Die Sonne schien hell, ihr warmes Licht zeichnete sich sanft bewegende Punkte auf den hölzernen Schreibtisch, wandernd mit dem Schwingen der Vorhänge im leichten Wind, doch unfähig, die letzten Reste von Kälte aus dem Raum zu vertreiben. Faramir lehnte sich zurück in den hölzernen, geschnitzten Stuhl, der nur wenig Annehmlichkeit versprach, denn schließlich war dies ein Arbeitszimmer, kein Privatraum. Er schloß die Augen und versuchte, sich vor den Erinnerungen abzuschirmen, die ihn ungefragt heimsuchten.

Denn die Erinnerung wo er war, und warum er hierhergekommen war, weigerte sich standhaft, ihn zu verlassen, wie ein leises Flüstern in seinem Hinterkopf, das niemals völlig verstummte. Unwohlsein verblasste nicht, nicht einmal im hellsten Sonnenstrahl.

Selten nur hatte man ihn bisher in diesen Raum eingelassen. Denethor zog es vor, jede Besprechung, sogar die mit seinen Söhnen, in die große Halle zu verlegen, dort, wo die Augen der Erinnerung zahlloser Truchsessen und Könige auf sie herabblickte, wie um sie an die Last und das Versprechen zu erinnern, das sie an die Stelle gebracht hatten, an der sie sich nun befanden. Denn genauso wie Faramir hatte Denethor kaum jemals etwas ohne Hintergedanken getan.

So war dies das Zimmer der verborgenen Vorwürfe gewesen. Der Raum, wo geschah, was der Hof nicht hatte sehen sollen. Niemals hatte er in diesen vier Wänden geweint, doch es schien, als sei der Schmerz immer noch allgegenwärtig, wie ein Zauber in der Luft.

Er atmete tief durch und wappnete sich, bevor er die Augen öffnete. Für einen flüchtigen Augenblick schien er in graue Augen zu sehen, ein Lächeln, vorsichtig, doch heller als die Sonne jemals zu scheinen vermochte, und er konnte nicht umhin, zu wünschen, sie sei hier, wünschte, ihre Stärke würde ihm helfen, zu stehen wo er nun fiel.

Diesen Morgen erst hatte er, halb mit Billigung der Heiler, halb auf eigenen Wunsch, die Häuser der Heilgun verlassen. Die Stadt schäumte über in Trubel und Lebensfreude, und die Nachricht dessen, was am Schwarzen Tore Mordors geschehen war eilte wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Feiern durchzogen die Stadt, und die Menschen begannen zu glauben, daß der Schatten, der diese Stadt so lange in seinem Griff gehalten hatte, jetzt vielleicht endlich verschwunden sein mochte.

Es gab viel zu tun, denn wo man feiert und trinkt ohne Maß, war Ärger nicht fern, und jeder Mann, der ein Schwert zu tragen imstande war, war mit dem Heer fortgezogen. Aragorn, oder Elessar, wie er ihn wohl nennen sollte, würde bald vom Schwarzen Tor zurückkehren, und die Stadt zu übernehmen wünschen. Faramir wollte nicht, daß sich die Stadt in Aufruhr befände, wenn der König käme, nachdem die Truchsessen nach bestem Wissen und Gewissen so lange über Minas Tirith und Gondor gewacht hatten.

Es war sein Pflichtgefühl, das ihn hierhergebracht hatte, an diese Pflicht, die zu erfüllen man ihn erzogen hatte. Wäre es nach seinem Herzen gegangen, hätte er nie wieder Denethors Studierzimmer betreten. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, wenn es nach seinem Herzen gegangen wäre, wäre er in den Häusern geblieben... bei ihr.

Sie hatte ihm nicht den geringsten Hinweis gegeben, daß sie das auch wünschte, hatte ihn nur höflich verabschiedet, als er ihr von seinen Pflichten, seiner Verpflichtung, zur Zitadelle zurückzukehren, berichtete. Ihr Lächeln, als sie ihm nachgesehen hatte, war ebenso höflich gewesen, höflich und herzzerreißend, fühlte er sich ihr doch immer noch verbunden nach dem seltsamen Moment der Nähe, den sie auf den Stadtmauern geteilt hatten.

Doch es schien, als bliebe sie ein Traum, nicht mehr, nicht weniger, wie ein Geist, der in einem Flügelschlag seine Seele berührte und einen Hoffnungsschimmer versprach, doch nicht hielt, als sein Herz sich danach streckte.

Ein leises Seufzen stahl sich über seine Lippen als er sich vorbeugte, die Ellenbogen auf der Schreibplatte, sein Kopf in seinen Händen. Wenn man es im Licht betrachtete war es sinnlos. Träume würden ihm nun nicht helfen, nicht so sehr wie Routine.

Und so öffnete Faramir die Schubladen des Schreibtisches, rief nach dem Schreiber seines Vaters und begann, sich durch die Unterlagen zu kämpfen, die sein Vater ihm hinterlassen hatte.

Atme...

Atme, und wenn es mehr schmerzt als du ertragen kannst....

Sie wanderte durch die Häuser der Heilung, Schritt für Schritt, ein Atemzug mit jedem Schritt, lief ohne Ziel und ohne Grund.

Noch einer... immer noch einer...

Schau nie nach dem ganzen Weg, nur den nächsten Schritt, nur den nächsten Schritt...

Sie wandte sich nicht um, denn sie wußte, daß es nichts zu sehen gab. Sie wußte nicht, worauf sie wartete, und das machte es schwieriger, weiter zu gehen, denn jeder Hoffnungsschimmer schien sich weit hinter den Horizont zurückgezogen zu haben.

Ich kann die Pferde nicht mehr hören...

Für einen flüchtigen Augenblick wunderte sie sich über ihre Stimmung, denn zu einer Zeit, noch gar nicht lange her, hatte es so ausgesehen, als gäbe es ein Morgen. Doch dieses Gefühl hatte sie verloren, wann auch immer.

Ja...

Eowyn hielt inne, hörte gar auf zu atmen, als ob es ein stummes Abkommen gegeben hätte, daß sie weiteratmen würde, so lange sie lief.

Ich weiß, wann ich es verloren habe.

Es war in dem Moment gewesen, in dem Faramir ihr berichtet hatte, daß er zurück in die Zitadelle gehen würde. Es war in der Stunde gewesen, in der die Wahrheit der Wirklichkeit ein weiteres Mal an schmerzvoller Intensität gewonnen hatte, als sie verstand, wo sie war, wer sie war... und wer nicht.

Sie war die Dame Rohans, Schildmaid, Nichte des Königs... des ehemaligen Königs von Rohan, Schwester Eomers, des neuen Königs der Mark. Sie war kalt, stark, hart. Sie war gewogen worden, und gemessen, und man hatte sie für unzureichend befunden, auch wenn sie den Hexenkönig erschlagen hatte.

Denn in Aragorns Augen war immer noch nichts als freundliches Mitleid.

Denn sie hatte nicht mit dem Heer reiten dürfen...

Denn Bitterkeit war ihre Kleidung und Tod ihr Gewand.

Und Faramir?

Sie legte die Hände an die Schläfen und versuchte, den Gedanken auszusperren.

Er war gegangen - und hatte sie ihren eigenen Dämonen zum Fraße überlassen.

Wo bist du Freund? Hörst du mich nicht rufen?

Natürlich konnte er das nicht. Und sie konnte nicht rufen, denn stolze Schildmaid war sie, und das würde sie auch bleiben. Sie hatte nicht die Kraft, dies auch noch hinter sich zu lassen, denn wenn sie es würde, so würde nichts bleiben. Und so würde sie sich ohne ihn zurechtfinden müssen, als seine Unterstützung schwand wie jede andere, die sie in ihrem Leben je erfahren hatte. Sie mußte sich auf sich selbst verlassen. Das war ihr schon einmal gelungen.

"Edle Dame Eowyn?"

Sie wandte sich zu der schüchternen Stimme eines Pagenjungen, der kaum zehn Jahre alt sein mochte. Sein gondorianischer Akzent war schwer, noch stärker ausgeprägt als sogar Faramirs, der die Angewohnheit hatte, seine Betonung auf höfische Art zu überspitzen - auch wenn sie bisweilen den Eindruck gewonnen hatte, daß er in ihrer Gegenwart versuchte, weniger höfisch zu sprechen.

"Ja?"

Sie war ungeduldig und schlecht gelaunt, auch wenn sie es nicht an dem Pagen auslassen wollte. Sogar die kleine Erinnerung an Faramir schmerzte.

"Ein Reiter fragt nach Euch." Er schien eingeschüchtert von ihrem abweisenden Verhalten, und sie fühlte sich nicht danach, diesen Eindruck zu revidieren.

"Was will er?"

"Er... er kommt mit einer Nachricht von Eurem Bruder, edle Dame. Eomer von Rohan bittet Euch, zu ihm auf die Cormallenfelder zu reisen, denn die Feiern dort beginnen."

Sie wirbelte herum, um dem Blick des Jungen auszuweichen und schüttelte heftig den Kopf. Wo Eomer war, würde Aragorn sein.

"Sagt ihm, ich kann nicht."

"Edle Dame?"

Sie ballte die Hände zu Fäusten, stark genug, daß es schmerzte. Sogar der Gedanke, dort hinzugehen, die Jubelrufe zu hören, das Lächeln zu sehen, die Fragen ihres Bruders zu beantworten, Aragorn zu sehen, triumphierend...

"Sag ihm, ich werde nicht"

Beinahe schrie sie ihn an. Der Junge nickte und seine Stimme klang eingeschüchtert.

"Das werde ich tun?"

Sie spürte die Tränen in ihren Augen, als sie hörte, wie er sie verließ.

Und so bin ich nun wahrhaft tot?