Schatten

Eine „Der Herr der Ringe" - Story

von

Salara

Feinarbeit: ManuKu


Hallo und willkommen zu Kapitel zwei.

Vielen Dank für die beiden netten Reviews. Die Antworten darauf habe ich an das Ende dieses Kapitels angehängt.

Übrigens herrscht ab diesem Kapitel bis zum Ende der Geschichte durchgängig Cliffhanger-Alarm...

Und nun viel Spaß!

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Kapitel 2: Begegnungen

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Am Abend war Clarys Vater wie angekündigt noch spät zu ihr gekommen, um die Einzelheiten der Ehe-Zeremonie zu verkünden. Erneut hatte sie gebettelt, gefleht und sogar geweint, dass es einen Stein erbarmt hätte. Umsonst: ihr Vater blieb unnachgiebig und hatte sie zusammen mit der Amme für die Nacht einschließen lassen.

Von ihr hatte sie sich stundenlang angehört, welche Dinge sie in der Hochzeitsnacht zu tun, vor allem aber welche sie zu erwarten hatte. Je mehr Clary hörte, desto stärker war ihre Übelkeit geworden.

Nicht, dass ihr die von der Amme beschriebenen Handlungen noch fremd gewesen wären – immerhin war sie schon vor einiger Zeit zum ersten Mal körperlich mit Miro zusammengekommen. Es war vielmehr der Gedanke, dass sie das, was ihr in Miros Armen unglaubliche Freuden bereitete, von nun an von Cobiarh, diesem grobschlächtigen Kerl erdulden sollte.

So war schließlich der Morgen gekommen, die alte, gutmütige Amme gegangen und Clarys Verzweiflung geblieben.

Immer wieder rüttelte sie an diesem Tag vergeblich an ihrer Zimmertür, immer wieder sah sie tränenüberströmt aus dem Fenster, doch der Erdboden war tatsächlich viel zu weit unten, um ihn sicher erreichen zu können. Und selbst wenn sie diesen Sprung als Ausdruck ihrer Verzweiflung gewagt und sogar unverletzt überstanden hätte: der öffentliche Gehsteig war viel zu belebt, um ungesehen fliehen zu können. Sie wäre keine hundert Schritte weit gekommen, bis Knechte ihres Vaters oder Büttel Cobiarhs sie wieder zurückgebracht hätten.

Der nächste Abend kam, und bei einbrechender Abenddämmerung gesellte sich auch die alte Amme wieder in ihr Zimmer. Sie hatte das Abendessen für Clary mitgebracht und ein paar ganz besondere Leckereien als Aufmunterung für ihren Schützling vorbereitet. Als die alte Frau jedoch die Tränen des Mädchens gewahrte, zog sie – geleitet vom Glauben, sie seien Ausdruck der Furcht vor der Hochzeitsnacht – die falschen Schlüsse.

Sie stellte das Tablett ab und nahm Clary tröstend in den Arm.

„Du wirst sehen, mein Kind, es wird dir gefallen. Es hat noch keine Ehefrau gegeben, für die aus den ehelichen Pflichten nicht sehr schnell eheliche Freuden geworden wären. Amtmann Cobiarh wird dich auf Händen tragen und er ist reich genug, dir jeden Wunsch erfüllen zu können. Du hast ein wundervolles Leben vor dir, glaub mir."

Ein wundervolles Leben? dachte Clary und schluchzte gegen ihren Willen erneut auf. Ja, wirklich wundervoll: als Gefangene in einem goldenen Käfig ohne Tür...

Als die Nacht über der Stadt hereingebrochen war, hatte für Clary die zweite endlose Nacht begonnen.

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Auch in den Wäldern war es inzwischen dunkel geworden, doch Aragorn hatte sein Ziel, den Felskessel, bereits bei Einbruch der Abenddämmerung erreicht. Zu seiner Überraschung war noch niemand da gewesen. Weder Legolas noch seine Elbenfamilie hatte er entdecken können, also zog Aragorn sich in den windabgewandtesten Winkel des Kessels zurück. Er mied die Höhle dabei bewusst; so schlecht konnte das Wetter für sein Empfinden gar nicht werden, als dass er des nachts in ihr Zuflucht suchen würde.

Da der unangenehme Nieselregen, der kurz zuvor wieder eingesetzt hatte, seine Kleidung jedoch bereits durchdrang und auch jedes Feuer im Keim erstickt hätte, wickelte er sich in der zunehmenden Dunkelheit frierend in seine Decke und lehnte sich dann an den kalten Fels zurück.

Dieses Gefühl von ewiger, steinerner Allmacht hatte er in den zurückliegenden Monaten sehr oft empfunden, doch wo ihm an anderen Tagen Felsen einen stabilen Ort für eine improvisierte Lagerstatt in freier Natur geboten hatten, riefen sie hier nur unangenehme Erinnerungen wach. Erinnerungen, die er mehr als andere auf der Welt am liebsten vergessen hätte – und die ihn dennoch nicht in Ruhe ließen. Ein einziger Blick auf das dunkel gähnende Loch des Höhleneingangs beim Ankommen hatte bereits genügt. Seither war alles wieder da, so als wäre es gestern erst geschehen.

Er vermochte sich an jedes Geräusch, jeden Schmerz und jede einzelne Minute dieses Albtraums zu entsinnen und bedauerte plötzlich, ausgerechnet diesen Platz ausgewählt zu haben. Überall wäre ein Treffen besser gewesen als hier. Was hatte ihn nur an diesen Ort zurück gezogen? Während er sich ein karges Mahl aus seinem Proviantvorrat bereitete, verstand Aragorn sich schlagartig selbst nicht mehr.

Nach einer Stunde schwand das Tageslicht und machte einer wolkenverhangenen Nacht Platz. Kein einziger Stern war zu sehen und nicht ein einziger Strahl Mondlicht schimmerte durch die Bäume.

Die Mitternacht kam und ging, ohne dass etwas geschah. Trotz der Kühle des Regens begann die Müdigkeit unaufhaltsam in Aragorn empor zu kriechen und irgendwann merkte er schließlich, dass er die Augen nur noch mühsam offen halten konnte.

Er war gerade dabei, den Kampf gegen den Schlaf endgültig zu verlieren, als ein kaum wahrnehmbares Geräusch ihn wieder hochschrecken ließ.

Auch das Pferd schien es vernommen zu haben, denn es schnaubte kurz und scharrte leise mit einem Vorderhuf.

Aragorn lauschte aufmerksam, und als er den leisen, fast wie ein Pfiff klingenden Ton zum zweiten Mal vernahm, erhob er sich lautlos. Er griff nach seinen Waffen, streichelte dem neuerlich leise schnaubenden Tier beruhigend die Flanke, dann huschte er schattengleich zum Zugang hinüber.

Im Schutze einer steil an der Seite aufragenden Felsnadel postierte er sich so, dass er jeden Neuankömmling im Blick behielt, ohne dabei selbst sofort entdeckt zu werden. Mit kampfbereit angespannten Muskeln wartete er, doch die Zeit schien sich ins Endlose zu dehnen.

Gerade, als er ernsthaft die Möglichkeit in Betracht zu ziehen begann, nur den Lauten eines nachtaktiven Tieres aufgesessen zu sein, ertönte erneut ein eigentümliches Geräusch. Diesmal war es ungleich lauter und im Gegensatz zu den ersten beiden auch sofort zuzuordnen. Es war das Klappern von auf Stein tretenden Pferdehufen. Gleich darauf wurde auch der Kopf eines Pferdes sichtbar, das langsam und gemächlich – wie bei einem Spazierritt – durch den Zugang trabte und nach einigen Schritten schließlich stehenblieb.

Seine menschlichen Augen vermochten die dichte Dunkelheit nur mühsam zu durchdringen, doch nach einigen Sekunden gewahrte Aragorn, dass niemand auf dem Pferd saß. Es sollte offensichtlich nur zur Ablenkung dienen – und die hatte funktioniert!

Alarmiert richtete er sich auf und ließ den Blick durch die Umgebung schweifen, doch alles, was weiter als Armeslänge von Aragorn entfernt war, verbarg sich vor seinem Blick in der nächtlichen Finsternis. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er – einer viel zu spät aufschießenden Idee folgend – um die eigene Achse wirbelte. Dort, in seinem vermeintlich sicheren Rücken, erspähte er etwas Helles, das sich deutlich vom Schwarz der Felsen abhob: ein silbriger Haarschopf, der ein altersloses Gesicht umrahmte.

Legolas.

Der Prinz musste lautlos über die Felsen geklettert sein, während Aragorn angespannt den Eingang im Auge behalten hatte. Jetzt war er nachlässig an den Felsen gelehnt und sah seinen menschlichen Freund gleichermaßen belustigt wie herausfordernd an, doch die Spitze eines seiner Zwillingsmesser war nur Zentimeter von Aragorns Herzgegend entfernt.

„Wäre ich dein Feind, wärst du jetzt tot, Estel! Du musst noch viel vorsichtiger werden, wenn du dich eines langen Lebens erfreuen willst."

Die Tatsache, dass Legolas es geschafft hatte, unbemerkt in seinen Rücken zu gelangen ärgerte Aragorn, doch er war froh, endlich nicht mehr allein an diesem unseligen Ort zu sein. Er begann zu grinsen und hoffte, dass die Nacht den Missmut auf seinen Zügen verschluckte.

„Gib mir ein paar hundert Jahre Übung, mein Freund, dann versuche es noch einmal. Ich versichere dir, dann bin ich es, der überraschend in deinem Rücken steht und dir ein Messer ans Herz hält! Bis dahin freut es mich einfach nur, dich wiederzutreffen!"

Einen Moment lang lag Stille zwischen den beiden, dann beförderte Legolas seine Klinge wieder in die Scheide zurück. Anders als sein menschlicher Freund hatten Legolas' elbische Augen keinerlei Probleme, alles deutlich zu erkennen, und der Schatten der Verärgerung auf dem Gesicht Aragorns war ihm natürlich nicht entgangen. Plötzlich fand er die Idee, den jungen Menschen auf eine solche Art zu überraschen, gar nicht mehr so gut. Verlegen trat der Elbenprinz mit ausgestrecktem Arm auf Aragorn zu.

„Vergib mir, Estel! Ich wollte dich nicht beschämen. Ich weiß gar nicht, was plötzlich in mich gefahren ist. Es ist wohl das Gefühl meiner neu gewonnenen Freiheit, das mich ein wenig zu übermütig werden ließ."

Neu gewonnene Freiheit? Irritiert runzelte Aragorn über diese Andeutung die Stirn, während er auf Legolas zutrat, dessen Unterarm umfasste und so den Gruß erwiderte.

„Habe ich etwas verpaßt, während ich in Lórien und bei den Waldläufern war? Sag bloß, dass du es geschafft hast, in den paar Monaten seit..." Aragorn sah flüchtig in die Richtung, in der er die Höhle wusste. „...seit den Ereignissen im letzten Jahr schon wieder in Schwierigkeiten zu kommen!"

„Nein, nein!"

Abwehrend hob Legolas die Hände und schüttelte den Kopf.

„Nicht, was du denkst. Ich meine meinen Vater. Er war nicht sehr glücklich, dass ich mich damals so kurz nach dem Giftanschlag ohne seine Zustimmung aus dem Palast geschlichen hatte. Eine seiner Strafen bestand darin, mir eine Leibwache zuzuteilen, die mich nicht mehr aus den Augen ließ: weder im Palast noch bei Ausritten oder auf der Jagd. Ich fühlte mich schließlich wie ein Gefangener."

„Jetzt beginne ich zu begreifen!"

Aragorn bedeutete dem Freund, ihm zu der Stelle zu folgen, an der er sein improvisiertes Lager eingerichtet hatte. Legolas schloß sich ihm an, nachdem er sein bis dahin geduldig wartendes Pferd geholt hatte.

„Und jetzt vertraut er dir wieder und läßt dich allein hierher kommen?"

Aragorn setzte sich wieder und schlang erneut die Decke um seine Schultern, dann sah er Legolas an. Der hatte sein Pferd neben das von Aragorn gelotst, ließ sich nun dicht neben seinem menschlichen Freund nieder und zuckte vage mit den Schultern.

„Eigentlich nicht. Zwei von ihnen mußte ich sogar mitnehmen, um herkommen zu dürfen. Aber..."

Als der Elb sah, dass sich Aragorn sofort suchend umzuschauen begann, legte er dem Freund sanft eine Hand auf den Arm.

„Beruhige dich. Sie sind nicht mit hierher gekommen. Dank deines Vaters."

Ada?" Aragorn lehnte sich an den Felsen zurück und sah Legolas fragend an. „Was hat er damit zu tun?"

„Er hat mir Lord Glorfindel und ein paar Krieger entgegengeschickt, die sich um die zwei gekümmert haben."

Die Erinnerung an diese Szene ließ Legolas amüsiert schmunzeln.

Aragorn, der keine Ahnung hatte, was so komisch war, runzelte mißtrauisch die Stirn. „Was hat Glorfindel mit den beiden gemacht?"

„Er hat sie..." Das Grinsen des Elbenprinzen wurde breiter. „...überredet. Auf seine ganz spezielle Art. Du hättest dabei sein sollen, Estel!"

Aragorn hatte lange genug in Elronds Haushalt gelebt, um zu wissen, wie geschickt der Gondoliner war, wenn er etwas erreichen wollte. Er winkte lächelnd ab.

„Nicht nötig. Ich kenne Glorfindels Tricks schon länger."

Legolas sah gedankenversunken an seinem menschlichen Freund vorbei in die Nacht. Sein vorheriges Lächeln war schlagartig wie fortgewischt.

„Ich wünschte, er hätte auch einen Trick für meinen Vater übrig. Einen, mit dem ich ihm klarmachen kann, wie sehr mich seine Befehle und sein Misstrauen kränken."

„Es ist kein Misstrauen. Dein Vater liebt dich, Legolas, das ist alles. Er macht sich Sorgen, denn er hat doch nur noch dich. Er will dich sicher nicht kränken, sondern nur beschützen," versuchte Aragorn den Freund zu beruhigen, doch der wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn ernst an.

„Dein Vater liebt dich auch. Er liebt dich sogar so sehr, um sich von dir zu einer so idiotischen Sache wie deinem Scheintod überreden zu lassen. Und selbst danach, als trotzdem alles umsonst war und du nur knapp am Leben bliebst, hat er dich nicht so an die Kette gelegt wie mein Vater mich."

Missmutig starrte der Elb zum Himmel, von dem es nach wie vor leicht regnete.

„Weißt du, Estel, manchmal wünschte ich wirklich, ich könnte mit dir tauschen..."

Die Worte waren so leise gekommen, dass Aragorn Mühe hatte, sie richtig zu verstehen. Er schwieg einen Augenblick, dann seufzte er hörbar.

„In gewissem Sinne liege auch ich an einer Kette. Meine ist nur länger, denn mein Vater kann mich einfach nicht so lange beschützen wie dich der deine. Elrond hat zwar auch Angst um mich, doch er weiß, dass meine Zeit hier begrenzt ist und ich mich den Gefahren meines Schicksals irgendwann auf alle Fälle stellen muss. Nur deshalb duldet er mein Handeln. Er heißt es selten gut, doch meine Sterblichkeit läßt ihm keine andere Wahl, als es zuzulassen. Wäre es anders, säße ich jetzt nicht hier, sondern in Bruchtal, in einem Raum, den ich die nächsten Jahre nicht ohne seine Erlaubnis verlassen dürfte, glaub mir. In diesem Fall würde es das Treffen hier gar nicht geben."

Er verstummte, und Legolas – nun doch neugierig geworden – wandte dem Freund seinen Blick zu.

„Wo du schon mal davon sprichst... Nicht, dass ich mich über dieses Wiedersehen mit dir nicht freuen würde, aber welchen besonderen Grund hat dieses Treffen denn nun? Noch dazu ausgerechnet hier. Dein Brief gab nicht den geringsten Hinweis."

Aragorn wich dem forschenden Blick des Elben aus. „Ich werde es erklären, sobald Vater und die Zwillinge auch hier sind."

„Gut, dann werde ich warten!" Legolas nickte ernst, ehe er unmerklich zu lächeln begann. „Dann kannst du die Zeit bis dahin ja nutzen, um ein wenig Schlaf nachzuholen, während ich Wache halte. Ich will dich nicht beleidigen, aber du siehst furchtbar aus. Als hättest du tagelang kein Auge zu gemacht."

„Das stimmt fast," gab Aragorn spontan und ohne nachzudenken zu. „Du weißt doch, wie es ist, wenn man allein unterwegs..."

Erst in diesem Moment wurden ihm seine Worte bewusst – ebenso, dass er genau das momentane Problem seines Elbenfreundes getroffen hatte. Unwillkürlich zog er den Kopf ein. „Tut mir leid. Das habe ich nicht so gemeint. Ich wollte nicht noch Salz in die Wunde streuen..."

„Aragorn," unterbrach der Elbenprinz den Redefluss seines Freundes. Der verstummte sofort und sah ihn mit schuldbewussten Augen an.

„Ja?"

„Halt' den Mund und schlaf! Du bist eindeutig zu müde, denn du redest Unfug!"

Ohne eine Erwiderung, aber mit dem Gefühl, diese Ermahnung des Elbenprinzen mehr als verdient zu haben, zog Aragorn die Decke fröstelnd enger um sich. Er lehnte sich an den Fels zurück und schloß die Augen, konnte aber Legolas' beruhigende Anwesenheit trotzdem spüren. Erstaunt stellte er fest, wie gut es ihm tat, endlich nicht mehr allein zu sein.

„Es ist schön, dass du da bist," verlieh er seiner Erleichterung schließlich leise Ausdruck und wusste, dass das überlegene Gehör des Elben jedes Wort verstanden hatte.

Sein Bewusstsein war kurz darauf beinahe schon in der Schwärze des Schlafes verschwunden, als er spürte, wie eine zweite Decke über ihm ausgebreitet wurde.

„Auch ich bin froh, dich zu sehen, Estel..."

Wie ein entferntes Echo wehten die Worte an Aragorn vorbei, der den Kampf gegen die Müdigkeit gerade endgültig verlor, weil die unangenehme Kälte durch die zweite Decke endlich nachließ und sein müder Körper die Ruhe bekam, die er seit Tagen nicht gefunden hatte.

Sekunden später war Aragorn fest eingeschlafen. Zum ersten Mal seit langer Zeit schlief er traumlos.

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Etwas kitzelte ihn an der Nase und riss ihn so aus dem Schlaf.

Noch immer viel zu müde, um wirklich die Augen öffnen zu wollen, hob er eine Hand und versuchte das Kitzeln fortzuwischen. Als es auch nach dem zweiten Mal noch da war, gab Aragorn auf und schob die Lider einen Spalt breit auseinander.

Das Erste, das er registrierte, war die beinahe unerträgliche Helligkeit in seinem Gesicht. Geblendet presste er die Lider wieder zusammen und wandte das Gesicht ab. Sofort ließ auch das Kitzeln an seiner Nase nach.

Erleichtert hoffte er, wieder einschlafen zu können, doch er hatte sich gründlich geirrt, denn einen Moment später erklang leises Lachen. Es gehörte eindeutig zu Legolas, und Aragorns Annahme bestätigte sich, als nach Sekunden auch das Kitzeln an seiner Nasenspitze wieder einsetzte.

Verärgert warf er sich auf die andere Seite, doch das schreckte den Elben nicht im mindesten ab. Im Gegenteil: Sekunden später war das – von Aragorn inzwischen von Herzen gehasste – Kitzeln an der Nase wiederum da.

Ohne die Augen zu öffnen, tastete er nach der Decke, um sie sich über den Kopf zu ziehen – und stellte fest, dass sie nicht mehr da war. Er ertastete weder seine eigene noch die, die Legolas in der Nacht über ihm ausgebreitet hatte.

„Wie beruhigend, dass manche Dinge sich nicht verändert haben," knurrte Aragorn missmutig und schlug blind nach jenem kitzelnden Folterinstrument. Er schlug natürlich ins Leere – Legolas war viel zu reflexschnell, um ihn den Grashalm wirklich treffen zu lassen – und erntete statt dessen ein helles Auflachen für seinen Unmut.

„In der Tat. Du bist noch immer so ein Murmeltier wie in der Zeit nach unserer allerersten Begegnung. Damals in Bruchtal warst du genauso schlecht gelaunt, wenn es ums Aufstehen ging. Warst du bei den Waldläufern auch so liebenswert?"

„Oh, nein..."

Endgültig um den Schlaf gebracht, öffnete Aragorn nun doch seine Augen – und starrte auf zwei Stiefelspitzen direkt in seinem Blickfeld.

Für eine Sekunde schob sich ihm eine Erinnerung ins Gedächtnis. Die an zwei Stiefelspitzen, die er bei seinem Erwachen aus dem Scheintod erblickt hatte. Wieviel Qualen waren diesem Moment gefolgt...

Mühsam verdrängte der junge Mann die aufsteigenden Bilder, dann setzte er sich auf und reckte sich die auf dem harten Boden verbrachte Nacht aus den Gliedern. Die Stiefelspitzen hier gehörten natürlich zu Legolas.

Der hatte sich inzwischen erwartungsvoll an den Felsen zurückgelehnt und drehte den Grashalm spielerisch zwischen seinen Fingern, während die beiden Decken bereits ordentlich zusammengefaltet waren und neben ihm auf einem niedrigen Felsen lagen.

„...so liebenswert bin ich nur zu Freunden, die mich zu nachtschlafender Zeit mit Grashalmen quälen und mir die Decke wegnehmen!"

„Was heißt hier zu nachtschlafender Zeit? Du übertreibst. Es ist längst heller Tag, die Sonne scheint und es mangelt uns an nichts!"

Legolas warf den Grashalm fort, ging dann zu seinem Gepäck hinüber, kramte in den Satteltaschen und hielt Aragorn schließlich etwas in große grüne Blätter Gewickeltes hin.

„Da, Frühstück!"

Der griff zu und stellte beim Auswickeln fest, dass er sich dem von allen Elben geliebten Lembas-Brot gegenübersah. Es war zwar nicht seine bevorzugte Nahrung, doch zur Abwechslung mal ganz angenehm. Das letzte Lembas hatte er in Lórien gegessen.

Während die Freunde in einträchtigem Schweigen an ihrem Gebäck knabberten, ließ Aragorn seine Blicke umherwandern. Jetzt, im hellen Sonnenschein, wirkte die Stätte zwar längst nicht so abstoßend wie in der Finsternis, doch sie war noch immer weit davon entfernt, in Aragorn angenehme Gefühle zu wecken. Es war nicht nur die Höhle allein. Wo auch immer er hinsah: die Bäume, der felsige Boden... Beinahe jede Stelle weckte irgendwelche Erinnerungen, und alle waren voller Schrecken und Schmerz.

Schlagartig war Aragorn der Appetit vergangen. Er wickelte das Lembas-Brot wieder ein und legte es beiseite, dann stand er auf. So sehr ihn dieser Ort abstieß, so sehr zog ihn etwas auch an.

Legolas hatte seinen menschlichen Freund beobachtet und fragte sich, was in diesem vorging. Er selbst war ja nur sehr ungern hierher zurückgekommen. Um wieviel schlimmer musste dann das emotionale Chaos in Aragorn gerade sein? Er legte sein Lembas gleichfalls fort, dann gesellte er sich an Aragorns Seite.

Der spürte die Anwesenheit seines Freundes, spürte Legolas' Wunsch, etwas für ihn tun zu wollen – und beschloß, dem Elbenprinz sein Verhalten zu erklären.

„Als ich noch ein Kind war, hatte ich manchmal schlechte Träume. Sie waren wild, gewalttätig, voller Blut. Es dauerte jedes Mal lange, ehe Vater oder die Zwillinge mich dazu bewegen konnten, die Augen wieder zuzumachen und weiterzuschlafen. Als ich zehn war, erklärten sie mir schließlich, woher diese Träume rührten, indem sie mir erzählten, unter welchen Umständen Elladan mich gefunden hatte. Am gleichen Tag ritt mein Bruder mit mir in den Wald und zeigte mir jene Stelle. Es war seltsam, weißt du. Allein hätte ich diesen Ort niemals gefunden, doch etwas in mir, etwas Unbewusstes, erinnerte sich an diesen Platz, noch ehe wir ihn erreichten. Natürlich hatte die Natur längst jede Spur von Kampf und Tod auf Gras, Moos und Bäumen getilgt. Dennoch konnte ich mich mit einem Mal sogar wieder an Ninis Gesicht entsinnen, an ihre im Tod offenen Augen..."

Er sammelte sich einen Augenblick, das Gesicht seiner getöteten Amme aus dem Kopf drängend, dann fuhr er – noch leiser als zuvor – fort.

„Vater und die Zwillinge rechneten an diesem Abend fest mit neuen Albträumen. Sie blieben deswegen sogar die ganze Nacht wach, um sofort an meiner Seite sein zu können. Um so erstaunter waren sie, als nichts geschah. Heute weiß ich, dass ich alles selbst sehen und mich mit meinen unbewussten Ängsten konfrontieren musste, um verarbeiten zu können, was ich als Zweijähriger erlebt hatte, doch damals waren alle einfach nur froh, dass diese Albträume nie mehr wieder kehrten."

Endlich begriff Legolas, weshalb Aragorn ausgerechnet diesen für alle so belastenden Platz für ihr Wiedersehen ausgewählt hatte.

Er wandte den Kopf und sah den Freund aufmerksam an. Erst jetzt fielen ihm die Linien auf, die sich tief in das Gesicht des jungen Mannes gegraben hatten und es älter wirken ließen. Sie erzählten von viel zu vielen albtraumgeplagten Nächten.

„Wie schlimm sind sie diesmal?" fragte der Elb leise und wusste, das Aragorn ihn verstand.

„Schlimmer als damals. Kinder können noch vergessen. Erwachsene nicht."

Momente vergingen in Schweigen, dann sah Aragorn ihn offen an.

„Du bist zu nichts verpflichtet, Legolas, und ich nehme es dir nicht übel, wenn du hier auf mich wartest. Ich weiß, wie sehr du Höhlen hasst. Dort hineinzugehen ist das Letzte, das mein Herz will, aber das Einzige, das ich noch tun kann. Ich habe keine andere Wahl, sonst machen diese Erinnerungen mich irgendwann wahnsinnig."

Legolas zögerte eine Sekunde, dann nickte er.

„Ich glaube, dieser Ort hält auch für mich ein paar Dämonen aus der Vergangenheit bereit. Wie könnte ich sie besser bekämpfen als mit dir zusammen?"

Die Freunde tauschten einen Blick. Wortloses Einvernehmen lag darin, als sie langsam auf das dunkel gähnende Höhlenloch zugingen.

Es wurde für beide ein schwerer Weg bis zur Höhle selbst, denn immer wieder drängten sich ihnen Bilder des Vergangenen auf. Zwei davon waren für beide besonders bedrückend: das Bild Elrohirs, der von einem Dolch getroffen zusammengesackt war, vor allem aber das des geschundenen und gebrochenen Einsiedlers.

Unvermittelt blieb Legolas stehen. Irgendwo hier hatte Rivar sich ohne zu zögern für Elrond geopfert, wusste er.

Auch Aragorn musste wohl in Gedanken gerade zu jenem Moment zurückgekehrt sein, denn er kniete sich gerade nieder und strich nachdenklich mit der Hand über den Boden, während Legolas ihm mit ernster Miene zusah.

Der Tod des alten Einsiedlers war allen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – sehr nahegegangen. Aragorn hatte mit ihm den letzten Weggefährten seines Vaters verloren, Elrond und Legolas hingegen denjenigen, der ihnen beiden einst das Leben rettete.

Still hatte man den alten Mann auf dem Rückweg auf der Kuppe eines auf halber Strecke gelegenen Hügels begraben. Der Platz war beinahe so einsam wie jener, an dem Rivar in seinen letzten Jahrzehnten gelebt hatte, doch fast so schön wie der allererste Blick auf Bruchtal.

Aragorn hatte sich damals dem Begräbnis nicht anzuschließen vermocht, doch als er später erfuhr, wo man Rivar zur letzten Ruhe gebettet hatte, war es fast, als sei er dabei gewesen. Er kannte den Ort, den Elrond ausgewählt hatte, wusste, dass jeden Morgen das Licht der aufgehenden Sonne als erstes diesen Hügel traf und man weit über das Land blicken konnte, stand man ganz oben. Sogar Bruchtal ließ sich in einiger Entfernung von dort ausmachen. Aragorn war sicher, dass Rivar dieser Ort gefallen hätte. Dennoch machte ihm der Gedanken zu schaffen, dass der alte Einsiedler im Grunde seinetwegen gestorben war. Auch jetzt wieder bedrückte ihn dieses Wissen und ohne, dass er sich dessen bewusst wurde, ließ er den Kopf hängen.

Legolas sah das und zog die richtigen Schlüsse. Er trat neben den Menschen und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Rivar ist gestorben, um dich und die, die du liebst, zu schützen. Es war seine Entscheidung, Estel, nicht deine. Würdige sie nicht herab, indem du sie und dich in Zweifel ziehst."

Es dauerte eine Weile, bis Aragorn zustimmend nickte, doch als er schließlich zu Legolas hochsah, waren seine Züge weicher geworden.

„Danke," sagte er leise. „Ich wünschte trotzdem, dass alles anders gekommen wäre."

Dann erhob er sich. Aragorn konnte es nicht in Worte fassen, doch der wie ein Maul gähnende dunkle Höhleneingang schien irgendwie auf ihn zu warten. Der junge Mann wollte das immer stärker werdende Gefühl des Unbehagens abschütteln, doch das gelang nicht. Schaudernd sah er erst zur Höhle hinüber, dann abwartend zu Legolas.

„Ich muss da hinein, ob ich will oder nicht. Je eher ich es hinter mich bringe, desto besser. Willst du nicht doch solange draußen bleiben?"

Der Elb streifte Aragorn mit einem Seitenblick, dann sah er seinerseits zur Höhle hinüber. Er hatte sein Mienenspiel bewusst neutral gehalten, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich in diesem Moment an einen anderen Ort wünschte, doch Aragorn, der noch immer geduldig auf eine Antwort wartete, hatte er trotzdem nicht täuschen können.

„Nein." Langsam schüttelte er den Kopf. „Wir haben es zusammen angefangen, nun beenden wir es auch zu zweit."

Aragorn lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war, und nickte.

„Dann lass uns gehen."

Es waren nur wenige Schritte, bis sie in der nur vom Tageslicht erhellten Dämmerung der Grotte standen. Kaum waren ihre Schatten mit denen der Höhle verschmolzen, umfing sie die in den felsigen Tiefen wohnende Kühle. Beklemmung legte sich über ihre Gemüter. Nur allzu gut erinnerten sich beide an die Geschehnisse, die vor einem Jahr in ebendieser Höhle einen so tragischen Ausgang genommen hatten.

Während Legolas seinen Blick schweifen ließ, bis er den schmalen, etwas verborgen liegenden Gang wiederfand, der – wie er wusste – über eine längere Distanz schließlich zu dem rückwärtig gelegenen zweiten Zugang führte, ging Aragorn schleppenden Schrittes zu einer unscheinbaren Steinsäule. Er blieb vor ihr stehen und sah sie lange schweigend an, doch in seinem Inneren stiegen neuerlich Bilder des Schreckens auf. Hier war er erwacht, hier hatte Gomar ihn gequält – wieder und wieder...

Ungebeten drängte sich das Gesicht des Südländers in seine Gedanken.

Noch immer erinnerte Aragorn sich an den Wahnsinn in den schwarzen Augen, an die perfide Lust, die dieser beim Foltern empfunden hatte. Er hatte sie am eigenen Leib verspürt. Die Schnittwunden auf seiner Brust, von Gomar beigegebracht, waren trotz der numenorischen Herkunft und des Anteils an elbischem Blut in Aragorn nur sehr langsam und schlecht geheilt. Noch immer erinnerte ihn ein gelegentliches Brennen der schwachen weißen Narben daran. Selbst jetzt glaubte er die alten Wunden zu spüren.

Versunken, wie er war, gewahrte er nicht, dass Legolas lautlos an ihn herantrat. Der Elb sah, wie Aragorn nachdenklich mit einer Hand über seine Brust strich. Er wusste sofort, an wen der Mensch dachte.

„Er ist weg," sagte er leise – und hätte sich gleich darauf am liebsten getreten, weil Aragorn überrascht zusammenfuhr und zu ihm herumschnellte. Es dauerte nur eine Sekunde, bis der Mensch sich wieder gefangen hatte, doch für das scharfe Augen des Elbenprinzen war das ausreichend Zeit, um zu sehen, dass der Schrecken des Vergangenen Aragorn fest im Griff hatte. Am liebsten hätte Legolas ihn auf der Stelle wieder aus der Höhle herausgebracht, doch genau das durfte er nicht, wenn der Mensch je seine innere Ruhe wiederfinden sollte.

So legte er alle Überzeugung, zu der er in diesem Moment imstande war, in seine Stimme und wiederholte: „Es ist vorbei. Du bist sicher. Deine Familie ist sicher. Er ist weg, glaub mir. Für immer. Er wird auch nicht wiederkommen."

„Woher willst du das wissen?" Aragorn war sich genau dieses Faktes nach wie vor nicht sicher. Immerhin hatte man Gomars Leiche nie gefunden.

„Ich habe mit ihm gekämpft, ihm meine Klinge eigenhändig in den Leib gestoßen, Estel. Die Verletzung war tödlich."

„Aber dann hätten Glorfindels Männer seine Leiche doch finden müssen."

Legolas entsann sich noch genau, wie der Südländer in diesen eigentümlichen Höhlensee gefallen, untergegangen und davon getrieben war.

„Nicht unbedingt. Er wird wohl noch immer in dem See liegen, in den er gefallen ist."

„Ein See? Hier drin?" Irritiert runzelte Aragorn die Stirn. „Davon hat mir keiner etwas erzählt."

Legolas hatte nicht gedacht, dass es so schwer werden würde, Aragorn zu überzeugen, doch nun gab es auch kein Ausweichen mehr. „Dazu bestand auch keine Veranlassung. Alles, was zählte, war der Tod dieses Mannes, nicht das Wie oder Wo."

„Für mich schon. Mehr als alles andere muss ich wissen, woGomar geblieben ist. Der Gedanke läßt mich nicht los, dass er noch einmal wiederkommen könnte." Erneut strich der junge Mann mit der Hand über seine Brust. Die Narben brannten plötzlich wie Feuer. „Bitte, Legolas, zeig' mir diesen See!"

Mehrere Augenblicke lang musterte der Elbenprinz seinen Freund. Er war von dem Gedanken, noch einmal tief ins Herz der Felsengruppe eindringen zu sollen, nicht erbaut. Doch da es um Aragorn ging, nickte er schließlich.

„Gut, aber nur, damit du endlich selbst daran glaubst, dass da nichts und niemand mehr ist und es vorbei ist. Komm."

Er hatte beim Eintreten eine Fackel gesehen, die wahrscheinlich seit einem Jahr vergessen in einer seitlichen Nische steckte. Es dauerte nicht lange, sie zu entzünden, dann führte er Aragorn in ihrem Schein in den schmalen Seitengang.

Sie kamen an Felswänden vorbei, an denen die Feuchtigkeit hinablief und dicke Teppiche aus Flechten und Moosen bildete, liefen vorsichtig über unebene Bruchkanten im Boden, duckten sich unter herabhängenden steinernen Auswüchsen hinweg, folgten Windung um Windung, bis der Gang nach kurzer Zeit bereits wieder breiter wurde und in eine zweite Höhle mündete.

Das steinerne Dach wölbte sich kuppelförmig über die gesamte Fläche bis hin an jene Stelle, an der der Gang wieder im Fels verschwand. Der wirkliche Blickfänger aber war der in dieser Höhle liegende See, an dem der Pfad seitlich vorbeiführte.

„Elbereth, das ist..."

Aragorn blieben die Worte im Hals stecken. Er war stehengeblieben und starrte mit großen, fassungslosen Augen auf das sich ihm bietende Bild.

„Wunderschön, nicht wahr?" vollendete Legolas den angefangenen Satz, während seine Augen gleichfalls wie gebannt an dem Gewässer hingen.

Die zwei sahen sich einem See gegenüber, der völlig anders war als alle, die sie bislang je gesehen hatten.

Seine Form war beinahe kreisrund. Er schien etwa so groß wie der hintere Hof in Bruchtal zu sein und war von einer gleichermaßen sanften wie intensiven grünen Farbe, die aussah, als würde sie vom Boden her durch etwas erleuchtet werden. Die Wasseroberfläche glich in ihrer Makellosigkeit einem Spiegel, denn sie war völlig glatt und unbewegt, und die Ränder des Wassers liefen an glattgeschliffen wirkenden Ufern aus.

„Und hier..." Aragorns Stimme klang unerwartet belegt. Er räusperte sich, dann sah er den Elben an. „Und hier ist Gomar hineingefallen?"

„Ja." Legolas' Stimme hörte sich an, als sei er tief in Träumen versunken, und er streifte seinen menschlichen Freund noch nicht einmal mit einem raschen Seitenblick, sondern starrte weiter unentwegt auf das Wasser. „Nachdem ich ihn mit meiner Klinge in den Körper getroffen hatte."

„Wo?"

„In den Bauch."

Im letzten Augenblick unterdrückte Aragorn ein Augenrollen. Das hatte er nicht gemeint.

Wo ist Legolas nur gerade mit seinen Gedanken?

Er sah zu ihm hinüber – und bemerkte stirnrunzelnd, das der Elb wie eine Statue dastand und mit beinahe begehrlichen Blicken aufs Wasser sah. Zwar wusste Aragorn um die Wirkung, die der Anblick des Meeres auf Elben hatte, doch das hier war nur ein See. Zugegeben, ein sehr schöner, doch eben nur ein einfacher See, noch dazu einer, der fern allen Tageslichts lag.

„Nein, ich meinte, wo fiel Gomar ins Wasser?"

Als der Elbenprinz nicht sofort reagierte, tippte Aragorn ihn vorsichtig an.

„Ist alles in Ordnung? Wäre es nicht doch vielleicht besser, du wartest draußen auf mich?"

Legolas' Blick schnellte herum, doch in den blauen Augen des Prinzen lag ein seltsamer Glanz, fast als spiegele sich der See darin. Der Elb hatte ihn nie zuvor so hart angesehen.

„Nein, nicht nötig! Ich sagte schon, dass ich durchaus in der Lage bin, mich für einige Zeit in einer Höhle aufzuhalten. Mit mir ist alles bestens. Es besteht kein Grund zur Sorge, also hör' auf, mir fortwährend auf die Nerven zu gehen!"

Auf eine so heftige Reaktion war Aragorn nicht vorbereitet gewesen. Er brachte unwillkürlich einen Schritt Abstand zwischen sich und den Elben und hob beschwichtigend die Hände.

„Schon gut. Beruhige dich. Ich wollte dich nicht bevormunden. Verzeih, falls es für dich so aussah."

Legolas sah ihn – noch immer reglos – einige Momente an, als müsste er sich erst an Aragorn erinnern, dann holte er tief Luft und schüttelte den Kopf. Die Feindseligkeit, die bis eben noch in seinen Augen gelegen hatte, verschwand, als wäre sie nie da gewesen, und machte dem Ausdruck tiefster Verlegenheit Platz.

„Nein, verzeih du mir. Auch, wenn ich mich wiederhole: ich weiß erneut nicht, was in mich gefahren ist."

„Es ist dieser Ort hier," versuchte Aragorn es für sie beide irgendwie zu erklären und dachte spontan an Gomar. Dessen Gewalttätigkeit schien noch immer in der Luft zu liegen und wie ein unsichtbares schleichendes Gift in die reine, lichte Essenz des Elbenprinzen einzudringen.

„Ja, du hast wohl Recht." Legolas' Gedanken waren schon wieder bei dem grünen See.

Bereits beim ersten Mal, damals vor einem Jahr, war er der Schönheit dieses Ortes für einen Moment erlegen, ehe der verzweifelt kämpfende Südländer seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und ihn effektiv abgelenkt hatte. Die anschließende Sorge um Aragorn und die anderen hatte ihn damals davor bewahrt, der Faszination dieses Ortes zu erliegen.

Diesmal jedoch waren die Umstände andere.

Jetzt würde ihn nichts davon abhalten, der Anziehungskraft des Sees zu erliegen. Der Gedanke, genau dies als Gefahr zu betrachten, sollte ihm lächerlich erscheinen, doch er war alles andere als das. Nun, da er dieser eigentümlichen, das eigene Wesen auslöschenden Faszination fast schon soweit erlegen war, dass er darüber seinen besten Freund angefeindet hatte, begann eine warnende Stimme in Legolas laut zu werden.

Etwas steckte hinter dieser Schönheit, etwas Gefährliches, und mit jeder Minute, die sie hier blieben, wurden ihre Chancen kleiner, diesem Nichtfassbaren zu entkommen.

Nur schwer brachte er sich dazu, ausschließlich auf Aragorn zu achten. „Also, was wolltest du vorhin wissen?"

„Ich wollte wissen, wo... an welcher Stelle Gomar ins Wasser fiel. Weißt du das noch?"

Nachdenklich sah Legolas den Pfad entlang, dann deutete er auf eine fast in der Mitte des Weges gelegene Stelle. Das Ufergestein war dort etwas abschüssiger als an anderen Punkten.

„Es war dort. Er rutschte ab, nachdem ich ihn... Also, ich trat ihn von mir weg. Ich war so wütend, dass ich kaum noch klar denken konnte. Er rutschte ab, fiel ins Wasser, tauchte unter und trieb ziemlich schnell weg. Nach einer Weile verschwand er aus meinem Blickfeld."

Aragorn hatte der Schilderung aufmerksam gelauscht, doch je mehr er hörte, desto stärker wurden die Zweifel in ihm wieder. War der Südländer wirklich tot? Oder war er doch von hier entkommen? Und wenn ja, wie? Immerhin hatte er ja nicht wissen können, dass ihn am anderen Ausgang keine Truppen mehr gefangen nehmen konnten. In seiner Verfassung hätte Gomar eine solche Möglichkeit und damit diese Richtung mit Gewißheit gemieden, doch aus der Höhle hatte ihn auch niemand kommen sehen.

Falls Aragorn sich nicht täuschte, gab es möglicherweise einen dritten Ausgang. Von irgendwoher musste der See sein Wasser ja beziehen: entweder durch einsickerndes Regenwasser von außen – danach sahen Wände und Decke jedoch nicht aus – oder durch unterirdische Zuflüsse. Er musste herausfinden, ob es welche gab und wenn ja, ob sie für Gomar breit genug gewesen wären, um hindurchzutauchen.

„Weißt du was? Ich werde mal nachsehen, wohin dieser See fließt. Dann verlassen wir..."

„Nein!"

Irritiert verstummte Aragorn. Er hatte zwar Widerspruch erwartet, ebenso wie Unverständnis, nicht aber das, was er da sah. Das normalerweise so beherrschte Gesicht des Elbenprinzen wirkte schockiert.

„Was hast du denn? Es ist doch nur ein See."

„Ich..." Legolas wirkte, als habe er Mühe, die richtigen Worte zu finden.

Er sah Aragorn fast beschwörend an, dann verlegen zur Seite, schließlich wieder zu ihm zurück.

„Ich kann es dir nicht erklären. Es ist so ein Gefühl. Nein, mehr eine Ahnung..." Die blauen Augen des Elben brannten sich in die grauen des Menschen. „Lass uns gehen. Jetzt sofort. Lass Vergangenes ruhen, ich bitte dich, Estel."

Aragorn antwortete nicht sofort, sondern warf der nach wie vor stillen Wasseroberfläche einen sinnenden Blick zu. Dann nickte er schließlich, doch seine Lippen waren schmal.

„Gut, um deinetwillen. Wir gehen."

Er wollte zum Gang zurück und den Elbenprinzen dabei mit sich ziehen, doch zu seiner erneuten Überraschung blieb dieser wie festgefroren an Ort und Stelle. Nicht einmal der Kopf hatte sich bewegt, denn noch immer war Legolas' Antlitz dem Wasser zugewandt.

„Was ist denn? Komm schon..." Ratlos runzelte der Waldläufer die Stirn.

„Du wirst hierher zurückkommen, nicht wahr?" Es war weniger eine Frage, sondern mehr eine spontane Erkenntnis.

Ausweichend zuckte Aragorn mit den Schultern. „Das kann gut sein. Warum ist dieser Gedanke für dich so schrecklich?"

Legolas öffnete den Mund, um zu antworten, dann schien er sich anders zu besinnen. Er streifte Aragorns Hand ab und trat näher an das Gewässer heran.

Dieser Ort ist eine Falle, dachte er. Ich kann es spüren, mit jeder Faser meines Körpers, in jedem Gedanken. Warum kann Aragorn das denn nicht auch sehen? Selbst wenn ich ihn dazu brächte, jetzt mit mir zu gehen, so würde er ganz sicher später ohne mich hierher zurückkehren und sich all dem dann ganz allein gegenübersehen. Wenn ich ihn also nicht von diesem Irrsinn abbringen kann, will ich wenigstens bei ihm bleiben, um das Schlimmste zu verhindern.

Ein trauriges Lächeln flog wie eine Sturmwolke über die Miene des Elbenprinzen.

„Dann tu' es," sagte er zusammenhanglos. „Tauche und such' die Antwort, nach der dein Herz verlangt. Jetzt. Und anschließend gehen wir von hier fort und kehren nie wieder."

Aragorn starrte seinen Freund an wie eine Erscheinung. Er begriff gar nichts mehr. Zuerst hatte Legolas gar nicht genug von diesem See bekommen können, und nun benahm er sich plötzlich, als fürchte er sich vor ihm. In all den Monaten, die sie einander nun kannten, hatte er den Elb noch nie so widersprüchlich erlebt.

Behutsam trat er näher und um ihn herum, bis er dem Prinzen ins Gesicht sehen konnte. „Meinst du das wirklich ernst?"

„Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich etwas so ernst gemeint, Estel."

Die alterslosen Züge des Prinzen wirkten wie aus Marmor gemeißelt – ernst und bleich, doch vor allem verschlossen.

„Ich weiß, dass du die Gewissheit, ob der Südländer lebt oder tot ist, nur hier erlangen kannst. Bedauerlicherweise war ich es, der diese Frage vor einem Jahr durch seine Tat überhaupt erst aufwarf. Dein fester Wille ist es, eine Antwort darauf zu finden. Meiner ist es, dir dabei zur Seite zu stehen. Und nun geh. Diesen Ort lange zu ertragen fällt mir schwer."

Einen Augenblick lang dachte Aragorn darüber nach, seine Absicht aufzugeben und mit Legolas zu gehen, doch dann überlegte er es sich anders. Aragorn wusste, dass der Elbe ihn durchschaut hatte. Er würde wiederkommen. Allein. Ein Leben in Furcht, immer getrieben von dem Gedanken, nie Gewissheit über Gomars Schicksal erlangen zu können, war nichts, das er auf Dauer ertragen konnte. Warum sollte er also das, wozu Legolas ihn gerade aufgefordert hatte, dann nicht auch tun, wenn es ohnehin seine Absicht gewesen war?

„Du weißt nicht, wieviel mir das bedeutet."

Er drückte kurz die Schulter des Elben, dann wandte er sich um und legte Waffen, Umhang, Übermantel und die schweren Lederstiefel nahe des Ufers ab.

„Es dauert höchstens ein paar Minuten, dann bin ich wieder draußen. Ich bin ein guter Schwimmer, Legolas, also mach' dir keine Sorgen."

Der Elb antwortete nicht, sondern verfolgte nur reglos dessen Vorbereitungen. Er rührte sich auch nicht, als Aragorn schließlich nach einem ratlosen innerlichen Schulterzucken den ersten Schritt in den See hineinwagte.

Das Wasser war weder kalt noch warm, sondern wohltuend temperiert, und es legte sich fast wie weiche Seide über seine bloßen Füße. Nach zwei tastenden Schritten fiel der Grund steil in die Tiefe ab. Es wirkte wie eine Liebkosung zarter Hände, ganz hineinzutauchen und sich dieser Empfindung hinzugeben.

Aragorn schwamm ein paar Züge, dann sah er noch einmal zu Legolas zurück. Der stand nach wie vor am Ufer und beobachtete ihn. Der Waldläufer winkte, erhielt jedoch keine Reaktion.

Je schneller ich wieder draußen bin, desto rascher können wir diese Höhle verlassen und desto eher ist er wieder er selbst.

Er holte noch einmal tief Luft, dann tauchte er unter.

-x-x-x-

Bis zum letzten Moment hatte etwas in Legolas gehofft, dass Aragorn es sich doch noch anders überlegen und kehrt machen würde. Als jedoch das Wasser über dem Kopf des Menschen zusammenschlug und Sekunden später erneut wie nie bewegt aussah, wusste er endgültig, dass er Aragorn wider besseres Wissen in die Gefahr hatte gehen lassen.

Nun, wo er allein war, kehrte auch die Stille in die Grotte zurück. Sie war dicht und drückend, fast schon sinnbetäubend. Nirgendwo zerriss das Geräusch fallender Tropfen oder knirschender, arbeitender Felsen das Schweigen. So dauerte es nur wenige Herzschläge, bis Legolas sich erneut in den Bann des Gewässers gezogen fühlte. Stärker als zuvor war das Locken dieser tödlichen Schönheit, das alle Gedanken, die nicht dem Wasser galten, zum Schweigen bringen wollte.

Ich darf dem nicht nachgeben... nicht daran denken... ich darf es nicht ansehen... aber Aragorn ist dort drin... ich muss hinsehen... solange er dort ist... im See... wie kann etwas so Wundervolles im Inneren Ardas entstehen... nein, nicht daran denken... nicht an den See... dieses Wasser...

Er merkte, dass sein Verstand langsam im Leuchten des Grüns unterging. Bald schon würde er hier stehen und alles vergessen haben. Alles außer dieser wunderbaren Farbe, in die gleichfalls einzutauchen...

„Nein!!!"

Das Wort, herausgeschleudert voller Verzweiflung, hallte von Wand zu Wand und riss ihn in die Gegenwart zurück. Er schüttelte den Kopf, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Ein weiteres Mal war er nur um Haaresbreite der Verführungskraft des Sees entkommen, doch Legolas zweifelte daran, dass er es auch ein drittes Mal schaffen würde.

Für einen Moment überlegte er, aus der Kammer zu verschwinden, solange er dazu noch aus eigener Kraft imstande war, doch der Gedanke an den Freund hielt ihn zurück. Er brachte es nicht über das Herz, Aragorn sich selbst zu überlassen. Nicht einmal angesichts der Gefahr, die dieser Ort offensichtlich barg.

Er benötigte etwas, das ihn im Hier und Jetzt hielt, wann immer sein Denken erneut abzugleiten drohte. Nach kurzem Zögern legte er die Fackel behutsam auf einen seitlich gelegenen größeren Felsblock, wo sie trotz der ungünstigen Lagerung unvermindert weiterbrannte, dann holte er eines seiner Zwillingsmesser aus der Scheide und betrachtete es nachdenklich. Schmerz war das beste Mittel, bei Sinnen zu bleiben. Der Elb umschloß die Klinge mit der bloßen Hand.

Das Metall lag kühl in seiner Handfläche, und er konnte die Schneiden deutlich spüren, wenn er die Finger etwas fester schloß. Nur ein wenig mehr Druck, und sie würden sich ihm in die Haut graben.

Der Elbenprinz war im Laufe seines Lebens schon einige Male ernsthaft durch eine Klinge verletzt worden und wusste daher, wie es sich anfühlen würde. Es war ein scharfer, alles durchdringender Schmerz – der nun vermutlich zu seinem Rettungsanker werden würde.

Während er seinen Blick aufmerksam über die Wasseroberfläche gleiten ließ, um anhand eventuell aufsteigender Luftblasen nach dem momentanen Aufenthaltsort Aragorns Ausschau zu halten, begannen sich seine Gedanken erneut zu verlieren.

Diesmal war er vorbereitet – und drückte zu.

Legolas spürte, wie das sofort einsetzende Brennen ihn zurückholte. Er lockerte den Griff um die Klinge, dann atmete er tief durch.

Es funktionierte! Er würde seine Hand so oft um die Klinge schließen, bis Aragorn diesen See wieder verlassen hatte und sie zurück im Freien waren. Außerdem verursachte das Messer nur zwei kleine Schnittwunden, die rasch heilen würden. In Moment tat es zwar ziemlich weh, doch sein menschlicher Freund war ihm das wert.

Aragorn tauchte in diesem Moment kurz auf, sah zu ihm hinüber, winkte dann ein paar Mal in eine Richtung, holte dann erneut tief Luft und tauchte wieder unter.

Der Elbenprinz trat näher an das Wasser heran und ging dicht am Ufer schließlich in die Knie, um von dort aus weiterhin aufmerksam die Wasseroberfläche zu beobachten. Blut lief warm zwischen seinen Fingern hervor und zur Handunterkante, doch er achtete gar nicht darauf. Nach kurzer Zeit tropfte es schließlich in den See, doch auch darum kümmerte er sich nicht. Sein Blick suchte die entferntere Wasseroberfläche ab.

So sah er nicht, wie jeder Blutstropfen, der in den See fiel, zu einem leuchtenden Aufflackern im Wasser führte...

-x-x-x-

Sich unter Wasser zu orientieren, fiel Aragorn nicht schwer, denn das grüne Licht schien so wie an der Oberfläche auch in der Tiefe vorhanden zu sein und die Umgebung geisterhaft zu illuminieren. Er konnte die abwärts führenden Wände des Wasserbeckens deutlich sehen, und auch bald dessen Boden, auf den er in schätzungsweise zehn Metern Tiefe traf.

Nach einem raschen Blick in die Runde vermochte er an einer Seite eine Öffnung zu erkennen. Sie war, soweit er es einschätzen konnte, abgesehen von unzähligen kleinen oder größeren Spalten und Rissen im Fels, der einzige große unterseeische Zugang. Möglicherweise war dort so etwas wie ein Tunnel. Auf alle Fälle aber war das Loch groß genug, um sogar zwei ausgewachsenen Menschen Durchlass zu bieten. Auch die überraschend starke Strömung, die in einem abgeschlossenen See wie diesem eigentlich gar nicht vorhanden sein sollte, wollte ihn dorthin ziehen. Aragorn beschloss, sich von ihr treiben zu lassen.

Um vorher aber noch neue Luft zu tanken, tauchte er wieder auf.

Legolas stand noch immer am gleichen Fleck und sah zu ihm hinüber. Selbst aus dieser Entfernung vermochte Aragorn die bleiche Miene des Elben zu erkennen. Auf den zweiten Blick erkannte er, dass sein Freund inzwischen eines seiner Zwillingsmesser in der Hand hatte.

Was befürchtet er denn nur, dass er seine Waffe zieht? Machen ihm Höhlen wirklich derart zu schaffen?

Er warf einen raschen Blick in die Runde, konnte aber nichts Verdächtiges sehen oder hören. Einen Augenblick lang dachte Aragorn daran, trotzdem herauszuklettern und mit dem Freund wieder ins Freie zu gehen, doch erneut konnte er sich nicht dazu entschließen. Nun, wo er schon im Wasser war, konnte er schnell noch einen Blick in den entdeckten Tunnel werfen. Das war, soweit er auf die Schnelle hatte erkennen können, der einzige Abfluss, während die entdeckten Spalten ringsherum als Zuflüsse dienen mochten.

Zumindest wollte er dem Elben aber klarmachen, wohin er sich wenden würde, also winkte er ein paar Mal in die Richtung, in der sich die Öffnung befand.

Legolas ließ nicht erkennen, ob er verstanden hatte, was Aragorn ihm damit sagen wollte. Da er jedoch genau in dessen Richtung sah, nahm der Waldläufer an, gesehen worden zu sein und beließ es bei den kurzen Handzeichen. Er holte noch einmal tief Luft, dann tauchte er wieder unter.

Schon nach wenigen Schwimmstößen hatte ihn der Sog der Strömung erfasst. Um sein Ziel noch schneller zu erreichen, schwamm Aragorn kräftig mit. Sekunden später glitt er in die Dämmerung des Tunnels hinein.

Die Wände erwiesen sich als noch viel grober, kantiger als die Seitenwände des Seebeckens. Bereits nach den ersten zwei Schwimmstößen stieß er sich plötzlich an einem unerwartet aus der Seite herausragenden Stein, der wie ein ausgestreckter Zeigefinger quer in den Gang hineinragte.

Gleißender Schmerz schoß vom Ellenbogen her durch seinen linken Arm bis in die Schulter und lenkte ihn kurz ab. Das war genug Zeit, damit ihn der Sog soweit nach vorn ziehen konnte, dass er gegen ein zweites hartes Hindernis prallte, das sich ihm in die Seite bohrte.

Für einige kostbare Sekunden war er wie gelähmt. Als der Schmerz endlich wieder nachließ und Aragorn gegen die Strömung zurücksteuern wollte, um nicht noch tiefer ins Innere des Tunnels gezogen zu werden, stellte er unerwartet fest, dass er das nicht konnte. Dieses zweite Hindernis, das im hier herrschenden Zwielicht nicht richtig erkennen konnte, hatte sich nicht nur in seiner Tunika verhakt, sondern auch quer im Tunnel verkeilt und allem außer dem Wasser den Weg nach vorn versperrt.

Inzwischen begannen seine Luftreserven knapp zu werden. Das bereits einsetzende Brennen in seinen Lungen verriet ihm, dass er bald auftauchen musste, wollte er nicht in diesem Tunnel ertrinken.

Er begann sich gegen den Sog des Wassers zu stemmen, um in die Höhle zurückzugelangen – und bemerkte entsetzt, dass er seine Tunika einfach nicht freibekam.

Das immer unerträglichere Verlangen, den verzweifelt nach Luft hungernden Lungen einen einzigen Atemzug zu gewähren, machte es schwer, nicht den Kopf zu verlieren. Hinzu kam, dass das grünliche Dämmern des Tunnels, das seine menschlichen Augen nur schwer zu durchdringen vermochten, seine Furcht noch steigerte.

Nur nicht in Panik verfallen, ermahnte er sich in Gedanken und konnte doch nicht verhindern, dass aus der Furcht nun genau das wurde: Panik.

Es mochten in Wirklichkeit kaum zwei Minuten vergangen sein, seit er sich in den Tunnel hineingewagt hatte, doch für Aragorn fühlten sie sich wie eine Ewigkeit an. Er zerrte immer verbissener an dem Stoff, um freizukommen, doch der Druck in seinem Schädel ließ die Gedanken inzwischen zäh wie Sirup fließen.

Warum komme ich nicht frei... Ich muss ... die Tunika ... abstreifen...

Nun wurden auch seine Bewegungen langsamer, kraftloser. Er spürte es an der Art, in der ihm der Stoff seines Hemdes aus den Fingern zu gleiten begann.

Ich... ich m-muss...zu...rück...

Wäre er oberhalb der Wasserlinie gewesen, hätte er verzweifelt gekeucht, doch genau das durfte er hier unten nicht, wollte er nicht ertrinken. So presste er verzweifelt seine Lippen zusammen, bis seine Lungen sich schmerzhaft zusammenkrampften.

Der fortgesetzte Sauerstoffmangel ließ bereits schwarze Punkte durch sein grünlich leuchtendes Blickfeld tanzen. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis er das Bewusstsein verlieren würde, wusste Aragorn, und nahm all seine Reserven für einen letzten kräftigen Ruck zusammen.

Seine Anstrengungen wurden belohnt. Widerwillig löste sich das Etwas, das ihn im Inneren des Tunnels festgehalten hatte, doch seine Kräfte waren damit endgültig erschöpft.

So wie sein Sauerstoff.

Reflexe, machtvoller als anerzogenes Wissen, ließen ihn den Mund öffnen. Doch statt der Luft, nach der es seinen Körper verlangte, strömte Wasser in seine Kehle und besiegelte sein Schicksal.

Es brannte wie Feuer, als die gleichen Reflexe ihn das Wasser nun gleichzeitig schlucken und einatmen ließen.

Aragorn hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, und in seinen letzten bewussten Momenten erinnerte sich etwas in ihm daran, dass er sich schon einmal ähnlich gefühlt hatte. Vor einem Jahr in Bruchtal, in einem Albtraum, der seinem Scheintod vorausgegangen war.

Ich werde sterben.

Der Gedanke war von kristallener Klarheit – und begleitete ihn in die alles verschlingende Finsternis, die ihn nun gnädig aufnahm.

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Ende Kapitel 2

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Antworten:

Yavanna Unyarima: Es freut mich, dass du auch diese Geschichte wieder als Leserin begleitest. Was Aragorn und Legolas entzweien wird, deutet sich hier bereits an. Die Abstände zwischen dem Einstellen der einzelnen Kapitel sind, wie man sieht, diesmal wirklich erheblich kürzer.

Kaya Unazuki: Vielen Dank für das Lob. Es gibt nichts Schöneres als zufriedene Leser.