In jeder Furcht liegt Frieden
In jedem Sturm schläft ein Kristall
Wie lange ist es her, daß sie fortgingen?
Seine Augen suchten den Horizont ab, wohl wissend, daß es vergeblich war. Der König und seine Armee waren zu weit fort, lange sogar schon jenseits der Blickfeldes weißen Turmes von Gondor, dessen stolzes Gleißen ihnen sicherlich ein letztes Lebewohl gewunken hatte, bevor die schimmernde Spitze hinter ihnen verschwand.
Wie lange, seit der letzte Marsch Gondors begann?
Er begann, in der Morgensonne hin und her zu laufen, zehn Schritte bis zur nächsten Wand, die den Weg auf den Wällen unterbrach, zwanzig zur anderen Seite. Dreißig Schritte, die Säulen seiner Welt.
Werden wir wissen, wenn du fällst, Elessar?
Sie müssen Osgiliath längst passiert haben... dann über den Anduin...
In Gedanken folgte er den Pfaden die er so gut kannte, Pfade, die für so lange Zeit sein Leben und sein Schicksal gewesen waren. Der Weg durch Ithilien, dann die Kreuzung... Er fragte sich flüchtig, ob sie wohl Morgul Vale schon passiert hatten, ob der Ort, der sicherlich der Tod zweier kleiner Hobbits gewesen war, auch der verzweifelten Reise des Königs Elessar ein Ende setzen würde.
Zehn Schritte bis zur Ende der Mauer.
Er hielt inne und atmete tief durch. Für einen kurzen Moment fragte er sich, wie es wohl wäre, wenn das Ende schließlich käme. Ob es alles in Feuer enden würde, in Zerstörung und Flammen, die das Zeitalter Mordors ankündigten, das über Mittelerde herrschen würde, oder ob alles einfach nur... anhalten würde.
Er hoffte, dem Ende fest ins Antlitz zu sehen, das hatte er gesagt, und er hoffte es wirklich, doch trotzdem ließ ihn jede Stunde, die er in der falschen Sicherheit der Gärten der Häuser der Heilung verbrachte, das Ende noch mehr fürchten.
Wirst du mir ein schnelles Ende gewähren? Oder bin ich wieder verdammt, zu leben, so wie stets, werde ich verdammt sein, zu sehen wie alles um mich herum stirbt?
"Herr Faramir?"
Er hielt inne, aus seinen Gedanken gerissen und die störende Stimme willkommenheißend wie nichts anderes. Für einen Augenblick schloß er die Augen, dankbar, daß sie da war, dankbar, daß sie Wort gehalten hatte. Die schwarze Furcht, die sein Herz in den Klauen hielt, wandelte sich zu blasserem Grau, ein winziges Lächen fand den Weg auf seine Lippen.
"Edle Dame..."
Er wandte sich um und erblickte sie. In der blassen Frühlingssonne stand sie, ihr Haar offen, ein Spielzeug des Windes, der hier oben niemals nachließ. Die drohende Dunkelheit hatte ihren Blick schon gefangen, und sie starrte gen Osten, gen Mordor. Vorsichtig trat er neben sie, hoffte, sie nicht zu verschrecken, doch wenn sie es bemerkte, so zeigte sie es ihm nicht. Still standen sie beieinander und keiner von ihnen konnte den Blick von den Wolken lösen. Beide spürten sie, daß obwohl sie zurückgelassen worden waren, dies die einzige Art war, wie sie ebenfalls der Dunkelheit trotzen konnten, so wie die, die sie liebten. Auf den Mauern Minas Tiriths stehend, würden der Truchseß von Gondor und die Edle von Rohan niemals nachgeben, nicht, bis ihr letzter Atemzug verklungen war.
"Laßt uns zurückgehen."
Ihre Stimme durchbrach die bebende Stille zwischen ihnen und hätte ihn beinahe zusammenzucken lassen, doch es war keine Härte in ihren Worten, nur ein Hauch von Erschöpfung, als habe hier oben zu stehen alle Stärke aufgebraucht, die sie zu geben hatte. Er nickte, ließ sie in einer bereits zu Fleisch und Blut gewordenen, höflichen Geste vortreten und sie huschte lautlos die verwitterten Stufen hinunter. Er folgte ihr, langsamer, und als er letztlich unten ankam, sah sie unten auf dem Rasen sitzen.
Dieser Teil der Gärten war abgeschloßen, ein Stück entfernt von den sorgfältig bestellten Rasen und Büschen, eine kleine Erinnerung an etwas Wildes, Reines. Er bezweifelte, daß man oft hier her kam. Es ging hier nicht weiter, nur auf die Mauer. Und wenige brachten in diesen Tagen den Mut auf, auf der Mauer zu stehen.
Sie blickte auf zu ihm, wartete darauf, daß er sich zu ihr setzen möge, ihre weißen Röcke lagen ausgebreitet um sie wie die Wellen eines hellen Brunnens. Faramir fühlte sich an Frühling erinnert, den ersten Tag des Frühlings nach einem endlosen Winter, und dennoch war die blasse Blüte des Schnees immer noch so gegenwärtig in jedem einzelnen Atemzug. Er setzte sich neben sie, noch weniger entspannt, als sie es war, und Stille umfing sie ein weiteres Mal, eine angenehme Stille, die ihn nicht dauerte. Ihre Hände bewegten sich unruhig, zupften an den Röcken, wischten ungeduldig Strähnen gloriosen Goldes hinfort, die Finger liefen aneinander entlang, als könne sie keinen Moment wahrhaft innehalten.
"Würdet Ihr mir von Rohan erzählen?"
Vorsichtig fragte er sie, sanft, zögernd sogar. Er war nicht sicher, ob der Gedanke an ihre Heimat tröstend oder verunsichernd auf sie wirken würde, und wie sie auf seine Offenheit reagieren würde. Sie schwieg eine Zeit lang, auf ihre Hände blickend, die an einem kleinen Hözchen zupfend, und als sie sprach, erschien dies sehr plötzlich. Ihre Worte kamen zögernd, als ob sie nicht wüßte, wo sie beginnen sollte, oder was für einen Bericht er von ihr erwartete. In einem Augenblick fast sarkastischer Erkenntnis begriff er, daß er es auch nicht wußte. Doch mit jedem Wort ihres Berichtes wußte er mehr, warum er gefragt hatte. Ihre Stimme, klar und kühl, bisweilen ernst wie die Schildmaid die sie war, bisweilen sanft, stockend wie eine Blume, die noch nicht zu blühen wagte, schnitt durch das Dickicht seiner Ängste und Sorgen, wie ein Strahl Sonnenlicht, das die Dunkelheit durchbrach. Er lehnte seinen Rücken gegen einen Baumstamm und schloß die Augen, ließ ihre Stimme ihn einfangen und hinforttragen zu den Orten von denen sie sprach. Die endlosen Ebenen des Landes der Pferdeherren, Edoras, auf einem Hügel gelegen, stolz und frei wie die Rohirrm selbst, Meduseld, der Stolz ihres Volkes, Heimat für so lange Zeit. Sie war nicht sehr geübt darin, Geschichten zu erzählen, doch es war ein ehrlicher Ton in ihrer Stimme, der ihn tiefer traf, als es ein Barde vielleicht gekonnt hätte. In diesen Tagen war das Gefühl von Wirklichkeit kostbar, wenn das Ende aller Tage über der Stadt hing, einem wartendem Raubtier gleich, und sie war wirklich, so wie jedes Wort ihrer Erzählung.
Ihre Stimme bebte, als sie von den letzten Herren der Goldenen Halle sprach, und er drängte sie nicht, erkannte und erspürte den Schmerz in ihrer Stimme. Er lächelte, wehmütig, und öffnete die Augen.
"Eines Tages würde ich gerne sehen, wovon Ihr sprecht."
Sie gab einen kleinen Laut des Ekels von sich, und sie wandte sich ab.
"Es ist lange her, daß die Euren in die Mark kamen, edler Herr. Ist es nicht so, daß Gondor den Rohirrim weniger Wert zuspricht, da doch das Blut Numenors nicht in unseren Adern rinnt so wie in den Euren?"
Er senkte den Kopf. Sie hatte nicht unrecht, und viele in dieser Stadt würden ihr zustimmen. Doch Faramir hatte der Idiotie selbstgewählter Isolation niemals viel abgewinnen können, und dieses Mal würde er nicht die Schuld für etwas auf sich nehmen, das nicht in seinem Willen geschehen war.
"Das ist nicht wahr", antwortete er, mit sanfter Stimme, doch festem Tonfall. "Niemand, der die Rohirrim auf den Pelennor reiten sah, könnte derlei denken."
"Soweit man mir berichtete, saht Ihr uns nicht kommen." Wie ein Pfeil trafen ihre Worte, und für einen, schecklichen Augenblick erinnerten sie ihn an tausende andere Unterhaltungen, die ihn verletzt und besiegt zurückgelassen hatte. Denethor hatte es wie kein anderer verstanden, seine Worte gegen ihn selbst zu wenden, seine Träume zu zerstören mit eben jenen Waffen, die er ihm zuvor in die Hand gegeben hatte. Faramir wußte nichts zu sagen, nichts zu tun, und so hielt er nur den Blick der stahlblauen Augen Eowyns.
Sie blickte ihn ernst an, ein leichtes Stirnrunzeln auf ihrer Stirn, bevor sie ihn von ihrem Blick befreite, um zurück zu den Händen in ihrem Schoß zu sehen. Ein trauriges Lächeln begann, ihr Gesicht zu berühren, als sie für einen Augenblick ihre Augen schloß, ein leichtes Seufzen kam über ihre Lippen.
"Es tut mir leid, edler Herr. Ich bin ungerecht."
Er spürte dasselbe Lächeln auf seinen Lippen, Erleichterung wusch durch ihn hindurch, als Denethors Geist verschwand. Er war nicht sicher, ob er sagen können würde, was sie getan hatte, Schmerz wie Vergebung, einer Absolution gleich, die Denethor ihm niemals gegeben hatte... doch sie konnte es.
"Laßt es uns vergessen", antwortete er sanft, froh, daß seine Stimme nicht verriet, wie sehr sie ihn getroffen hatte. Sie nickte, nur langsam, einen winzigen Hauch von Röte auf den fahlen Wangen. Für einen Augenblick umschloß Stille sie, und dieses Mal bemerkten sie es lange nicht. Schließlich war es wieder Eowyn, deren klare Stimme das Schweigen brach, und einen kleinen Vogel hinfortjagte, der gewagt hatte, sich ihren weißen Kleidern zu nähern, um die seltsame Farbe zu inspizieren. Ärgerlich trillernd ob der Störung entferte er sich und sie lächelte, noch während sie sprach, einer Blume ähnlich, die tapfer den letzten Schnee des Winters durchbrach.
"Erzählt mir von Gondor."
Er blickte sie an, wie vom Blitz getroffen. Nicht häufig fragte man ihn wahrhaft nach seiner Meinung, seltener noch begrüßte man sie, und er hatte nicht damit gerechnet, eine solche Frage von ihr zu erhalten, wo sie doch offensichtlich Gondor nicht sehr wichtig erachtete.
"Edle Dame?" Die Worte waren heraus, ehe er es verhindern konnte. Sie wandte sich um, die Überreste ihres Lächelns noch auf ihren Lippen, als sie beide Brauen hob und ihn verwundert musterte.
"Nun, Herr Truchseß, soweit ich mich erinnere, habe ich in aller Ausführlichkeit von meinem Heimatland berichtet. Vergebt mir, falls ich mich irre, denn schließlich besitzen wir nicht die Höflichkeit der Eurigen, doch wäre es nicht angemessen für Euch, den Gefallen zu erwidern?"
Er benötigte einige Augenblicke um zu begreifen, daß sie ihn neckte. Verborgen unter dem scharfen Klang ihrer Worte war Humor, und sie hatte ihm ein wenig davon gezeigt. Unwillkürlich lächelte er, das erste, wahrhaftige, offene Lächeln, das er wagte seit einer Zeit, die sich wie Jahre anfühlte. Er sah einen Widerhall des Lächelns auf Eowyns Gesicht, als er ihren Wunsch erfüllte, ihr von der stolzen Stadt Minas Tiriths erzählte, von den umgebenden Ländern, von Osgiliath, der Stadt der Musiker und Poeten, wo diese Künste so nahe an seinem Herzen lagen. Er sprach von Ithilien, den unglaublichen, warmen, fruchtbaren Ländern die, obwohl die Grenze zu Mordor so nah war, niemals ihre Schönheit verloren hatten. Er sprach von der Stärke, die in dieser Schönheit lag, daß sich die Länder niemals unter dem Schatten gebeugt hatten, und es gelang ihm, nicht zu sagen, daß Ithilien ihn in diesem Punkt an sie erinnerte. Ihr Blick ruhte auf ihm, ernst, kühl, fest und blau, doch nichts von ihren Gedanken verratend. Dennoch sprach er weiter, gab sich den Erinnerungen seines Landes hin, als er ihr von den Wundern Gondors berichtete.
"Ihr liebt dieses Land sehr", sagte Eowyn leise, als er schließlich schwieg. Ein müdes Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er nickte. "Wenn man Euch so reden hört...", Ihre Stimme war vorsichtig, sanft, beinahe hinfortgetragen von dem Wind, ehe er die Möglichkeit hatte, zu höre, was sie sprach, "... denke ich, man könnte es ebenfalls lieben lernen.
Sprachlos wandte er den Blick ab. Wie oft hatte er gehört, daß ihm die Liebe zu seinem Lande fehlte, die wilde, rauhe Hingabe, die sein Bruder stets zeigte.
Er war es nicht gewöhnt, daß jemand verstand, daß seine Liebe sich anders zeigte.
Und in der Stille, die sich auf sie legte, war die Tatsache, daß er nicht aufhören konnte zu lächeln, das, was ihn am meisten beunruhigte...
