Hallo und willkommen zur vierten Geschichte!

Was ursprünglich nur als Zweiteiler gedacht war und sich dann zur Trilogie ausweitete, wächst weiter. Auf den folgenden Seiten erwartet euch ein neues und, wie ich hoffe, spannendes Abenteuer unserer Lieblinge Legolas und Aragorn, das einige Fäden weiterführt, die in ManuKus und meiner letzten Geschichte offen blieben.

Um „Schatten" zu verstehen, sollte man in „Schuld und Sühne" zumindest mal hineingelesen haben. Das hilft, den Ursprung dieser Geschichte hier zu verstehen und die Rolle einiger auftauchender Nebencharaktere richtig einzuordnen. Es muss jedoch nicht sein.

Auf ein paar Punkte muss ich vor dem Beginn des ersten Kapitels noch hinweisen.

Zum einen wird die Handlung dieser Geschichte sich am Ende zu Tolkiens ursprünglicher Vorgabe zurückneigen, damit geschehen kann, was mit Aragorn später zu geschehen hat.

Zum anderen werden unsere beiden Helden diesmal eine Zeitlang nicht eben sehr sanft miteinander umgehen. Dennoch bitte ich euch: lest erst einmal bis zum Ende und urteilt dann, ob ihr mit der Idee und der Begründung der Vorgänge leben könnt. Ich habe mich jedenfalls bemüht, mich nicht allzu weit aus dem von Professor Tolkien festgelegten Rahmenuniversum herauszubewegen, sondern nur umgesetzt, dass er sehr viel Freiräume in den ersten Zeitaltern Ardas ließ. Zudem hat der gute Professor auch nicht viel über die Jugendjahre unseres Duos verlauten lassen. Das alles zusammengenommen läßt genügend Raum für Phantasie.

Die Geschichte selbst ist bereits fertig und hat nur 9 Kapitel. Das ist im Vergleich zur Vorhergehenden wirklich kurz. Ich werde die Kapitel im Abstand von 3-4 Tagen einstellen, damit sie vor Weihnachten noch komplett zu lesen ist.

Und nun viel Vergnügen beim Lesen!


Schatten

Eine „Der Herr der Ringe" - Story

von

Katrin Glase

Mit Feinarbeiten von ManuKu

Was wäre ich ohne dich?


Die Handlung spielt etwa ein Jahr nach den in „Schuld und Sühne" beschriebenen Ereignissen und knüpft lose an den Ausgang dieser Erzählung an. Alle bekannten Charaktere wie Legolas, Aragorn etc. gehören Tolkien, alle hinzuerfundenen Personen wie Miro oder Clary ManuKu und Salara.

Der Mythos, der zu Beginn der Geschichte erzählt wird, entstammt (abgesehen von den letzten vier Absätzen) Tolkiens Erzählungen über die Zeitalter der Leuchten bzw. entsprechenden Nachschlagewerken.

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Der Mythos hinter der Geschichte

...und es begab sich zu jener Zeit, die in den Mythen „Frühling Ardas" genannt wird, als Yavanna, die Spenderin der Früchte, die großen Wälder und weiten Wiesen, die Flüsse, Felder und Tiere schuf, dass sich weit im Norden, jenseits des Königreiches Almaren, die bösen Maiar-Geister sammelten. Zusammen mit Melkor drangen sie in Arda ein und halfen ihrem Herrn dabei, heimlich die gewaltigen Eisenberge zu errichten und sie wie einen Wall um die Nordlande zu ziehen. In ihrem Schatten baute Melkor sich dann die unterirdische Festung Utumno und begann alsbald damit, in ihren unzähligen Gruben und Verliesen aus Yavannas schönen Geschöpfen Ungeheuer verschiedenster Art zu machen. Da er gleichzeitig danach trachtete, das Werk der Valar zu verderben, ließ er sein Gift in die Wälder und Flüsse sickern.

Als er sich schließlich stark genug wähnte, sammelte er seine Kreaturen um sich und begann einen Krieg gegen die Valar. Deren Überraschung nutzend, warf er die mächtigen Säulen der Großen Leuchten um. Ihr Fall ließ die Berge zerbrechen, und die gewaltige Flamme, die in ihnen gebrannt hatte, leckte alles verzehrend über die ganze Welt.

Auf Arda brach Chaos aus, in dessen Verlauf das Königreich Almaren schließlich vollständig zerstört ward und die Welt in tiefer Dunkelheit versank. Das Antlitz Ardas wurde in dieser Zeit von Erdbeben, Bränden und Fluten verwüstet, und es erforderte alle Macht, die die Valar besaßen, den Tumult zu beenden und eine vollständige Zerstörung ihres geliebten Werkes zu verhindern.

Dann zogen sie nach Westen, in jenes Reich, das späterhin als die Unsterblichen Lande bekannt wurde, während Mittelerde nun für lange Zeit gänzlich Melkors Wüten überlassen blieb.

Im Schutze der Pelóri-Berge pflanzten die Valar zwei gewaltige Bäume, Laurelin und Telperion, und ihr Leuchten erhellte die Westliche Heimstatt und nährte alle, die in ihrem Glanze lebten. Eine Zeit der Glückseligkeit brach an in Valinor. Die Adler, die Ents und die Zwerge wurden geschaffen, und schließlich entzündete Varda, die Herrin des Himmels, die Sterne wieder, woraufhin die Elben erwachten.

Als Melkor davon erfuhr, machte er sich auf den Weg, um sie zu versklaven und zu vernichten. Er fing Elben und Ents, quälte sie und erschuf schließlich aus ihren geschundenen Leibern seine eigenen Schöpfungen, Orks und Trolle.

Auch die Valar hatten inzwischen durch Orome Kunde vom Erwachen der Elben und den finsteren Taten Melkors erhalten, und so hielten sie Rat miteinander. Zusammen mit den Maiar zogen die Valar schließlich nach Mittelerde, um dem Treiben Melkors endgültig Einhalt zu gebieten.

Es kam zum Krieg der Mächte, der unendlich lange Zeit tobte und mit dem Sieg der Valar endete. Sie vernichteten die Heere des finsteren Herrn, stürzten die Eisenberge um, zerstörten Utumno und schlugen endlich Melkor selbst in eine von Aule geschmiedete Kette, um ihn in die Gefangenschaft zu führen.

Glücklich über ihren so schwer errungenen Sieg, vergaßen die Valar jedoch zwei wichtige Dinge: die finsteren Kreaturen Melkors vollständig zu vernichten und sämtliche Gruben und Verliese der Feste Utumno zu öffnen und zu durchsuchen. Sie glaubten, dass es die Gefahren, die in Utumno gewohnt hatten, ohne Melkor nun nicht mehr geben würde.

Doch der Schrecken und das Dunkle, das von ihm über so lange Jahrtausende in ihren Tiefen ersonnen und verborgen worden war, war längst nicht zerstört und fiel schließlich durch das Versäumnis der Valar dem Vergessen anheim.

Während der fürchterlichen Schlachten hatte Mittelerde schwere Schäden davongetragen, die sich nun wie frisch vernarbte Wunden dicht unter der Erdoberfläche jedem Blick entzogen. Doch für das, was in den Resten Utumnos eingeschlossen worden war, genügten diese wenigen Spalten völlig. So sickerten Melkors Gifte und Geschöpfte, ausgehend von den vergessenen Verliesen, auch weiterhin nach Mittelerde hinein und warteten darauf, ihr verderbenbringendes Werk fortzusetzen. Einiges, wie Orks und Trolle, war bekannt, anderes hingegen war nicht einmal den Valar jemals zuvor unter die Augen gekommen, und nicht jede von Melkors Listen war auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Vieles schmückte sich sogar mit Schönheit, um die alles Makellose liebenden Elben in den Bann des finsteren Herrn zu schlagen.

Eine der gefährlichsten, weil unauffälligsten, Schöpfungen Melkors hatte sich im Laufe der Zeit ihren Weg durch das unterirdische Spaltenreich gebahnt, bis es schließlich auf eine Höhle stieß, die - vor jedem Blick verborgen – inmitten jenes Waldes lag, der das Letzte Gastliche Haus Mittelerdes umgab.

Niemand – nicht einmal Elrond selbst – ahnte, was in den grünen Tiefen lauerte, als der Elb die vom Staub der Zeit bedeckten Mythen des Ersten Zeitalters an langen Winterabenden erst seinen eigenen Kindern, und Jahrtausende später dann seinem menschlichen Sohn erzählte. Mit der Zeit waren aus den Tagen von einst fast schon so etwas wie Märchen geworden, über denen man die wachsende Bedrohung durch Sauron für eine Weile vergessen konnte. Im Gegensatz zu diesem hatte ein Märchen noch nie jemanden getötet.

Bis heute.

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Prolog

In der Gegenwart

Er rannte um sein Leben, doch mit ihm lief eine Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass es umsonst sein würde.

Wie um seine Ahnung zu bestätigen, streckten die Bäume ihre knorrigen Astfinger nach ihm aus, als wollten sie ihn festhalten und schoben ihre Schatten im fahlen Mondlicht hin und her, um ihn vollends zu verwirren.

Bis er nicht mehr standhalten konnte und zusammenbrach.

Heftig pumpte der Atem durch seine Brust. Jedes Luftholen brannte wie Feuer, doch es war mild im Vergleich zum Feuer jener Worte, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen...

„Lauf! Lauf um dein armseliges bisschen Leben. Und verlier' es..."

Er hörte sie noch immer, die Stimme des Elben, der bis vor kurzem noch sein Freund gewesen war.

Legolas' Stimme.

Weiter! Nicht stehen bleiben, peitschte er sich in Gedanken voran, schob sich mit seiner letzten Kraft wieder empor, um erneut zu fliehen.

Schritt für Schritt brachte er hinter sich, über Moos, abgestorbenes Laub und herbstlich vergilbtes Gras. All das ahnte er mehr, als dass er es im Dunkel der Nacht mit seinen schwachen menschlichen Augen wirklich erkennen konnte. Prompt übersah er daher auch eine leicht aus dem Boden herausragende Wurzel, die ihn wie eine Fußangel innerhalb von Sekunden ein weiteres Mal zu Fall brachte.

Der Aufprall war hart, doch er spürte ihn weniger als er ihn hörte. Der Wald schien das Geräusch der unter seinem Körpergewicht brechenden kleinen Zweige wie Gewittergrollen weiterzutragen.

Momente lang erstarrte er. Lauschte angestrengt. Doch da war nichts. Nichts außer den üblichen Geräuschen einer Waldnacht. Dennoch wusste er... nein, spürte er, dass Legolas da war. Ihm ganz nah. Fast schon meinte er den Hass zu spüren, mit dem ihn der Elbenprinz verfolgte.

Mühsam raffte er sich wieder auf und rannte weiter.

Still war es im Wald, in dem die Baumschatten nach einer unhörbaren Melodie zu tanzen schienen.

Er hatte dafür keinen Blick, kein Ohr, sondern rannte. Keuchte. Bis die Lungen schier zu explodieren drohten und ihm wabernde Schleier das letzte Bisschen Blick auf seine Umgebung nahmen.

Folgerichtig stolperte er ein weiteres Mal über etwas, das er nicht sah.

Fiel ein weiteres Mal.

Wollte sich ein weiteres Mal aufraffen – und spürte plötzlich, wie seine Hände ihm unter dem Körper weggetreten wurden. Jemand drückte ihm ein Knie zwischen die Schulterblätter, riss seine Hände mit eisernen Griffen hinter seinen Rücken, kreuzte und fesselte sie dann dort. Gleich darauf wurde sein Nacken gepackt, sein Kopf zurück auf den Boden gedrückt.

Aragorn kannte dies alles schon. Es waren nur wenige Stunden vergangen, seitdem dieser Jemand ihn schon einmal misshandelt hatte. Diesem Jemand hätte er noch vor kurzem sein Leben anvertraut.

Legolas... Aragorn fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen.

„Du hast mir eine gute Jagd geliefert."

Legolas' Stimme hatte noch nie zuvor so verächtlich geklungen wie jetzt. Dieser Klang weckte neuerlichen Zorn in dem Menschen, doch er hatte kaum genug Luft zum Atmen, geschweige denn für jene Worte, die er seinem einstigen Freund am liebsten ins Gesicht geschleudert hätte.

Er wollte kämpfen, sich aus dem Griff befreien, der ihn mit dem Gesicht voran wie ein neugeborenes Wolfsjunges an den Boden presste, doch seine Gegenwehr fiel eher kläglich aus und wurde mit einem bösen Auflachen bedacht. Er wand sich unter dem stärker werdenden Druck und erntete einen nahezu betäubenden Schlag in die Rippen dafür.

„Ich hatte Recht, du bist ein Tier..."

Die Hand hielt seinen Nacken wie in einer eisernen Zwinge, presste sein Gesicht noch tiefer in den Waldboden. Erde, Laubstückchen und anderes drang mit jedem Atemzug in seine Kehle und füllte sie langsam aus.

„Jedes Tier wehrt sich, ehe es stirbt. Auch du, wie ich sehe. Nun denn, deine Zeit zum Sterben ist gekommen. Sag Lebwohl, Aragorn!"

Etwas traf seine Schläfe, ließ Sterne aufleuchten. Als sie verloschen, war da nichts mehr...

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Die Vorgeschichte

Kapitel 1: Entscheidungen

Das Tageslicht war langsam dabei, aus den Tiefen des Waldes zu verschwinden, der hinter den Bergen begann und sich bis Bruchtal hinzog. Es war erst Nachmittag, doch mit jeder Stunde, die sich der Abend weiter näherte, wurde mehr Raum für die Nachtkälte geschaffen.

Die dreiköpfige Elbengruppe, die vor wenigen Tagen aus den Nebelbergen gekommen war und seitdem beschaulich einen in weitem Bogen nach Südwesten führenden Pfad verfolgte, kümmerte sich jedoch nicht um die sinkenden Temperaturen. Das erstgeborene Volk empfand Kälte im Gegensatz zu den Menschen nicht als störend. Ebenso wenig behinderte das schnell schwächer werdende Tageslicht ihre Sicht. Dennoch zügelte der Anführer, dessen silbriges Haar im krassen Gegensatz zur Finsternis der umgebenden Wälder stand, nach einigen Stunden schließlich sein Pferd.

„Der Weg durch die Berge war beschwerlich für die Tiere. Sie sind müde und ich für meinen Teil hätte auch nichts dagegen, eine Zeitlang aus dem Sattel zu kommen. Immerhin liegt mein Ziel noch ein gutes Stück entfernt. Dies ist eine gute Stelle für ein Lager. Also lasst uns etwas essen und uns ausruhen."

„Ja, mein Prinz."

Leichtfüßig stiegen alle drei aus den Sätteln und versorgten die Pferde, um sich kurz darauf schließlich selbst auf den herbstkühlen Moospolstern des Waldes niederzulassen. Während die beiden Begleiter des Prinzen zu essen begannen, sah dieser – auf einen Ellbogen gestützt – eine Weile nachdenklich zum Himmel empor.

Wie soll ich die beiden nur davon überzeugen, mich allein weiterreiten zu lassen? Sie stehen immerhin unter direktem Befehl meines Vaters, und wie der lautet, kann ich mir lebhaft vorstellen: „Lasst ihn nicht aus den Augen! Keinen Moment!" So benehmen sich die zwei zumindest. Als wäre ich ein Elbenkind, das noch in seinen Kinderschuhen läuft und nicht selbst auf sich achten kann...

Legolas schnaubte geistesabwesend und registrierte nicht, dass seine Begleiter ihn verstohlen musterten. Sie spürten schon seit Tagen, dass ihr Prinz sich mit irgendeinem Problem herumschlug, wagten es aber nicht, mit ihm darüber zu reden. Sie wechselten unsichere Blicke, dann schüttelte Taurëdur, einer der beiden, stumm den Kopf. Sie sollten den Kronprinz Düsterwalds nur begleiten und beschützen. Es stand ihnen jedoch nicht zu, ihn zur Rede zu stellen.

Legolas hatte den lautlosen Austausch der Zwei nicht bemerkt; er hing noch immer seinen Gedanken nach.

Ich kann Vaters Sorge um mich nach den Ereignissen des letzten Jahres ja verstehen, doch andererseits bin ich kein Kind mehr. Wenn ich ihm doch nur begreiflich machen könnte, dass es unnötig ist, mir eine Eskorte aufzuzwingen. Auch wenn sie nur aus zwei Bewachern besteht und Ausdruck seiner Sorge um mich ist, demütigt Vater mich mit diesem Befehl. Außerdem darf ich die beiden an jenen Ort, an den mein Weg mich führt,wirklich nicht mitnehmen. Aragorns Geheimnis muss gewahrt bleiben – vor ihnen und vor meinem Vater...

Er seufzte, dann wandte er den Kopf seinen Gefährten zu. Auch wenn der Elbenprinz wenig Hoffnung hatte, dass die beiden seine Anweisung befolgen würden, so wollte er es zumindest versuchen.

„Wir brechen besser erst morgen früh wieder auf. Ihr beide werdet dann nach Bruchtal an Lord Elronds Hof reiten. Ich folge euch in ein paar Tagen, denn es gibt noch etwas, das ich zuvor tun muss. Allein!"

Erneut sahen sich Legolas' Begleiter an, dann schüttelte Taurëdur den Kopf. Diese Unterhaltung hatte er schon seit einer Weile kommen sehen und sich davor gefürchtet, denn seine Befehle waren eindeutig...

„Ich bedauere, mein Prinz, aber das können wir nicht tun. Die Worte Eures Vaters waren in diesem Punkt unmissverständlich. Solange wir Bruchtal nicht erreicht haben, dürfen wir nicht von Eurer Seite weichen!"

Legolas hatte diese Antwort schon erwartet, dennoch wollte er die ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten nicht ganz außer Acht lassen. So setzte er sich kerzengerade auf, bemühte sich, so viel Autorität wie möglich in seine Haltung zu legen, und maß seine Begleiter mit einem kühlen Blick.

„Das war keine Bitte, Taurëdur, sondern ein Befehl..."

„...der von dem Eures Vaters aufgehoben wird."

„Mein Vater ist aber nicht bei uns. Nur wir drei sind hier, und da gilt einzig meine Anweisung!"

„Vergebt uns, aber in dieser Frage dürfen wir Euren Befehlen nicht gehorchen. Bitte, mein Prinz, dringt nicht weiter in uns. Wir dürfen Euch nicht allein lassen!"

Man sah, wie unglücklich die beiden Elbenkrieger angesichts dieser Feststellung waren, doch sie fürchteten die Vergeltung König Thranduils offenkundig weitaus stärker als die seines Sohnes, und Legolas konnte ihnen das insgeheim auch nicht verdenken. Nur allzu deutlich erinnerte er sich an die Behandlung, die Thranduil ihm im Frühjahr dieses Jahres nach seiner Rückkehr aus Bruchtal angedeihen ließ. Der Elbenkönig hatte seinem Sohn die heimliche Flucht aus dem Palast sehr verübelt und ihn das auch überdeutlich spüren lassen. Die nachfolgende Maßregelung war eine Erfahrung, die Legolas in den nächsten Jahrhunderten kein zweites Mal zu machen wünschte. Langsam nickte er.

„Ich verstehe. Dann werden wir eine Lösung finden müssen, wie das Geheimnis der Person, die nahe Bruchtal auf mich wartet, gewahrt bleibt. Derjenige stellt keine Gefahr für mich dar, doch ich habe mein Wort gegeben, über seine Identität zu schweigen, und ich gedenke mein Versprechen zu halten. Spätestens morgen Mittag muss ich die zu meinem eigentlichen Ziel führende Richtung einschlagen. Allein. Wenn uns bis dahin kein Ausweg einfällt, bedeutet das, dass ich unverrichteter Dinge umkehren werde. In diesem Fall machen wir einige Tage lang in Lord Elronds Haus Rast und kehren danach heim."

Schweren Herzens ließ Legolas sich auf das Moos zurücksinken.

Inzwischen wurde es dunkel und am Himmel begannen zwischen den Wolken Sterne zu flimmern. Es war ein wunderschöner Anblick, der zu jedem anderen Zeitpunkt das Herz des Elbenprinzen erfreut hätte, doch an diesem Abend hatte er keinen Sinn dafür. Seine Gedanken kreisten ununterbrochen um die Frage, wie er seine beiden Gefährten doch noch dazu bringen konnte, ihn allein weiterziehen zu lassen.

Mitternacht war bereits vorüber, als Legolas seine nutzlosen Überlegungen schließlich aufgab.

Er wollte um keinen Preis auf das Treffen mit Aragorn verzichten, konnte die Order seines Vaters jedoch auch nicht aufheben, die Einstellung seiner Begleiter nicht ändern und den väterlichen Befehlen nicht einmal Eigene hinzufügen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er doch noch zu dem gewünschten Ergebnis kommen sollte.

Erneut setzte Legolas sich auf, um ein weiteres Mal mit seinen Begleitern zu diskutieren, doch als er sah, dass Taurëdur inzwischen schlief und Sîrondo etwas abseits Wache hielt, verschob er sein Vorhaben auf den nächsten Morgen. Die Diskussionen brachten gar nichts, solange er nicht wußte, womit er den Widerstand der beiden Elbenkrieger brechen konnte.

Seufzend ließ sich der Prinz auf den Boden zurücksinken und spürte, wie die Müdigkeit rasch von ihm Besitz ergriff. Vielleicht verriet ihm sein Unterbewusstsein ja im Schlaf die Lösung?

Legolas hatte keine Ahnung, dass die so heißersehnte Lösung bereits auf dem Weg zu ihm war.

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Auch in dem kleinen Raum in der etwas entfernt liegenden Stadt wurde es langsam kühl, doch die beiden jungen Leute spürten die Kälte, die durch das winzige, von Regentropfen bedeckte Fenster eindrang, nicht. Sie lagen unter der dünnen Decke eng beisammen, teilten die Wärme ihrer nackten Körper miteinander und sahen verliebt und selbstvergessen dem flackernden Schattenspiel zu, das von den Flammen der aufgestellten Kerzen an die in abendliches Dämmerlicht getauchten Wände geworfen wurde.

„Laß uns von hier fortgehen." Clary sah über die Schulter zu ihrem Geliebten zurück, ohne sich aus seiner Umarmung zu lösen. „Wir können in eine andere Stadt gehen, in der uns niemand kennt, und dort heiraten, ein neues Leben anfangen. Nur du und ich. Ohne Zwänge, Verbote oder diese Heimlichkeit."

„Das geht nicht, und du weißt das!" Tröstend strich die Hand des Mannes über ihre langen dunklen Haare. „Du bist die Tochter eines reichen Kaufherrn und ich nur ein unbedeutender Niemand, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdient, die Pferde fremder Leute zu versorgen. Dir steht jede Tür offen, mir stets nur die zu den Ställen anderer..."

„Das ist mir egal!"

„Aber mir nicht!" Langsam gewann die Stimme des Mannes an Nachdruck. „Sieh dich doch hier um. Ich habe zwar, was ich brauche, doch dies ist das ärmste Viertel der Stadt. Alles hier ist karg, ärmlich, schmutzig... Sogar dieses Zimmer hier. Ich will nicht, dass du mein Leben führen musst, dass du Not und Entbehrung kennen lernst. Du verdienst ein besseres Leben als das, welches ich dir bieten könnte."

„Ich will kein besseres Leben! Ich will dich, ein Leben an deiner Seite." Die Stimme der jungen Frau klang verzweifelt. Sie drehte sich in den Armen ihres Geliebten herum, bis sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberlag. „Laß uns von hier fortgehen! Noch heute Nacht. Ich meine es ernst, Miro. Mein Vater hat während des Abendessen gestern angedeutet, dass jemand um meine Hand angehalten hat und er dem Antrag sehr wohlwollend gegenübersteht. Er hat keinen Namen genannt, doch das musste er auch nicht. Ich weiß auch so, um wen es sich handelt, denn ich sah ihn gestern aus unserem Haus kommen. Es ist Gorad Cobiarh."

Cobiarh war der Stadtamtmann, in dessen Händen Wohl und Wehe aller Bewohner lagen. Ihm oblagen sowohl die Rechtssprechung in der Stadt als auch die Aufsicht über das Stadtsäckel. Sein Wort wurde nicht angefochten, seine Handlungen nicht kritisiert. Kurz: er hatte die größte Machtposition in der Stadt inne und nutzte sie auch weidlich zu seinem und seiner Günstlinge Vorteil aus. Er besaß ein prachtvolles Haus im Herzen der Stadt, verfügte über ein sehr ansehnliches Vermögen und war zudem seit etwas mehr als einem Jahr Witwer.

„Dieser Greis?" Miro schnaubte verächtlich, während er die verzweifelte Clary an sich drückte. „Dein Vater kann nicht ernsthaft darüber nachdenken. Du bist doch gerade erst 18 geworden, während er doch bestimmt schon über sechzig ist."

„64," korrigierte Clary leise, während vor ihrem inneren Auge das Bild des Amtmannes aufstieg. Wie ein Pfau hatte er sich vor ihr gedreht, seine gierigen Augen waren über ihren Leib geglitten und sie hatte seine fleischigen Finger beinahe körperlich auf sich spüren können. Erneuter Abscheu ließ sie erzittern.

„Die Dienstboten sagen, dass er jähzornig ist, dass er seine Leute schlägt, wenn er getrunken hat, dass er lügt und man ihm nicht trauen kann. Leider weiß er die Menschen mit seinen schmierigen Worten für sich einzunehmen, wenn er will. Mein Vater ist das beste Beispiel dafür. Ihn interessiert der Altersunterschied nicht, solange er mich nur endlich von seiner Tasche weiß. Er benimmt sich fast, als wäre ich nichts weiter als ein Haustier, das ihm nur Ärger verursacht und weggegeben werden muss. Als ich ihn später bat, mich nicht an Cobiarh zu verheiraten, verlor er völlig die Fassung, Miro!"

Die großen Augen der jungen Frau spiegelten noch immer etwas von dem Entsetzen wider, dass sie zu jenem Zeitpunkt empfunden hatte.

„Er war ja schon oft wütend auf mich, doch noch nie so wie diesmal. Er schrie mich an, dass mich das nichts anginge, dann ließ er mich in mein Zimmer einschließen. Erst heute Mittag durfte ich es wieder verlassen. In Moment glaubt er, ich sei auf dem Markt, doch es wird bald dunkel und ich kann nicht mehr lange bei dir bleiben."

Sie stützte sich auf einen Ellbogen und sah zu dem jungen Mann hinunter, in dessen großen braunen Augen sie ihre Umrisse erkennen konnte.

„Mein Vater will mir heute Abend seine Entscheidung mitteilen, aber ich weiß schon jetzt, dass er mich an diesen Widerling verkaufen wird. Der wird mich in sein Haus einsperren und von seinen Schergen bespitzeln lassen... und wir werden uns nie mehr wiedersehen. Ich will aber nicht von dir getrennt sein."

Ihre Hand strich sanft über die Wange des jungen Mannes. „Wenn du etwas für mich empfindest, gehst du mit mir von hier fort."

Miro antwortete nicht sofort, sondern betrachtete das Mädchen, das gerade dabei war, zur Frau heranzuwachsen. Sie wusste nicht, was sie da von ihm verlangte, und sollte es um ihrer Liebe willen auch nie erfahren. Clary bat ihn um nicht mehr oder weniger, als dass er sein gerade neu geordnetes Leben aufgab, um es mit ihr zusammen irgendwo in der Fremde ein weiteres Mal aufzubauen.

Das wäre nach Ardaneh, Düsterwald und dieser Stadt dann der vierte Versuch, irgendwo Fuß zu fassen, dachte er, während er seine Wange in die schmale Hand Clarys schmiegte und sie gedankenverloren ansah. Aber ich liebe sie so sehr. Was habe ich hier schon zu verlieren? Nichts! Ihretwegen fange ich jederzeit wieder irgendwo neu an, solange sie dabei an meiner Seite bleibt.

„Gut." Er holte hörbar Luft. „Wenn du es wirklich ernsthaft willst, gehen wir von hier fort..."

„Oh, Miro, ich liebe dich!!!" Aufjauchzend fiel sie ihrem Liebsten um den Hals und schnitt ihm mit einem innigen Kuß das Wort ab, doch der gab sich diesem Genuss nicht lange hin, sondern schob sie gleich darauf sanft von sich fort.

„Hör mir zu. Wir können nicht sofort aufbrechen. Erst müssen noch ein paar Dinge vorbereitet werden. Ich muss meine Stellung aufgeben und alles verkaufen, was wir nicht unbedingt brauchen werden. Ich weiß noch nicht, wohin wir gehen können, doch die Reise wird auf alle Fälle beschwerlich werden. Darüber musst du dir klar sein."

Er dachte kurz an die Wanderschaft von Düsterwald nach Bruchtal zurück, in deren Verlauf er vor einem Jahr fast das Leben verloren hätte.

„Nimm nur das Allernotwendigste mit. Warme Kleidung und feste Schuhe vor allem, aber auch haltbaren Proviant und alles Geld, das du auftreiben kannst. Denk daran: viel Gepäck hält uns nur unnötig auf und erhöht die Gefahr, dass man uns wieder einfängt. Und was dann mit uns passiert, kannst du dir denken. Schaff die Dinge nach und nach aus eurem Haus, nicht alles auf einmal, sonst schöpft womöglich noch jemand Verdacht. Deponiere sie an einem sicheren Ort. Und gib acht, dass dich nie jemand dabei beobachtet."

„Ich weiß schon..." Helle Aufregung hatte bereits von Clary Besitz ergriffen. Ihre Augen leuchteten, als bekäme sie ein lang ersehntes Geschenk. „Mein Vater besitzt auch ein paar alte Lagerschuppen direkt neben dem nördlichen Stadttor. Dort werde ich alles verstecken."

„Gut!"

Miro setzte sich auf, angelte seine alte Tunika vom Boden, zog sie über, dann schlüpfte er in die Hose und erhob sich schließlich. Während er ihr das zuvor hastig abgestreifte Kleid auf das Lager warf und beobachtete, wie sie sich ohne jede Scheu erhob und vor seinen Augen hineinschlüpfte, wurde seine Miene plötzlich ernst.

„Um jedes Risiko zu vermeiden, dürfen wir uns bis zu unserem Aufbruch nicht mehr sehen. In vier Tagen von heute an gerechnet werde ich zur Stunde der Abenddämmerung am nördlichen Stadttor auf dich warten."

„Ich werde da sein!" Clary strahlte ihn an. Sie hatte sich inzwischen angekleidet. „Niemand wird etwas bemerken, verlass dich darauf!"

Er seufzte, als er sie zum letzten Mal in seine Arme zog. „Wenn mich die Vergangenheit etwas gelehrt hat, dann, dass man sich auf nichts verlassen sollte. Es gibt immer irgendetwas oder irgendjemanden, der auch den sorgsamsten Plan durchkreuzen kann."

Sie küssten sich, dann schlang Clary den dunklen Kapuzenumhang um die Schultern und ging zur Tür. Das Mädchen stand bereits auf dem schmalen hölzernen Laufsteg, der von Miros Zimmer hinab auf eine schmutzige, aber selbst zu dieser Abendstunde noch belebte Marktstraße führte, als sie noch einmal über die Schulter zurücksah. Miro stand inzwischen in der Türöffnung und sah ihr mit ernstem Blick hinterher.

Plötzlich begann sie eine vage Ahnung davon zu bekommen, wieviel der junge Mann ihretwegen aufzugeben im Begriff war: alles! Alles, was er hier besaß und war. Auch wenn sie bisher kaum etwas über ihn erfahren hatte, da er so gut wie nie über sein bisheriges Leben sprach, gab er doch ohne langes Zögern für sie auf, was er sich hier geschaffen hatte. Verlieh ihr ihre Liebe überhaupt das Recht, so etwas von ihm zu verlangen? Unsicher geworden blieb sie stehen.

„Noch kannst du zurück," sagte sie, doch die Festigkeit darin war nur Fassade. „Sag nur ein Wort und wir vergessen das Ganze."

Miro schüttelte den Kopf. Er hatte sich entschieden.

„In vier Tagen," antwortete er ihr. „Ich werde dort sein."

Sie nickte. Die Erleichterung war deutlich erkennbar. „Ich auch."

Ohne ein weiteres Wort schloß der junge Mann die Tür, während Clary die steile Treppe hinabstieg und bald darauf in das nun doch lichter werdende Menschengewirr der Straße eintauchte.

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Unweit des Hauses, das Clary gerade verlassen hatte, schob sich genau zu diesem Zeitpunkt ein weiterer, gleichfalls mit einem Kapuzenumhang verhüllter Mensch aus einem von flackernden Laternen beleuchteten Hauseingang. Auch dieses Gebäude wirkte nicht sonderlich gepflegt, doch das schien die Männer, die sich mehr oder weniger heimlich hierher stahlen, nicht zu stören. Es war allgemein bekannt, dass die „Damen" hier für Geld zu allen Diensten bereit waren. Die Gestalt trat auf die Gasse und sah sich suchend um. Zwei Männer, die sich hinter einem Mauervorsprung vor neugierigen Blicken verborgen hatten, nahmen dies als Aufforderung, hastig hervorzukommen und an die Seite ihres Herrn zu treten.

„Nach Hause, Männer..." schnarrte der seine Leute an, verstummte jedoch schlagartig, als in diesem Moment Clary an der gegenüberliegenden Hauswand vorbeihuschte. Sie hatte die Kapuze zwar über ihren Kopf gezogen, doch nicht tief genug, um auch das Gesicht vor zufälligen Blicken zu verbergen. Da sie nicht zur Seite blickte, entging ihr, wer da gerade Zeuge ihres „Ausflugs" wurde. Noch weniger sah sie den Ausdruck von berechnender Überraschung im Gesicht Cobiarhs, denn um niemand anderen handelte es sich bei dem heimlichen Bordellbesucher.

Interessiert sah er ihr nach, während es in seinen Zügen bereits sichtbar arbeitete. Nach kurzem Überlegen wandte er sich in die Richtung, in der Clary gerade verschwunden war. „Ich habe meine Meinung geändert. Ich denke, es ist nutzbringend, Meister Nigiath noch einen kurzen Besuch abzustatten. Ich bin neugierig zu erfahren, was seine Tochter so ganz allein hier zu schaffen hatte. Außerdem ist er mir ohnehin noch eine Entscheidung auf meinen Heiratsantrag schuldig."

Ohne eine Antwort seiner Männer abzuwarten, setzte er sich in Bewegung und stiefelte dem Mädchen hinterher.

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Kaum eine halbe Stunde, nachdem Clary wieder in das Haus ihres Vaters zurückgekehrt war, saßen der Stadtamtmann Cobiarh und der Kaufmann Nigiath bei Wein und Braten beisammen. Nachdem schließlich einige allgemeine Themen erörtert worden waren und die Abenddunkelheit sich endgültig vor die Fensterscheiben legte, glaubte Cobiarh lange genug um die für ihn eigentlich interessanten Fragen herumgeredet zu haben. Er griff nach dem mit schwerem dunklen Wein gefüllten Kelch und drehte ihn in den Fingern, doch sein lauernder Blick fixierte den Kaufmann über den Rand des Trinkgefäßes hinweg genau.

„Sagt, Meister Nigiath, mir scheint, Ihr setzt ein Vertrauen in Eure Tochter, das mir doch allzu groß und unangebracht erscheint!"

„Wie meint Ihr das?" Der Kaufmann runzelte argwöhnisch die Stirn.

„Nun..." Cobiarh lächelte sarkastisch. „Wie würdet Ihr es nennen, wenn man seiner zukünftigen Frau unversehens in einem der anrüchigsten Viertel der Stadt begegnet, sie noch dazu allein ist und sich verhüllt wie ein Dieb in der Nacht. Nennt Ihr so ein Verhalten etwa ehrbar? Ich jedenfalls nicht, und ich weiß nicht, ob sich so eine Frau für den mächtigsten Mann dieser Stadt eignet..."

„Wollt Ihr damit sagen, meine Tochter sei ehrlos?"

Der Kelch, aus dem Clarys Vater kurz zuvor noch getrunken hatte, wurde mit hartem Schwung wieder auf dem Tisch abgestellt. Wein schwappte über den Rand und färbte das bisher makellose Tischtuch rot, doch er verwandte keinen Blick darauf.

„Und überhaupt: wenn dieses Viertel so anrüchig ist, wie ihr sagt, was hattet Ihr dann dort zu schaffen, Amtmann?"

„Eben das, Meister Nigiath: Amtsgeschäfte."

Selbstzufrieden die Wut in den Augen seines Gegenübers gewahrend, lehnte Cobiarh sich zurück.

„Es kostet viel Zeit und Mühe, in einer Stadt wie dieser für Recht und Ordnung zu sorgen. Und manchmal muss man sich dafür auch die Schuhe schmutzig machen, indem man eines der heruntergekommeneren Stadtviertel betritt. Das ist im Übrigen schon mehr Rechtfertigung, als ich Euch schulde, Kaufmann. Ihr dagegen schuldet mir eine ganze Menge mehr. Zum Beispiel eine Antwort auf meine Frage eben. Oder eine auf meinen Heiratsantrag."

„Ihr wollt ihn also aufrecht erhalten?"

„Wenn Eure Tochter uns verrät, was sie in diesem Viertel wollte..."

„Das wird sie. Mein Wort drauf! Ich werde es schon aus ihr herausholen!"

Abrupt stand der Kaufmann auf, ging zur Zimmertür und riss sie auf. „Clary!!! Sofort kommst du her! Auf der Stelle!"

Es dauerte einige Augenblicke, bis das Mädchen im Raum erschien, doch ihr bis zu diesem Augenblick rascher Schritt stockte merkbar, als sie Cobiarhs angesichtig wurde, der nach wie vor am Tisch saß und sie mit gleichermaßen bösartigen wie lüsternen Blicken maß.

„Ihr habt mich gerufen, Herr Vater?" Unsicher sah Clary von ihm weg zu ihrem Vater, der von der Tür zurückgetreten war und nun die Hände in die Hüften gestemmt hatte.

„Ganz recht!"

Nigiath gab der Tür ein Schubs, die gleich darauf geräuschvoll zufiel. Für das Mädchen klang es, als fiele eine Kerkertür hinter ihr zu.

„Willst du mir etwas sagen, Clary?"

Die schluckte nervös. Das sah nicht sehr gut aus. Langsam schüttelte sie den Kopf.

„N-nein... das heißt, doch. Einen guten Abend, Herr Vater. Und auch Euch, Herr Stadtamtmann!"

„Willst du uns zum Narren halten?"

Das Gebrüll Nigiaths ließ die Scheiben in den Fenstern leise klirren und das eine Wörtchen „uns" machte einen Stein aus Clarys Magen. Einen sehr großen, sehr schweren Stein.

„Nein, Herr Vater!" Die Stimme des Mädchens war zu einem Flüstern herabgesunken, während sie sich verzweifelt bemühte, Cobiarh zu ignorieren. „So sagt mir doch, was zu hören Ihr von mir verlangt..."

„Was zu hören ich verlange?" Der Kaufmann packte den Arm seiner Tochter und presste ihn schmerzhaft zusammen, während seine Lautstärke sich noch erhöht hatte. „Ich verlange zu erfahren, was du heute in den unteren Stadtvierteln gewollt hast! Der Herr Stadtamtmann hat dich dort gesehen. Also?"

Alle Farbe war bei den Wortes des Vaters aus Clarys Gesicht gewichen. Cobiarh hatte sie gesehen. Einen Moment lang packte unbändige Angst das Mädchen, dass dadurch auch Miro in Gefahr wäre, doch dann meldete die Stimme der Vernunft sich zurück. In diesem Fall hätte das Scheusal Cobiarh es sich nicht nehmen lassen, seinen jungen Rivalen gebunden vor sie schleppen zu lassen, um ihr seinen Triumph deutlich zu machen. Nein, er hatte sie zwar gesehen, doch nicht, woher sie gekommen war.

Miro war sicher.

Noch.

Clary atmete tief durch, um sich zu beruhigen, dann sah sie ihrem Vater fest in die Augen.

„Verzeiht, Herr Vater, ich dachte, man hätte Euch ausgerichtet, dass ich auf den dortigen Markt wollte..."

„Auf dem Markt warst du also!"

Nigiath sah nicht wirklich überzeugt aus, doch zumindest brüllte er seine Tochter nicht mehr an, sondern sah herausfordernd zum Amtmann zurück.

Wenn Clary nun gedacht hatte, auf diese Art das Schlimmste von sich abgewendet zu haben, so hatte sie Cobiarhs Instinkte bei weitem unterschätzt. Der spürte die Lüge in den Worten des Mädchens, hatte jedoch keine Handhabe, sie ihr nachzuweisen. Um sich den winzigen Vorteil gegenüber dem Kaufmann nicht aus der Hand nehmen zu lassen, stand er plötzlich auf und gesellte sich an die andere Seite des Mädchens. Das fühlte sich immer mehr wie ein Reh in einer Falle.

„Und was, Jungfer Clary, hat dort nun Euer Gefallen gefunden? Lasst sehen, welche Kostbarkeit sich nicht in den Magazinen Eures Vaters finden ließ, sondern auf dem Markt der Bauern und Bettler!"

„Ich...ich..."

Clary spürte, dass Cobiarh sie gezielt in die Falle trieb. Er wusste, dass sie log – sein Mienenspiel, seine Selbstzufriedenheit und die Art, in der er seine wulstige Hand vertraulich auf ihren Unterarm legte, sprachen eine deutliche Sprache. Sie holte tief Luft, straffte die Schultern und schüttelte die Hand des nach Wein riechenden Amtmannes ab.

„Es ging nur um Frauentand, der keinen Mann kümmert. Aber wenn Ihr es wirklich wissen wollt: Ich kenne dort eine Händlerin, die die besten Spitzenborten weit und breit feilbietet. Jedes Kleid ist damit eine Zier..."

„So, so, Ihr wolltet Zierrat kaufen!"

Cobiarh nickte, als würde er ihr endlich Glauben schenken, doch nach einem flüchtigen Blick zu Clarys Vater hinüber lächelte er dem Mädchen beinahe jovial zu.

„Dann lauft und holt die Spitze her. Lasst Euren Vater und mich sehen, was Ihr erworben habt. Ich bin sehr daran interessiert, was in den Augen meiner zukünftigen Frau Gefallen findet!"

„Eure zukünftige...?"

Die Worte blieben Clary im Hals stecken, als sie mit großen Augen, in denen sich deutlicher Abscheu spiegelte, ihren Vater anstarrte. Auch der schien einige Augenblicke unschlüssig zu sein, ehe er schließlich fest und überzeugt nickte.

„Ja, mein Kind, du hast richtig verstanden. Ich habe mich entschlossen, dem Werben Meister Cobiarhs nachzugeben und dich ihm zur Frau zu versprechen."

Wieder tätschelte der Amtmann Clarys Arm, doch das Mädchen war viel zu geschockt, um ihn ein weiteres Mal abzuwehren. Sie schüttelte schließlich nur den Kopf. Ihre schlimmste Befürchtung war also tatsächlich wahr geworden.

„Vater, bitte überlegt es Euch noch einmal. Ihr könnt doch nicht wirklich daran denken, mich..." begann sie leise, doch augenblicklich wurde die Miene des Kaufmanns noch härter und verschlossener als zuvor, während seine Hand sich noch schmerzhafter in ihren Oberarm grub.

„Kein Wort weiter, Tochter! Von nun an ist Schluss mit solch unziemlichen Dingen wie Marktspaziergängen. So etwas schickt sich nicht für eine ehrbare Braut! Es ist beschlossene Sache: In drei Tagen, von morgen früh an, wirst du die Frau unseres verehrten Stadtamtmannes. Bis dahin wirst du in deinem Zimmer bleiben und es nicht mehr verlassen. Selbst die Mahlzeiten wirst du dort einnehmen. Ich werde dich persönlich einschließen und Weisung geben, deine Tür bis zur Stunde der Hochzeit verschlossen zu halten. Nur deine Amme darf noch zu dir. Und jetzt komm mit!"

Er wartete gar nicht erst auf eine Reaktion Clarys, sondern zerrte das völlig entgeisterte Mädchen hinter sich her zur Tür hinaus.

Cobiarh blieb allein zurück.

Zufrieden mit sich wie schon sehr, sehr lange nicht mehr, ging er langsam zum Tisch zurück, setzte sich, goss neuen Wein ein, leerte den Kelch in einem Zug und schenkte sich dann nach. Er strahlte auch noch, als Nigiath nach einigen Minuten wiederkam und mit jedem seiner Schritte leises Schlüsselgeklirr von dessem Gürtel ertönte.

Es war ein unvergleichliches Gefühl, gewonnen zu haben.

-x-x-x-

Hatte Clary das Zufallen der Zimmertür vor ein paar Minuten noch als bedrohlich empfunden, so wirkte das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels wie ein Todesurteil.

„Drei Tage..." flüsterte sie und starrte auf die Tür, als müsse diese durch ein Wunder gleich wieder aufgehen. Doch nichts geschah.

In vier Tagen hatte sie mit Miro fliehen wollen, doch nun war dieser Plan in Rauch aufgegangen.

Es gibt immer irgendetwas oder irgendjemanden, der auch den sorgsamsten Plan durchkreuzen kann, hörte sie plötzlich Miros Stimme in ihrem Kopf. Wie Recht er doch behalten hatte...

Sie schluckte und spürte, wie Tränen in ihren Augen entstanden. Mühsam drängte sie sie zurück. Weinen änderte nichts. Nur Taten änderten etwas.

Sobald dieses Scheusal Cobiarh fort war, wollte ihr Vater erneut zu ihr kommen, um ihr zu verkünden, was die zwei vereinbart hatten. Erst danach konnte sie ernsthaft an eine Flucht aus diesem Dachzimmer denken.

Seufzend trat sie an das Fenster und sah hinaus. Die Straße lag tief unter ihr. Zu tief, um einfach zu springen. Wenn ihr schöner Plan von einem Leben mit dem Geliebten doch noch Wahrheit werden sollte, musste sie einen neuen Plan schmieden. Einen, der funktionierte und der diese Höhe mit einschloss. Es musste möglich sein! Und noch in dieser Nacht, wenn möglich, spätestens jedoch in der nächsten.

Noch während sie diesem Gedanken nachhing, hörte sie, wie sich erneut der Schlüssel im Schloss bewegte.

Sie drehte sich um und sah zur Tür, doch statt des Vaters trat die alte Amme ein, die sie durch Kindheit und Jugend hindurch begleitet hatte und so etwas wie eine Ersatzmutter für sie geworden war, nachdem Clarys eigene Mutter bei ihrer Geburt gestorben war.

„Liebes Kind, ich habe es gerade gehört: nun wirst du schon bald zur Ehefrau! Wie ich mich für dich freue! Ich werde heute und morgen Nacht bei dir bleiben, denn es gibt viel, was du als Gattin eines Mannes wissen musst..."

Die Amme trat ins Zimmer, doch noch ehe Clary ernsthaft an Flucht denken konnte, zog ein Männerarm die Tür wieder zu. Gleich darauf ertönte neuerlich das Knirschen des Schlüssels.

Vater hat sogar einen der Knechte als Wache vor die Tür gestellt, dachte sie betrübt und ließ es zu, dass die Amme sie in die Arme schloss. In dieser Nacht würde sie nirgendwohin fliehen, aber vielleicht brachte der nächste Morgen ja eine Lösung? Clary hoffte es sehr.

-x-x-x-

Legolas und seinen Begleitern brachte der nächste Morgen neuen Regen und alte Ratlosigkeit.

Schweigend packten die drei Elben ihre wenigen Sachen wieder auf die Pferde, stiegen auf und ritten los, nach wie vor eine Richtung haltend, die in südwestlicher Richtung an Bruchtal und Legolas' eigentlichem Ziel gleichermaßen dicht vorbeiführte.

Ein Blick in die verschlossenen Mienen seiner Leibwächter sagte Legolas, dass er sich jede weitere Diskussion sparen konnte. Die beiden würden keinen Fingerbreit nachgeben. Während die Aussicht auf eine Rückkehr nach Düsterwald einem Gespenst gleich immer wahrscheinlicher und drohender vor ihm aufzuragen begann und der Elbenprinz einige Male sogar flüchtig daran dachte, seinen Begleitern noch vor Anbruch des Mittags ein Schlafmittel ins Trinkwasser zu mischen, vergingen die Stunden. Jede einzelne schien kürzer als die vorhergehende zu sein und die Mittagsstunde, zu der Legolas allein weiterreiten musste, rückte unaufhaltsam näher.

Je weiter sie in Bruchtals Wälder eindrangen, desto zahlreicher wurden die Flüsse, die zu überqueren die drei gezwungen waren. Legolas wusste, dass die meisten davon an irgendeiner Stelle als wunderschöne Wasserfälle in Lord Elronds Tal stürzten, doch während seiner Besuche dort hatte er sie noch nie soviel Wasser führen sehen wie jetzt. Es musste in den nördlich gelegenen Bergen noch weitaus heftiger geregnet haben als hier in der Ebene. Einige der Flüsse waren sogar so reißend und tief geworden, dass sie schließlich gezwungen waren, ihre widerstrebenden Pferde am Zaumzeug hinter sich her durch die Fluten zu lotsen.

Als die drei Düsterwalder Elben eine derartige Durchquerung zum zweiten Mal hinter sich gebracht hatten, waren sie buchstäblich bis auf die Haut durchnässt. Zumindest hörte der Regen in diesem Moment endlich auf und durch ein paar aufreißende Wolkenlücken begannen Fetzen blauen Himmels zu blitzen.

Wehmütig sah Legolas zu ihnen empor, während er die Ersatzkleidung in seinem schmalen Bündel prüfte. Sie war ebenso durchnässt wie seine Begleiter und er.

„Ich wünschte, wir würden irgendwo ein trockenes Plätzchen finden, an dem wir ein Feuer machen und daran uns und unsere Sachen trocknen könnten."

Missmutig strich er sich eine tropfende Haarsträhne aus der Stirn, dann sah er sich aufmerksam um.

Zwar war ihm die Gegend noch immer nicht viel vertrauter, doch er hoffte inständig, irgendwo in der Nähe auf eine Lichtung zu stoßen, die geeignet für eine kurze Rast und ein kleines Lagerfeuer war. Die Kronen der Bäume waren in diesem Teil der Bruchtaler Wälder so ausladend, dass sie selbst ohne ihr dichtes Laubdach den bis auf die Haut durchnässten Elben für einige Zeit genug Schutz vor weiterem Regen bieten würden.

Er stieg wieder auf sein Pferd und bedeutete seinen Begleitern, es ihm gleich zu tun. Dann unterrichtete er sie von seiner Absicht. Die beiden schienen von der Aussicht auf ein Feuer, an dem die Kleidung trocknen konnte, ebenso angetan zu sein wie er selbst. Sie ritten los.

Nach einer halben Stunde – Legolas hatte noch keinen geeigneten Ort entdeckt – ließ er sie plötzlich anhalten. Er legte den Kopf leicht schief, studierte prüfend den Boden, während die beiden anderen alarmiert nach ihren Waffen zu tasten begannen.

„Wir sind nicht die ersten hier," flüsterte Legolas gerade noch hörbar für die anderen. „Eine Gruppe von Reitern ist vor nicht allzu langer Zeit hier entlang gekommen. Sie sind uns vielleicht eine halbe Stunde voraus..."

Er verstummte plötzlich und starrte stattdessen mit zusammengekniffenen Augen in die Baumkronen empor.

„...und einige von ihnen sind in diesem Moment sogar bei uns."

Legolas ließ den bereits zur Hand genommenen Bogen wieder über den Arm zur Schulter zurückgleiten und begann zu lächeln.

„Zeigt Euch, Wächter Bruchtals!"

Ein kaum vernehmbares Rascheln über ihnen war das einzige Geräusch, ehe wie aus dem Nichts fünf in graugrüne Umhänge gehüllte Gestalten vor ihnen standen. Sekundenlang standen sich die beiden Gruppen schweigend gegenüber, dann schob der vorderste der fünf Wächter seine Kapuze zurück. Selbst in den dämmerigen Tiefen des Waldes leuchtete sein Haar golden, als er, gleichfalls lächelnd, zu Legolas aufsah.

Es war Glorfindel!

„Seid gegrüßt, mein Prinz! Es freut mich, Euch so schnell wieder in Bruchtal begrüßen zu dürfen!"

Legolas stieg ab, ging auf den Gondoliner zu und neigte kurz den Kopf.

„Habt Dank für die Begrüßung, mein Lord! Ich gebe zu, ich bin überrascht, Euch so weit außerhalb des Tals anzutreffen. Ihr seid selbst auf Patrouille, wie ich sehe. Gibt es denn Grund zur Besorgnis?"

„Nein, nicht im Geringsten. Lord Elrond vermutete angesichts Eures gemeinsamen Ziels, dass Ihr diese Route wählen würdet, und bat mich, Euch entgegenzureiten. Meine Männer und ich haben Befehl, Eure Begleiter sicher ins Tal zu geleiten, während Ihr Euch mit ihm am vereinbarten Ort trefft."

Zum ersten Mal sah Glorfindel nun Legolas' Begleiter an. Die klärten gerade mit einem stummen Blickaustausch, dass sie noch immer auf der Einhaltung von König Thranduils Anordnungen bestehen mussten.

„Verzeiht, mein Lord, aber wir..." begann Sîrondo, doch der Gondoliner Krieger wartete gar nicht erst, bis die beiden ihren Protest vollständig geäußert hatten.

„Es tut mir leid, aber Lord Elronds Befehle in diesem Punkt sind eindeutig. Das Treffen, an dem Prinz Legolas teilnehmen soll, ist von höchster Vertraulichkeit und sein Inhalt nicht für die Augen und Ohren Uneingeweihter bestimmt. Ich versichere euch, dass der Prinz nicht in Gefahr ist."

Glorfindel maß die beiden Krieger mit festem Blick, dann trat er ein Stück zur Seite und deutete hinter sich, dorthin, wo er das von seinen Leuten provisorisch eingerichtete Lager wusste.

„Wenn dann alles soweit besprochen wäre, folgt uns bitte."

Glorfindels Ruf war auch unter den Truppen Düsterwalds bekannt, und so wagten es Legolas' zwei Leibwächter denn auch nicht, Widerspruch dagegen laut werden zu lassen, dass der Prinz schließlich doch noch ihrem Schutz entzogen werden würde. Gegen den legendären Balrog-Töter wagte niemand aufzubegehren, ebenso wenig wie gegen seinen Herrn, den mächtigen Fürsten von Bruchtal.

Glorfindel wiederum studierte die Gesichter der beiden Düsterwalder Elbenkrieger aufmerksam, als sie schließlich nachgaben und langsam hinter seinen Leuten her an ihm und Legolas vorbeiritten. Erst, als alle außer Hörweite waren, wandte er sich wieder dem Prinzen zu.

„Manchmal ist es ganz nützlich, einen bestimmten Ruf zu haben."

Legolas war das zufriedene Funkeln in den blauen Augen von Elronds Vertrauten natürlich nicht entgangen. Er nickte, und ein wissendes Schmunzeln schlich sich auf seine Züge. „Ich bin in Moment sicher der Letzte, der das in Frage stellen wird, mein Lord. Habt also Dank für Euer Eingreifen. Ich hatte mir schon den Kopf darüber zerbrochen, wie ich die beiden für eine Weile loswerde..."

Erst, als er die Worte aussprach, wurde Legolas klar, dass Glorfindel auf eben dieses Problem bestens vorbereitet gewesen war. In einem Ausdruck tiefster Verblüffung wanderten seine Augenbrauen dem Haaransatz entgegen.

„Aber woher wusstet Ihr...?"

„Was? Dass Ihr nicht allein kommen würdet?"

Legolas nickte stumm und Glorfindel zuckte – irgendwie amüsiert – mit den Schultern

„Das war nicht meine Idee. Lord Elrond ahnte so etwas. Nach allem, was im letzten Jahr mit Euch geschah, wusste er, dass Euer Vater Euch in der nächsten Zeit ganz gewiss nicht ohne Schutz hierher kommen lassen würde. Und er behielt Recht, wie man sieht!"

Eine Handbewegung Glorfindels forderte Legolas auf, sich ihm anzuschließen. Die beiden Elben marschierten nun ebenfalls zum improvisierten Lager, damit der Prinz dort ein wenig rasten konnte, ehe er allein zur Höhle weiterritt. Er würde sie durch die Verzögerung zwar erst bei Anbruch des nächsten Morgens erreichen, doch Legolas war froh, sie überhaupt aufsuchen zu können.

Während er Glorfindel schweigend folgte, nahm Legolas sich, beeindruckt von der Voraussicht des Elbenfürsten, fest vor, Elrond bei der nächsten Gelegenheit zu danken, dass dieser ihm das Zusammentreffen mit Aragorn auf diese Art doch noch ermöglicht hatte.

Schon bald sollte der Prinz anders darüber denken.

-x-x-x-

Während Legolas sich – nunmehr endlich allein – bereits auf der Weiterreise zur Höhle befand, ritt weit von ihm entfernt ein Waldläufer aus einer anderen Richtung auf dasselbe Ziel zu.

Aragorn – um niemand anderen handelte es sich – hatte sich in den zurückliegenden Monaten zumindest äußerlich verändert. Sein Haar war länger geworden und fiel ihm bis auf die Schultern, sein Kinn war nun von einem kurz gehaltenen Bart bedeckt und jedes Fleckchen Haut, das dem Tageslicht ausgesetzt war, begann eine sonnengebräuntere Farbe anzunehmen.

Es war ein seltsames Gefühl für Aragorn, die vertraute Umgebung wiederzusehen. Nach den in Lórien und bei den Waldläufern verbrachten Monaten hatte Aragorn sich danach gesehnt, in die Wälder und Berge Bruchtals zurückzukehren, doch nun, wo es soweit war, kam er sich in ihnen wie ein Fremder vor. Die Entscheidung, die Elrond und er vor einem Jahr getroffen hatten, hielt ihn zumindest vom Betreten des Elbentals zurück, denn er wollte nicht alles aufs Spiel setzen, wofür er so sehr gelitten hatte und Rivar gestorben war.

Rivar...

Aragorn dachte mit Wehmut an den alten Einsiedler zurück. Wie wenig Zeit ihnen doch vergönnt gewesen war, um über die Vergangenheit, über das Leben seines Vaters zu sprechen. Vieles stand dazu sicher noch in Rivars Tagebuch, doch auch das Buch war für Aragorn inzwischen unerreichbar. Es befand sich mit einer Vielzahl seiner restlichen Besitztümer noch immer in Bruchtal und dort wurde es auch aufbewahrt, bis der junge Mensch meinte, wieder einen Fuß in das Tal setzen zu können, ohne die Aufmerksamkeit möglicher Spione des dunklen Herrschers dorthin zu lenken. Dieser Zeitpunkt schien allerdings immer weiter in die Ferne zu rücken, denn in der letzten Zeit hatte ihre Zahl merklich zu steigen begonnen.

Sogar seinem bis dahin ungeübten Auge war das schnell aufgefallen. Wenn er zusammen mit anderen Waldläufern eine Stadt betrat, um sich dort mit ein paar dringend nötigen Dingen zu versorgen, blieb es nicht aus, dass sie hin und wieder eine Nacht in den Mauern jener Stadt verbringen und sich aus diesem Grund ein Zimmer in einem kleinen, billigen, aber halbwegs sauberen Gasthof nehmen mussten.

Den meisten war natürlich auch eine öffentliche Schankstube angeschlossen, und die wiederum waren in den letzten Monaten immer stärker zum Anlaufpunkt für zwielichtige Gestalten geworden.

Aragorn und seine Gefährten zogen sich für gewöhnlich in eine ruhige Ecke des Raums zurück, verzehrten ein karges Abendbrot und beobachteten stumm das Treiben in der Schänke.

Sie mussten nie sehr lange warten, bis interessante Gesprächsfetzen an ihre Ohren drangen, denn nach wenigen Krügen Bier hatten sich die Zungen der meisten Zecher bereits soweit gelockert, dass in ungebremster Lautstärke Neuigkeiten aller Art ausgetauscht wurden. So erfuhren die Waldläufer neben vielem, das sie bereits von Kundschaftern erfahren hatten, auch einiges, das ihnen neu war, und eine deutliche Sprache über die zunehmende Gefahr aus den dunklen Landen sprach.

Je mehr Aragorn bei diesen Gelegenheiten hörte, desto mehr fühlte er sich an die Südländer und ihre Grausamkeit erinnert.

Gerade diese Bilder, die ihn Nacht für Nacht plagten, bestätigten seinen Vorsatz, Bruchtal schützen zu wollen. Solange er von dort weg und weiterhin für alle Menschen tot und begraben blieb, wähnte er die Elben sicher.

Elrond hatte ihm zwar mehrmals in seinen Briefen klarzumachen versucht, dass Bruchtal sich sehr gut selbst schützen konnte und Aragorn dieses Opfer nicht zu bringen brauchte, doch der junge Mann war von den beschwörenden Worten seines Pflegevaters nicht umzustimmen gewesen. Im Gegenteil: sie machten sein Gefühl des Verlassenseins nur noch unerträglicher.

Verstärkt wurde das noch durch die Tatsache, dass er, durch sein Inkognito nur ein Waldläufer unter vielen, beinahe jeden Tag aufs Neue von irgendjemandem genötigt wurde, sein Können unter Beweis zu stellen. Gewiss: es waren zumeist ehrenhafte, aufrechte Kämpfer, die – ohne Lob oder Belohnung zu erwarten – Eriador, das Auenland und etliche weitere Landstriche vor der Bedrohung durch Orks, wilde Tiere oder andere, noch schlimmere, Gefahren schützten. Doch sie hielten auch Abstand von ihm. Es irritierte sie, dass Aragorn so völlig anders als sie war.

Jünger als die meisten, verfügte er dennoch bereits über Waffenfertigkeiten, die viele der Waldläufer auch nach Jahren intensiven Übens nie erreichen würden. Mehrfach hatte er sich als ein erstaunlich guter Heiler und Spurenleser erwiesen, doch auf entsprechende Fragen über den Ursprung dieses Wissens war der ohnehin nicht sonderlich gesprächige Mann noch einsilbiger geworden. Die anderen Waldläufer spürten, dass er ihnen Einiges mehr als nur seine Herkunft verschwieg, und dass sich Haldir, einer der sonst so unnahbaren Galadhrim, für ihn verbürgt hatte, rundete den Kreis des Misstrauens weiter ab. Als Aragorn schließlich damit begann, lieber für sich allein auf lange Streifzüge durch die Umgebung zu gehen, statt Kontakte zu ihnen zu knüpfen, hatte Aragorn sich endgültig zu einem Außenseiter gemacht.

Irgendwer hatte ihn schließlich aus Scherz Streicher genannt, weil er mehr an ein ruheloses Tier als an einen gestandenen Kämpfer erinnerte – und der Name blieb an ihm haften.

Aragorn wehrte sich nicht dagegen. Im Gegenteil: er schien ihm sogar zu gefallen. Schon bald nannte er sich selbst so, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde. Das war jedoch auch schon seine ganze Annäherung an die Waldläufer.

Der Frühling ging und auch der Sommer neigte sich bereits deutlich dem Herbst zu, als Aragorn schließlich einsah, dass er von Anfang an einem Irrtum erlegen war. Er hatte gedacht, problemlos als einer unter vielen leben zu können, doch nun, da er es versuchte, erwies sich, wie sehr er sich getäuscht hatte.

Es mochte in seinem Blut oder an seinem bisherigen Leben als Pflegesohn eines der mächtigsten Elbenfürsten ganz Ardas liegen, doch je länger er sich unter den Waldläufern aufhielt, desto mehr hatte er das Bedürfnis, ihre Strukturen und Entscheidungen nach seinen Vorstellungen und Taktiken verändern zu wollen. Als einfacher Dúnedain des Nordens stand ihm dieses Recht jedoch nicht zu.

Nur als Aragorn, Sohn des Arathorn und Stammesfürst der Dúnedain, hatte er die Macht, dringend notwendige Veränderungen vorzunehmen. Doch sich deshalb öffentlich zu seiner Herkunft zu bekennen hieß zum einen, irgendwann Anspruch auf Gondors Thron erheben zu müssen. Zum anderen glaubte er dadurch auch erneut eine gewisse Gefahr für Bruchtal heraufzubeschwören. Der dunkle Lord würde schnell erfahren, wo der Erbe Isildurs in den letzten Jahren gesteckt hatte und keine Sekunde zögern, dessen elbische Familie als Pfand zu benutzen, wenn er so Aragorns habhaft wurde. Der hatte jedoch nicht all die Qualen durch Gomar und die Südländer ertragen, um alle Anstrengungen aus einem Gefühl der Unzufriedenheit heraus einfach zunichte zu machen. Nein, Aragorn hielt daran fest, dass er weiterhin tot bleiben musste – und damit auch machtlos gegenüber den Zuständen unter den Dúnedain.

Es war ein Teufelskreis, der auch nicht davon durchbrochen wurde, dass Elrond vor wenigen Wochen erst in seinem letzten Brief erneut keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass Bruchtal mit den Konsequenzen fertig werden würde, sollte Aragorn sich je anders entscheiden.

Je länger Aragorn darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass etwas in ihm sich bereits versucht fühlte, sich einer Herausforderung wie der Führung vieler Menschen zu stellen. Doch noch sagte dem jungen Mann die Vernunft, dass es dafür für ihn zu früh war. Ehe er einen solchen Schritt unternahm, musste er herausfinden, ob er den ihm vom Schicksal zugedachten Platz an der Spitze dieses Gefüges überhaupt einzunehmen imstande war.

Die Antwort darauf konnte er jedoch nur an einem Ort finden: in Gondor.

Er spürte, dass er erst durch die weißen Hallen von Minas Tirith gehen mußte, in denen nun die Truchsesse regierten, bevor er wissen würde, ob er je aus eigener Kraft und ohne die Hilfe der Elben einer solchen Bürde wie der Herrschaft – und sei es auch nur der über die Dúnedain – gewachsen sein würde.

Schnell wurde daraus eine Überzeugung, die an ihm nagte und schließlich die Oberhand gewann.

Nach zwei Wochen des Nachdenkens und Abwägens war Aragorns Entscheidung gefallen.

Er informierte die Waldläufer von seinem Entschluss, für einige Zeit fortzugehen, dann sandte er Botschaften nach Bruchtal und Düsterwald, in denen er seine Familie und Legolas bat, sich mit ihm zu treffen. Als Treffpunkt hatte er jene Höhle gewählt, vor der Rivar gestorben war, und als Zeitpunkt den ersten Jahrestag dieses Ereignisses bestimmt. Wenn es überhaupt einen angemessenen Ort für den Beginn seines eigenen Lebensweges gab, dann war es jener, an dem der des langjährigen Weggefährten seines Vaters geendet hatte.

Zwei Wochen nach dem Losschicken der Nachrichten hatte Aragorn sich von den Waldläufern getrennt. Er verließ Eriador und ritt stetig nach Südosten, in Richtung Bruchtal, dem er inzwischen bedeutend näher gekommen war.

Der Sommer war indessen vollends einem langen, zu Beginn sogar noch sonnigen Herbst gewichen. Das Laub der Bäume, bis vor wenigen Tagen noch bunte Farbtupfer in einer endlosen grüngrauen Natur, segelte nun jedoch, herabgerissen von immer neuen heftigen Regenschauern, in dichten Schwaden zu Boden. Die feuchten Blätter dämpften die Tritte des Pferdes wie eine endlose Fläche weichen, flauschigen Fells, das jemand über den Waldboden gebreitet hatte.

Es machte dem Reittier keine Mühe, über den vom Regen aufgeweichten Boden zu laufen. Aragorn verwendete nur hin und wieder einen Blick darauf und ließ sich bei jeder möglichen Gelegenheit die klamme Kühle des Regens von der Wärme der Sonne von der Haut streicheln. Bald würde all dies nur noch Erinnerung sein, begraben unter Lagen eisigen Schnees. So wie damals vor einem Jahr...

Aragorn riss seine Gedanken von diesem Thema los und sah zum Himmel. Die Mittagszeit war bereits überschritten und bald schon würde sich der Herbsttag seinem Ende entgegenneigen. Kurz vor Abendanbruch würde er sein Ziel – die Höhle nahe Bruchtal – erreicht haben.

Er sah zum Himmel. Ein blasses Farbenspiel auf den Wolkenbänken verriet seinem geübten Auge, dass die Nacht weiteren Regen bringen würde. Der junge Mann hoffte, dass er einen Unterschlupf fand, ehe der nächste Wolkenbruch begann, doch im Grunde glaubte Aragorn nicht daran. Nach allem, was er von seiner Gefangenschaft dort in Erinnerung behalten hatte, bot der Felskessel außer der Höhle keine weiteren Schutzmöglichkeiten. Doch in ihr würde er sein Nachtlager um keinen Preis aufschlagen. Nicht, nach dem, was er dort erduldet hatte.

Dann warte ich eben im Freien auf Vater, die Zwillinge und Legolas, beschloss Aragorn und lächelte beim Gedanken an die Elben selbstvergessen.

Die Freude, alle wiederzusehen, noch einmal einige wenige Stunden mit ihnen zu verbringen, ehe er für lange Zeit nach Gondor ging, war aufrichtig. Sie würden es sicher verstehen, wenn er ihnen erzählte, dass er in Gondor unter einem neuen Namen ein neues Leben beginnen wollte. Eines, das Elrond ihm vorhergesagt hatte... eines, von dem Aragorn ahnte, dass es die Elben für lange Zeit ausschloss!

Er hatte fest vor, die gemeinsame Zeit, die ihnen vorher blieb, noch einmal so richtig zu genießen...

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Ende Kapitel 1