegen sie gekommen waren, und sie hielt überwältigt inne.
Ein kalter Wind nahm ihre Haare auf und spielte mit den langen, blonden, offenen Strähnen, als die Freiheit sanfte Finger nach ihr ausstreckte. Sie war hoch, so hoch oben auf den Mauern und weit unter sich sah sie die endlosen Ebenen und Hügel bis hin zum Horizont. Keine Steine versoerrten ihren Blick, keine Häuser, keine Schranken. Der Wind sang von Freiheit und ihr Blut antwortete fiebrig.
Hufschläge von ferne...
Sie atmete tief durch, schloß ein weiteres Mal die Augen und übergab sich dem Wind, ließ sich trösten, küssen wie von einem teuren Freund, ließ ihn die Wunde, die unvermindert in ihr blutete, mit sanften Streichen lindern., und sei es nur für den Augenblick.
Erst nach einer Zeit, die ihr wie Stunden vorkam, erinnerte sie sich an ihren Begleiter. Ein wehmütiges Lächeln hatte sich auf seine Züge gestohlen, das ihn ebenso zu schmerzen schien wie sie selbst. Für einen irrationalen Augenblick überkam sie das Bedürfnis, ihn zu trösten.
"Ich danke Euch"; sagte sie leise. "Für einen Hauch von Freiheit..."
