Schatten

Eine „Der Herr der Ringe" - Story

von

Salara

Feinarbeit: ManuKu


Willkommen zum dritten Kapitel!

Ohne lange Vorreden diesmal, dafür wieder mit Antworten am Ende.

Viel Vergnügen!

-x-x-x-

Kapitel 3: Die Lage spitzt sich zu

-x-x-x-

Legolas beobachtete die Oberfläche des Sees und versuchte irgendeinen Hinweis dafür zu finden, wo sich sein menschlicher Freund gerade befand oder wie es ihm ging. Doch so sehr er seine von Natur aus überlegene Sicht auch anstrengte – er erblickte nichts: keine Luftblasen, die von ausgestoßener Atemluft zeugten; keine noch so kleine Welle auf der Wasseroberfläche, die ein Wiederauftauchen ankündigte; auch keinen Schatten im Grün des Wassers.

Da war einfach nichts.

Das unter normalen Umständen gut ausgeprägte Zeitempfinden des Elben hatte längst damit begonnen, ihm Streiche zu spielen, während er wartete. Es mochten Sekunden sein, Minuten oder mehr – Legolas hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie lange er schon so am Ufer wartete. Mal erschien es ihm nur sehr kurz, ein anderes Mal wieder sehr, sehr lange. Schließlich verlegte er sich darauf, die Zeit nach der Anzahl der Male zu bemessen, die er seine Hand um die scharf geschliffene Elbenklinge presste.

Ging er jedoch danach, musste bereits viel Zeit vergangen sein, denn zu den anfänglichen zwei Schnittwunden waren längst weitere hinzugekommen.

Einmal – irgendwann zwischendurch – hatte er kurz in die Innenseite seiner Hand geblickt, doch nicht einmal das aufgeschnittene Fleisch vermochte es, ihn vollständig aus seiner Lethargie zu reißen. Es waren etliche offene Wunden und jede einzelne hatte er sich selbst zugefügt, nur um aufnahmefähig zu bleiben.

War denn wirklich schon so viel Zeit vergangen oder narrte ihn dieser Ort mit einer ganz neuen Art von Bosheit, einem veränderten Zeitgefühl?

Die Frage ließ ihn ein weiteres Mal seine inzwischen blutüberströmte Hand betrachten.

War Aragorn möglicherweise doch schon zu lange unter Wasser? Oder wurde die Anziehungskraft dieses Ortes stärker? War das überhaupt möglich, wenn er den See einfach nur ansah und weder von ihm trank noch ihn berührte?

Den See berühren... Wie sich das Wasser wohl anfühlt?

Legolas sah noch immer unverwandt auf die Wasseroberfläche, doch sein Blick begann erneut jenen abwesenden Glanz zu bekommen, der dem Entgleiten seiner Realität vorausging.

Ob es kalt ist?

Unwiderstehlich fühlte er sich versucht, seine unverletzte Hand in das Wasser zu tauchen. Er begann sie danach auszustrecken.

Nein, es ist sicher warm, sonst wäre Estel nicht so lange...

Der Name, so selbstverständlich gedacht, wirkte inzwischen fast wie ein Signal und ließ ihn innehalten. Sekundenbruchteile später gesellten sich zwei weitere Schnittwunden zu den anderen. Wieder lief Blut an der Schneide seiner Klinge hinab, neuerlicher Schmerz flammte auf.

Diesmal war die Klinge tief in seine Hand eingedrungen und so fiel der Schmerz stärker als alle vorgehenden Male aus. Er war so stark, dass es ihn ohne Übergang in die Wirklichkeit zurückbeförderte. Damit einher ging das spontane Begreifen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

Nach einem tiefen klärenden Atemzug begriff er: es war die inzwischen vergangene Zeit! Aragorn war schon sehr lange unter Wasser. Zu lange, wie ein ungutes Gefühl dem Elben klarmachte.

Ein dumpfes Pochen hinter seiner Stirn setzte ein und geistesabwesend rieb Legolas sich die vom langen, angestrengten Starren brennenden Augen.

„Was habe ich nur getan?"

Wenn Aragorn in Schwierigkeiten steckte, dann ausschließlich seiner Nachgiebigkeit wegen. Gleichermaßen schuldbewusst wie ärgerlich auf sich selbst, schluckte er gegen die Enge in seiner Kehle an.

„Ich hätte nie zulassen dürfen, dass er wirklich dort hinabtaucht!"

Sein Herz hämmerte laut, fast furchtsam, doch eine aufkommende vage Ahnung überflutete Legolas. Dieser Herzschlag, der hektisch und verzweifelt durch seinen Brustkorb pulste, war wie das Echo eines anderen. Bedeutete das...?

Er wollte den Gedanken aus seinem Kopf drängen und konnte es doch nicht. Wie in einem Albtraum reihten sich vor seinem inneren Auge die Bilder des sterbenden Aragorn auf, denen er seit einem Jahr nicht entfliehen konnte. Zu seinem Schrecken gesellten sich bereits neue hinzu, Bilder aus seiner Fantasie, und in jedem davon ertrank sein Freund.

Ich kann es nicht noch einmal ertragen, dachte er verzweifelt und spürte, dass sein Denken plötzlich wieder klar wurde, als durch die Furcht um das Schicksal des Menschen Unmengen an Adrenalin durch seine Adern jagten.

Irgendwo dort unten, gefangen in einem Element, das nicht das seine war, war seinem Freund ganz gewiss etwas zugestoßen!

Dieses instinktive Wissen war stärker als die böse Faszination des Wassers; dennoch mischte sich auch ein unerwartet starker Ärger über Aragorns Eigensinn in die Sorge um ihn. Wieso hatte der Mensch wenigstens dieses eine Mal nicht vernünftig sein können?

„Dieser Narr!"

Er stand mit einem Ruck auf.

„Elbereth, wie dumm war ich, mich von ihm überreden zu lassen! Statt meinem Wort zu vertrauen, dass der Südländer tot ist, zieht er alles in Zweifel..."

Zwar hatte der Elbenprinz diese Erkenntnis schon früher an diesem Morgen machen müssen, doch erst jetzt schmerzte sie ihn. Überrascht stellte Legolas fest, wie gut es tat, seiner Enttäuschung darüber mit Worten Ausdruck zu verleihen. Es war offensichtlich an der Zeit, dass jemand dem jungen Mann klar machte, was die Begriffe Vertrauen und Verantwortungsgefühl bedeuteten.

Für einen Augenblick fragte Legolas sich, ob sein Vater den gleichen Zorn verspürte, wenn er – Legolas – mal wieder nur mit knapper Not einer gefährlichen Situation entkommen war.

Es konnte gar nicht anders sein. Warum sonst sollte Thranduil ihm schon seit Jahrhunderten jedes Mal anschließend eine derart heftige Standpauke halten, dass in dieser Zeit der ganze Hofstaat mucksmäuschenstill wurde, nur um nicht auch noch ins Kreuzfeuer der Kritik zu geraten?

Möglicherweise, befand Legolas im Bruchteil einer Sekunde, hat Lord Elrond es bei Aragorn verabsäumt, ihn für seine Taten zur Verantwortung zu ziehen?

„Dann werde ich es eben von nun an tun. Sobald ich dich herausgezogen habe, bekommst du deine erste Lektion..."

Wütend warf er seine Waffen zur Seite, beförderte nach Sekunden seine Stiefel hinterher, dann lief er entschlossen in den See hinein. Zwei Schritte führten ihn bis an jene Kante, von der Aragorn sich zuvor in die Tiefe hatte fallen lassen.

Auch Legolas spürte den Abgrund unter seinen Zehen, ebenso wie den Sog, der sanft, aber deutlich spürbar, an ihnen vorbeistrich. Für eine Sekunde gestattete er es sich, dieses Gefühl der vermeintlichen Wärme und des schmeichelnden Wassers, bewusst in sich aufzunehmen, dann fokussierte er seine Gedanken nur noch auf ein Ziel: Aragorn zu finden.

Er hatte gesehen, in welche Richtung der Mensch gewunken hatte: in die gleiche, in die auch der Sog führte. Wenn er dort mit seiner Suche begann, würde er sicher auf den Waldläufer stoßen.

Diese Vermutung war so gut wie jede andere, also glitt der Elb in die Tiefe hinein. Das Wasser nahm Legolas fast geräuschlos auf, doch in dem Moment, in dem es in Kontakt mit seiner aufgeschnittenen Hand kam, durchzuckte ihn ein Schmerz, der so unerträglich war, dass der Elbenprinz unwillkürlich gepeinigt die Augen schloss.

Bereits einen Augenblick später wünschte der Elb sich, es nicht getan zu haben.

Vor seinem inneren Auge sah er Bilder mit der Schnelligkeit von Blitzen auftauchen und wieder verschwinden. Instinktiv wusste er, dass sie aus jenen Abgründen kamen, die längst mit dem Mantel der Geschichte zugedeckt worden waren, doch ihr Schrecken war selbst nach Jahrtausenden noch ungebrochen. Die übermächtige Faszination der Visionen machte es Legolas unmöglich, sie zu verdrängen und mit jeder Sekunde, in der das grün leuchtende Wasser weiter in seine Wunden drang, erlag der Elbenprinz der darin befindlichen uralten Magie Melkors mehr.

Schlangenleiber sah er sich in einem Tümpel winden, dessen Wasser dunkel und zäh wie vor langer Zeit vergossenes Blut war. Geflügelte Kreaturen schossen auf ihn hinab, um dann schrill kreischend wieder in die nach Unrat und Tod dünstende Luft emporzuziehen. Ihre Bewegungen sagten, dass niemand sie je besiegen würde. Es mochten Geschöpfe der Finsternis sein, bedrohlich und dunkel, doch wo Legolas sich früher von ihnen nur abgestoßen gefühlt hätte, waren sie nun für ihn von einer Vollendung, die er so noch nie erblickt zu haben meinte. Schließlich glaubte er sogar, ihre Kraft in sich zu spüren. Bewundernd fragte Legolas sich, wann er sich schon einmal so voller Kraft gefühlt hatte.

Der Blick des Elben war starr, als sähe er auf dem Wasser tanzenden Sonnenlichtreflexen zu, und plötzlich wollte sich Legolas der Faszination dieses Anblicks gar nicht mehr entziehen. So sehr er ihnen bis eben noch zu entgehen versucht hatte, so genussvoll verweilte etwas in Legolas nun bei jenen Bildern, die sich inzwischen in sein Gedächtnis eingebrannt hatten.

Ein markerschütterndes Heulen, das nicht diesen Sphären entsprang, fraß sich in sein Trommelfell und drohte es zu zerreißen. Verzweifelt wünschte er sich, die Ohren verstopfen zu können, doch keine Hand ließ sich dafür heben. Das Schreien von Yavannas Elben und Ents, über deren Leiber sich Feuerräder wälzten, wurde vom Geheul der Heerscharen grausiger Unholde übertönt, die ihre furchteinflössenden Waffen in die Sterbenden versenkten, um ihre Reinheit für immer zu verderben.

Während er hilflos spürte, wie jeder Ton einen Schatten auf dem bislang reinen Sternenlicht seiner Seele hinterließ und es zu verdunkeln begann, ebbte der Schmerz schließlich ab, und die grausigen Echos versickerten in den Tiefen seines Herzens. Dort verwirrten sie als Nachhall Legolas' Sinne und wurden zu einer Melodie, die schöner für die Ohren des Elben klang als die lieblichste Weise der klarsten Stimme. Neben ihr würde die Stimme eines lebenden Wesens nun wie quietschendes Gewinsel klingen, das man um alles in der Welt zum Verstummen bringen wollte.

All dies geschah in wenigen Sekunden, doch es genügte, um ihn abzulenken. So sah er nicht, dass zur gleichen Zeit das Wasser rings um ihn herum hell aufleuchtete, um gleich darauf wieder ganz normal auszusehen. Dann waren die Bilder und Töne fort, doch die Empfindungen, die sie in ihm geweckt hatten, das Gefühl der Kraft und des Wohlklangs von Schreien, blieben unterschwellig bei ihm.

Ein Brennen ergoss sich jetzt wie flüssige Glut in Legolas' gesamten Körper, doch es verschwand genauso schnell wieder wie die Visionen zuvor. Dazwischen lag ein entsetzlich stechender Schmerz, der lange genug angehalten hatte, um ihn unwillkürlich zum Keuchen zu bringen.

Dabei hatte er auch etwas von dem Wasser des Sees geschluckt. Es war seine Kehle hinabgelaufen und schmeckte wahrhaft widerlich. Spontan fühlte Legolas sich an einen jener Tümpel erinnert, die ohne Zu- oder Abfluss waren und deren Wasser, grün und von Algen durchsetzt, langsam vor sich hin moderten. Als Kind war einmal in einen solchen Tümpel gefallen und hatte etwas von dem Wasser dort in den Mund bekommen. Ein Wächter fischte ihn zwar rasch wieder heraus, doch der modrige Geschmack war bis heute in Legolas' Erinnerung verankert.

Legolas spukte und prustete, während er sich über Wasser hielt und wieder zu Atem zu kommen versuchte. Dann kostete er erneut.

Diesmal vermeinte er reines, klares Wasser zu schmecken, das so prickelnd war, als wäre es eben aus großer Höhe in eine Bergquelle hinabgeströmt.

Woher kommt das?, dachte er flüchtig, doch die Suche nach einer Antwort verschob er auf später. Aragorn lief die Zeit weg, das konnte er nun noch deutlicher fühlen als zuvor. Eile war geboten.

Er nahm zwei tiefe Atemzüge, dann tauchte er unter.

Es erwies sich als einfach, dem Sog zu folgen, der genau auf ein mehr als mannsbreites Loch in einer der seitlichen Beckenwände zuhielt.

Genau wie Aragorn zuvor schwamm nun auch Legolas mit aller Kraft der Strömung voraus, und ebenso wie sein Freund glitt auch er schon nach wenigen Sekunden in das eigenartig leuchtende Zwielicht des Tunnels hinein. Nach ein paar weiteren Schwimmstößen berührten seine Fingerspitzen vor sich im Tunnel etwas, das er nicht genau bestimmen konnte. Zumindest ging eine schwach wahrnehmbare Wärme davon aus, also handelte es sich um etwas Lebendiges. Allerdings erhielt er selbst auf mehrmaliges Anstupsen hin keine Reaktion.

Das ist er, begriff der Elb, und seine Sorge steigerte sich noch, da der Freund offensichtlich im Tunnel das Bewusstsein verloren hatte.

Hoffentlich lebt er noch, betete der Elbenprinz, während er nach dem zuvor angestupsten Etwas griff, das im herrschenden Zwielicht vage wie ein Fuß aussah.

Bitte, ihr Valar, lasst ihn nicht tot sein...

Er zog Aragorn mit sich zurück.

So einfach, wie es ihm gelungen war, in den Tunnel zu gelangen, so schwer war es nun, rückwärts und gegen den Strom wieder herauszukommen. Außerdem hatte er den unbestimmten Eindruck, als hinge etwas an Aragorn, das ihn – einem Anker gleich –festhalten wollte.

Es erschien Legolas wie eine Ewigkeit, bis er endlich wieder im offenen Wasser war. Im Höhlenbecken angelangt, zog er den bewusstlosen Menschen mit aller Kraft ganz aus dem Tunnel heraus.

Als Sekunden später der reglose Körper endlich sichtbar wurde, sah der Elb seine Annahme bestätigt. Etwas auf den ersten Blick Großes, sperrig Wirkendes hatte sich an wenigstens zwei Stellen an Aragorns Kleidung verhakt und höchstwahrscheinlich dafür gesorgt, dass der Mensch im Tunnel hängen geblieben war.

Legolas nahm sich nicht die Zeit, seinen Freund davon zu befreien. Das würde er tun, sobald er mit ihm wieder an Land war. Zunächst einmal galt es, Aragorn aus dem Wasser zu ziehen und ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen.

Wenige kräftige Schwimmstöße genügten, um ihn zum Ufer zurückzubringen. Mühelos kletterte der Elb über die steinerne Bruchkante auf den flacheren Uferstreifen, dann zog er Aragorn ebenfalls dort hinauf und von da in die Sicherheit des trockenen Ufers, wo er ihn – so erschöpft, als hätte er Stunden unter Wasser zugebracht – fallen ließ.

Noch immer tanzte der Fackelschein matt über die Höhlenwände, doch das wenige Licht genügte dem scharfen elbischen Auge, um den Ernst der Situation sofort zu erkennen.

Aragorns Augen waren geschlossen und tief in die Höhlen zurückgesunken und Gesicht und Lippen des Mannes wirkten geisterhaft blass. Das Schlimmste für Legolas war jedoch seine Reglosigkeit.

Er wollte sich den Freund zuwenden, versuchen, das eingeatmete Wasser aus der Lunge zu pressen – und stockte unwillkürlich schon nach den ersten Sekunden. Erst jetzt sah er, was er ungewollt mit Aragorn zusammen ans Ufer gezerrt hatte. Das „Anhängsel" des Menschen entpuppte sich als Skelett!

Legolas schluckte unwillkürlich.

Es war nicht vollständig, denn der Kopf und ein paar Knochen, die inzwischen vom Wasser aller haltenden Sehnen und Muskeln beraubten waren, fehlten. Der Großteil war allerdings noch halbwegs vorhanden und wurde von den beinahe unversehrten Resten lederner Waffengurte, die sich um Becken und Oberkörper des Skeletts schlangen, und den nicht ganz vom Wasser aufgelösten Sehnen- und Muskelsträngen zusammengehalten. Sogar ein paar Reste ehemaliger Bekleidung waren noch zu erkennen. Es waren gerade genug Stücke übrig, um ihre Farbe zu identifizieren.

Schwarz.

Das ist Gomar, erkannte der Elbenprinz instinktiv und drängte die Frage beiseite, wieso nach einem vollen Jahr noch so viel von ihm erhalten war. Aragorn hat die Antwort, nach der es ihn verlangte, also gefunden...

Ein Schauder kroch sein Rückgrat entlang, als Legolas die Konsequenzen begriff. Selbst ein Jahr nach seinem Tod hatte der Südländer sein damaliges Ziel, den jungen Mann zu töten, beinahe erreicht!

Er hoffte, dass Aragorn nicht mehr gesehen hatte, WAS ihm da beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Angewidert und nicht eben sanft entfernte er die Leiche aus der Kleidung des Menschen und stieß die Leiche dann mit einem Tritt zur Seite. Das dabei entstehende Geräusch ließ unerwartet Übelkeit in Legolas emporsteigen, doch er drängte sie unwillig zurück und ließ sich neben Aragorn auf die Knie fallen.

Die ganze Aktion hatte nur Sekunden in Anspruch genommen, doch dem besorgten Prinzen war es unglaublich lange vorgekommen. Er tastete hastig nach einem Puls, doch es dauerte einige Momente, bis er ihn fand. Hektisch, unregelmäßig und schwach – aber er war da. Noch war Leben in diesem, den Valar war Dank, zum Sterben zu sturen Menschen!

Erleichtert drehte er Aragorn ohne weiteres Zögern auf den Bauch, bettete den Kopf seitlich, so dass er ihn sah, dann kniete er sich rittlings über ihn und begann damit, das eingeatmete Wasser aus den Lungen des Mannes herauszupressen. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, stemmte er sich gegen den Rippenkasten. Wieder und wieder, bis endlich das erste Wasser zwischen den Lippen hervorströmte. Im gleichen Moment begann Aragorn zu husten.

Augenblicklich stellte der Elb seine Bemühungen ein und beobachtete wachsam, wie sein Freund keuchend und Wasser spuckend wieder ins Leben zurückkehrte. Schließlich begannen die Lider des Waldläufers zu zittern und zufrieden sah Legolas, wie er gleich darauf die Augen öffnete.

„W...was..." Aragorns Stimme war nur ein Krächzen und kaum zu verstehen, doch sie ließ immense Erleichterung in Legolas wach werden.

„Ruhig. Sprich noch nicht!"

Viel zu schwach, um ernsthaft an Protest zu denken, verstummte der Mann folgsam. Der Blick seiner silbergrauen Augen glitt desorientiert über den Felsboden und gleich darauf nach hinten, hin zu jenem in seinem Rücken spürbaren Gewicht.

„Geh ... von mir runter... bitte...", flüsterte er und hob schwach eine Hand, die jedoch sofort kraftlos zurückfiel. „Ich bekomme... keine Luft... meine Rippen..."

Erst jetzt fiel Legolas auf, dass er noch immer auf dem Rücken seines Freundes saß. Hastig kam er der Bitte nach, dann kniete er sich neben ihn. Nun sah er Aragorn direkt ins Gesicht, auf das nun Tropfen aus dem hellen Haar des Elben hinabperlten. Der Waldläufer lag noch immer entkräftet bäuchlings am Boden, unternahm aber erste Anstrengungen, sich umzudrehen.

Legolas war ihm nach kurzem Zögern dabei behilflich, doch als Aragorn sich gleich darauf aufsetzen wollte, drückte er ihn wieder zurück.

„Noch nicht. Gib deinem Körper noch ein paar Minuten, um wieder zu Kräften zu kommen. Er braucht jetzt alle Ruhe, die er bekommen kann, also gewähre ihm wenigstens nach dieser Tortur etwas Frieden, ja?"

Aragorn starrte ihn mit großen, verständnislosen Augen an, die eigentlich mehr zu einem Kind als zu einem erwachsenen Mann passten, dann nickte er langsam, als er die Bedeutung der Worte schließlich begriff. Dass Legolas ziemlich harsch klang, fiel ihm nicht auf; er war einfach nur unendlich dankbar, noch am Leben zu sein.

„Danke, mein Freund!" Er ergriff Legolas' – unverletzte – Hand und hielt sie fest. „Ich ... ich dachte, ich müsste sterben, als ich da unten nicht mehr frei kam..."

Er verstummte, als die Erinnerung an das Erlebte in plastischen Bildern zu ihm zurückkehrte und sich als Schrecken in seinen Augen manifestierte.

Der Elb sah mühelos, was in dem Menschen vorging, und nickte stumm. Seine Miene war verschlossen, als er abschätzend zu ihm hinabsah. Nun, da die unmittelbare Gefahr für Aragorn gebannt schien, erfüllte neuerlicher, heiß aufwallender Ärger den Elben. Ihm fiel sein vorher gefasster Entschluss, Elronds jüngstem Sohn die Bedeutung des Wortes Verantwortungsgefühl beizubringen, wieder ein. Brüsk entzog er ihm seine Hand.

„Zur Dankbarkeit hast du auch allen Grund, denn du wärst fast gestorben. Diesmal war es nur eine Frage von Sekunden, Estel. Noch ein paar länger und du wärst tot gewesen. Weißt du überhaupt, wie dumm, unüberlegt und verantwortungslos du gehandelt hast? Du kannst nicht immer davon ausgehen, dass jemand da ist, der dir aus der Klemme hilft! Irgendwann stirbst du einfach deshalb, weil du vorher die Folgen nicht bedacht hast."

Aragorn starrte seinen elbischen Freund fassungslos an. Mit einem so heftigen Wutausbruch hatte er so kurz nach diesen Zwischenfall nicht gerechnet.

„Ich bin dir ja auch sehr dankbar dafür, dass du mir geholfen hast. Nichtsdestotrotz war es aber ein Unfall, Legolas. Also beruhige dich bitte. Es ist doch alles gut gegangen..."

Er wollte sich aufsetzen, um dem Freund auf gleicher Höhe ins Antlitz sehen zu können und fühlte sich plötzlich zurückgedrückt. Eine Sekunde später saß Legolas erneut auf ihm und drückte ihn durch sein Körpergewicht effektiv zu Boden.

GUT GEGANGEN?"

Die blauen Augen des Elben funkelten, seine Stimme hatte sich deutlich erhoben.

„Ja, aber nur, weil ich geistesgegenwärtig genug war, dir zu folgen. Wenn du wirkliche Dankbarkeit zeigen willst, dann benimm dich endlich wie der Erwachsene, zu dem deine menschliche Natur dich bereits macht!" Er schnaubte abfällig.

Es dauerte ein paar Momente, bis der Verstand Aragorns die neue Situation begriff, die nach seinem Dafürhalten in gleichem Maße demütigend wie unverständlich war. Was war nur in Legolas gefahren? Hatte ihm das Ganze einen so tiefen Schock versetzt, dass der sonst so beherrschte Elbenprinz seinen Emotionen auf dieser Art Luft machen musste?

Er hob die Hände, um den Elben von sich zu stoßen, doch der fing sie noch auf halber Strecke mühelos ab und presste sie links und rechts neben Aragorns Kopf auf den Fels.

„Was soll das?" Mehr geschockt als wütend wand dieser sich ein paar mal hin und her, und als er merkte, dass er noch zu schwach war, um aus eigener Kraft frei zu kommen, starrte er wütend zu Legolas empor. „Lass mich gefälligst sofort los und geh' von mir herunter!"

Legolas war genauso wütend. Er glaubte sogar grüne Ränder an seinem Blickfeld zu sehen, so intensiv brodelte es in ihm.

„Nicht, bevor ich dir gesagt habe, was dein Vater offenbar bisher in all den Jahren aus Sanftmut unterlassen hat: Du bist eine Schande für deine gesamte Familie!"

Jetzt verlor Aragorn endgültig die Fassung. „Sag mal, hast du den Verstand verloren? Wie redest du eigentlich mit mir?"

„So, wie es längst schon jemand hätte tun sollen! Vielleicht wäre dann nicht dieser unbelehrbare, kindsköpfige Narr aus dir geworden, der du bist!"

Etwas in Aragorn wusste, dass die Worte nur das Zeichen maßloser Sorge um sein Leben waren. Legolas meinte sie nicht wirklich ernst, doch der maßgeblichere Teil seines Verstandes begann nun gleichfalls aufsteigendem Ärger zu erliegen.

Da er seine Hände noch immer nicht frei bekam und den Elben auch nicht abschütteln konnte, stellte er seine Gegenwehr schließlich ein. Die sonst silbergrauen Augen des Waldläufers waren nun fast anthrazitfarben vor unterdrücktem Groll. Legolas' Antlitz hing direkt über dem seinen. Schon wieder tropfte Wasser aus den langen blonden Haaren direkt in Aragorns Gesicht und lief zu beiden Seiten an den Wangen herunter, doch der junge Mann zuckte mit keiner Wimper, sondern starrte empört zu dem Elben empor.

„Wer bist du, dass du glaubst, so über mich urteilen zu dürfen?"

Die Frage ließ etwas über die bislang ebenmäßigen Züge des Prinzen huschen, das wie ein Schatten anmutete. Aragorn hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, wie ein Beutetier abgeschätzt zu werden. Dann war es vorbei und Legolas wirkte einfach nur wieder wütend.

„Ich bin derjenige, dem du dein Leben verdankst. Das Mindeste, das du dafür tun kannst, ist, mir Respekt zu erweisen, indem du endlich mal einen Ratschlag annimmst. Vor allem, weil er von jemandem kommt, der dir ein paar Tausend Jahre Lebenserfahrung voraus hat! Es wäre für alle einfacher, vor allem für deinen Vater und die Zwillinge, wenn du es tätest! Sie haben den Ärger nicht verdient, den du ihnen immer wieder bereitest!"

Aragorn öffnete den Mund zu einer scharfen Erwiderung, doch er verschluckte die Worte, die der wachsende Zorn ihn sagen lassen wollte. Stattdessen holte er tief Luft, bis er sich etwas beruhigt hatte, dann sah er den Elben ruhig an.

„Sag mal, hörst du dir eigentlich selbst zu? Weißt du, wie du klingst?"

„Wie klinge ich denn? Hmm? Sag schon!"

Der Druck auf Aragorns Handgelenke wurde stärker und das Gesicht des Elben kam noch näher zu ihm hinunter.

„Sag es nur," wiederholte er. „Sag endlich, was du wirklich denkst, Mensch! Wie klinge ich?"

Aragorn zögerte kurz. Was auch immer Legolas im Griff hatte – es war offenkundig so stark, dass es drastischer Maßnahmen bedurfte, um aus dem arroganten Elbenprinzen wieder den Freund zu machen, den er kannte und dem er vertraute. Der Waldläufer hatte sich seine nächsten Worte genau überlegt, doch sie wirklich auszusprechen, erforderte mehr Mut, als er gedacht hatte.

„Jedenfalls nicht mehr wie derjenige, dem ich vor noch nicht allzu langer Zeit das Leben rettete. Der Legolas von damals wäre niemals auf die Idee gekommen, einen einfachen Unfall zu einer Demonstration in Sachen Überlegenheit zu missbrauchen! Wenn du mir damit sagen wolltest, dass du meiner Gesellschaft überdrüssig bist, so ist die Botschaft angekommen. Ich bin sicher, daheim in Düsterwald erwartet Euch angemessenere Gesellschaft als die meine, Prinz Legolas. Und nun lasst mich los, Euer Hoheit, damit ich mir einen anderen Rastplatz suchen gehen kann!"

Der wirkte einen Herzschlag lang wie erstarrt, so als hätte ihn ein Schwall kalten Wassers getroffen. Dann löste er sich aus seiner Starre. Im gleichen Augenblick ließ er Aragorn los und stand auf, doch in seiner Miene war von der zuvor so klar sichtbaren Überheblichkeit keine Spur mehr zu entdecken. Im Gegenteil: verlegen sah er an ihm vorbei zu Boden.

„Estel, verzeih mir! Ich..." begann er, doch der Mensch, der sich nun gleichfalls erhoben hatte, fiel ihm kurzerhand ins Wort.

„Schon gut. Ich war auch nicht eben behutsam in der Wahl meiner Worte. Wir standen beide unter Schock. Lass uns das Ganze einfach vergessen und machen, dass wir hier wegkommen, einverstanden? Wir werden nie wieder über diesen Zwischenfall reden und zukünftig versuchen, vorsichtiger miteinander umzugehen."

So ganz vergeben hatte Aragorn seinem Freund zwar noch nicht, doch mit ein bisschen Zeit würde auch diese Wunde heilen und die alte Vertrautheit zwischen ihnen, die zumindest bei Aragorn spürbaren Schaden genommen hatte, wiederkommen.

Legolas setzte inzwischen mehrmals zu einer Antwort an, verzichtete jedoch schließlich auf Worte und streckte stattdessen einfach seine Hand aus.

Aragorn erkannte die Geste der angebotenen Versöhnung. Er ging auf ihn zu, wollte einschlagen – und hielt mitten in der Bewegung inne. Seine Augen hingen wie gebannt an der ihm entgegengestreckten Hand des Elben.

„Wie, um alles in der Welt, ist das denn passiert?"

Verständnislos hob der Elb seine verletzte Hand und betrachtete die Innenfläche.

Noch immer klafften dort die zahlreichen Schnittwunden, die er sich beigebracht hatte, um bei klarem Bewusstsein zu bleiben. Doch jetzt sahen sie aus, als hätten sie bereits vor Stunden zu bluten aufgehört. Auch das rohe Fleisch hatte die Farbe gewechselt, denn aus dem zuvor entzündeten Tiefrot war ein seltsames Rotbraungrau geworden. Ein zufälliger Betrachter hätte bei diesem Anblick geschworen, dass die Verletzungen schon mehrere Tage alt aussahen, doch Legolas wusste es besser: sie waren noch keine fünf Minuten alt. Behutsam tippte er einen der Schnitte an, doch die Wundränder, die eigentlich höllisch schmerzen sollten, waren wie taub.

„Ich weiß nicht..."

Er verstummte, für einen Moment ratlos. Es dauerte allerdings nicht lange, bis Legolas sich wieder entsann. Das Warten auf ein Lebenszeichen des Freundes; der Schmerz beim Eintauchen ins Wasser; das sichere Wissen, dass Aragorn sich in akuter Gefahr befunden hatte...

Für kurze Zeit wurde der Verstand des Elben wieder klar und der Ärger über den Menschen ging samt der grünen Schleier, die bis eben noch in seinem Blickfeld gewabert hatten, zurück.

„Während ich auf dich wartete, wurde das Böse an diesem Ort immer stärker. Sobald ich auf das Wasser sah, konnte ich nicht mehr klar denken und begann alles zu vergessen. Aber du warst dort unten. Ich wollte einfach nicht vergessen... und dich schon gar nicht. So tat ich das Einzige, das mir so schnell einfiel..."

„...und zerschnittst dir die Hand? Meinetwegen?" Aragorn schüttelte ungläubig den Kopf.

„Nur Schmerz war stark genug, mich abzulenken." Irgendwie verärgerte es Legolas, sich so nachdrücklich erklären zu müssen.

„Aber DAS? Legolas..." Ein neuerliches, diesmal jedoch gedachtes, Kopfschütteln begleitete die Worte des Menschen, der nicht fassen konnte, dass der Elb seinetwillen zu einem solchen Opfer bereitgewesen war.

Es waren nicht die Worte, die aufs Neue eine Seite in Legolas mißtönen ließen. Es war der Klang in ihnen, der seinen Ohren falsch und missbilligend erschien. So reagierte er erneut unerwartet heftig.

„Ja, stell' dir vor: deinetwegen! So etwas tun Freunde gewöhnlich füreinander!"

Aragorn wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Die Absicht, sich wieder mit dem Elben auszusöhnen, erschien schlagartig in einem anderen Licht.

Vielleicht, grübelte Aragorn, während er Legolas' kühlen Blick auf die gleiche Weise erwiderte, ist doch mehr zwischen uns bislang ungesagt geblieben, als ich dachte? Was wissen wir schon voneinander? So lange kennen wir uns noch gar nicht. Möglicherweise hat ein solcher Streit schon im letzten Jahr in der Luft gelegen und nur die Ereignisse um die Südländer verhinderten ihn...

Der Waldläufer hielt es allerdings für ausgesprochen ungünstig, sich ausgerechnet in dieser Höhle zu streiten. Möglicherweise beruhigte Legolas sich bis zu einem gewissen Grad, sobald er das Tageslicht und den freien Himmel wieder über sich spürte. Und mit der Weite um sich, die sie beide so liebten, konnten sie sich vielleicht vernünftig aussprechen.

Also schluckte Aragorn seinen Ärger zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten hinunter und streckte nun seinerseits die Hand zur Versöhnung aus.

„Um so größer ist mein Dank für deine Selbstlosigkeit, mein Freund! Komm, lass uns endlich wieder ins Freie zurückkehren. Ich ertrage diesen Ort nicht länger."

Es sah fast widerstrebend aus, als Legolas – nun mit der unverletzten Hand – einschlug, doch gleich darauf nickte er zustimmend.

„Das ist der beste Vorschlag, den ich an diesem Tag bekommen habe. Wenn du nun auch noch einen hast, der mir sagt, was wir damit machen sollen..." Legolas deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Stelle, die momentan in Aragorns Rücken lag.

Der drehte sich fragend um – und verlor ein weiteres Mal an diesem Tag die Fassung. Zwar sah er sich nicht zum ersten Mal einem Skelett gegenüber, doch an diesem Ort konnte es in Aragorns Augen nur das eines einzigen Mannes sein: Gomar!

„Wo hast du es gefunden?" Die Stimme des Menschen klang belegt.

„Du wirst es mir nicht glauben." Der Anflug eines Lächelns glitt über Legolas' Miene. „An dir."

Aragorn wollte seinen Ohren nicht trauen. „Wie war das? Kannst du das bitte noch einmal wiederholen?"

„Glaube es ruhig." Legolas nickte und ging an dem Menschen vorbei zu dem Leichnam. „Als ich dich aus diesem Tunnel zog, hing etwas an dir fest, das dich dort drinnen festgeklemmt hatte. Aber erst hier auf dem Trockenen sah ich, um was es sich handelte."

Leise trat Aragorn neben den Freund und sah auf den von einer Wasserlache umgebenen grausigen Knochen- und Lumpenhaufen hinunter. Er erinnerte sich mit deutlichem Schrecken an sein Feststecken, ebenso wie an seine vergeblichen Versuche, freizukommen, und auch daran, dass schließlich – kurz bevor er das Bewusstsein verloren hatte – etwas nachgegeben hatte.

Der Waldläufer musterte die Leiche. Die Oberschenkelknochen sahen seltsam verdreht aus... Plötzlich ergab alles einen Sinn.

„Er ist es. Er muss es einfach sein. Wer sonst könnte mich über den Tod hinaus ins Verderben ziehen wollen?"

„Ich denke auch, dass es sich um Gomars Überreste handelt," pflichtete Legolas ihm bei und streifte das Skelett mit einem Blick voller Abscheu. „Du kannst von nun an also wieder beruhigt schlafen. Wie ich sagte: Es ist vorbei!!"

„Ja, wie du sagtest..." Die Stimme Aragorns klang nachdenklich, als er seine Augen über die sterblichen Überreste gleiten ließ. Dann stutzte er. „Wo ist sein Kopf?"

„Das weiß ich nicht." Legolas trat an dem jungen Mann vorbei an den Rand des Sees, ging am Ufer in die Hocke und sah zu der Stelle, an der sich der Tunnel befand.

Gedankenverloren tauchte er seine verletzte Hand ins Wasser. Zunächst geschah nichts. Nichts Sichtbares jedenfalls, doch die grünen Schleier erschienen schlagartig wieder vor seinen Augen und seine Sinne waren plötzlich schärfer als jemals zuvor. So hörte er auch Aragorn neben sich treten, doch die für normale Ohren kaum vernehmbaren Schritte klangen für ihn wie das dumpfe Dröhnen von Trommeln. Neuer Kopfschmerz begann hinter Legolas' Stirn zu pochen, doch er biss die Zähne zusammen und sah Aragorn an.

„Er ist wahrscheinlich noch dort unten. Warum ist das für dich wichtig? Reicht es nicht, dass du nun endlich deine Antwort gefunden hast?"

„Doch, schon..."

„Aber?" Legolas' unglaublich dunkel wirkende Augen sahen undeutbar zu ihm empor.

„Ich überlege, ob ich noch mal dort hinunter tauche und nach dem Kopf suche..."

Aragorn hatte seinen Gedankenflüssen nur Worte verleihen wollen und im Grunde nicht ernsthaft daran gedacht, es wirklich zu tun, doch auf die nun folgende Reaktion war er nicht im Geringsten gefasst.

Wie ein vom Bogen schnellender Pfeil schoss Legolas zu ihm empor und blieb erst stehen, als sie nur noch Zentimeter voneinander trennten. Die blauen Augen des Elben hatten einen unerwartet harten Ausdruck.

„Du wirst dich nicht länger wie ein Kind aufführen und tun, was dir gerade in den Sinn kommt! Das wird aufhören – ein für alle Mal! Ich trage dafür Sorge, dass du dich zukünftig überlegter verhältst! Wenn du auch nur einen Fuß in dieses Wasser setzt, schlage ich dich so nieder, dass du erst morgen früh wieder erwachst. Das schwöre ich bei den Valar! Zwing' mich nicht, den Schwur zu halten, Aragorn, denn ich werde es tun, ohne zu zögern!"

Die Worte des Elben zeigten eine unerwartete Wirkung.

Aragorn wollte aufbrausen, Legolas ein weiteres Mal in seine Schranken weisen, doch stattdessen spürte er plötzlich Unbehagen in sich wachsen. Unvermittelt fühlte er sich wieder wie ein Zehnjähriger, der voller Furcht der Strafe für ein Vergehen entgegensah. Dieses Gefühl hielt zwar nur einige Momente an, ehe er seine gewohnte Selbstsicherheit wiederfand, doch Reste davon blieben, und so klang die Stimme des Menschen hörbar unsicher, als er endlich einen Schritt vom See zurückwich.

„Du... du musst wirklich den Verstand verloren haben, wenn du glaubst, dass ich mich von dir so behandeln lasse. Kehre nach Düsterwald zurück, zu deinesgleichen, und lass mich in Ruhe! Ich bin mein eigener Herr und treffe Entscheidungen, ohne dich um Erlaubnis zu fragen. Jetzt und in Zukunft. Also geh mir aus dem Weg!"

Er hatte sich, seinen Worten zum Trotz, nicht einen Millimeter in Richtung des Sees bewegt – und der Elbenprinz bemerkte das sofort.

„Fortgehen? Jetzt? Und zulassen, dass Lord Elrond durch deine Unvernunft weiteren Kummer erfährt, weil du unbedingt doch noch in diesem See ertrinken musstest?" Mit einem abschätzigen Lächeln trat der Elb näher an den Waldläufer heran, der es nur unter Mühen schaffte, nicht erneut zurückzuweichen. „Oh nein, mein Lieber! Ich denke ja gar nicht daran, das zu gestatten. Ich kehre erst in mein Reich zurück, wenn ich sicher sein kann, dass du dich so verhältst, wie man es von dir erwarten kann!"

„Wer bist du, dass du meinst, es stünde dir zu...?" begann Aragorn, doch Legolas schnitt ihm kurzerhand das Wort ab.

„Ich bin dein Freund und darum verpflichtet, dich zu beschützen. Notfalls auch vor dir selbst. Und genau das werde ich von nun an tun!"

„Mein Freund? Wieso benimmst du dich dann, als sei ich dein Untertan?"

Beider Stimmen waren lauter geworden, bis sie sich schließlich so laut angeschrieen hatten, dass es von den Wänden der Grotte widerhallte. Auch Legolas' innere Stimme schrillte inzwischen so laut, dass sie zusammen mit Aragorns und seinem eigenen Gebrüll eine unerträgliche Kakophonie ergab. Der daraus resultierende Schmerz drohte ihm den Kopf beinahe platzen zu lassen.

Er rieb sich die Augen, doch der Schmerz blieb ebenso wie die grünen Schleier vor seinen Augen, die jeden Blick zur Qual machten. Gleichzeitig waren seine viel zu empfindlich gewordenen Sinne immer schwerer zu ertragen, und so verstärkte sich seine schlechte Stimmung noch.

Am liebsten hätte Legolas dem Menschen den Mund ganz verboten, denn inzwischen regte ihn fast jedes Wort des Waldläufers auf. Doch Aragorn würde ihm den Gefallen, zu schweigen, sicher nicht tun.

Fühlt sich Vater auch jedes Mal so elend, wenn er mich disziplinieren muss?

Der Gedanke erschien Legolas immer wahrscheinlicher, und plötzlich empfand er Verständnis für die Entscheidungen, die König Thranduil stets als Konsequenz einer solchen Vater-Sohn-Unterhaltung getroffen hatte.

Wenn Vater es schafft, sich meinem Starrsinn gegenüber so nachsichtig zu zeigen, schaffe ich dies auch bei Aragorn, befand der Prinz, nahm alle Vernunft, die sein schmerzender Kopf noch aufbringen konnte, zusammen und sah dann an dem Waldläufer vorbei zum Skelett hinüber.

„Dieser Streit führt zu nichts, Aragorn. Wir werden den Leichnam begraben und diese Höhle dann verlassen. Später unterhalten wir uns weiter!"

Der Waldläufer glaubte sich verhört zu haben. Legolas gebärdete sich, als betrachte er den jungen Mann als seinen Untergebenen. Der Elb wollte gerade an ihm vorbeigehen, als Aragorn ihn am Arm festhielt.

„Ich bin dir zutiefst dankbar, dass du mein Leben gerettet hast. Das bin ich wirklich. Doch ich werde nicht dulden, dass du deswegen nun über mich bestimmst!"

„Estel!" Legolas klang, als ermahne er ein besonders begriffsstutziges Kind. „Lass uns das bitte später klären. In Moment braucht dieser Tote ein Grab."

„Dieser Tote..." fiel der Mensch ihm ins Wort. „...ist Gomar, wenn ich dich erinnern darf. Der Gomar, der Rivar auf dem Gewissen hat. Der Gomar, der so viele Krieger meines Vaters ermordete, nur um an mich heranzukommen. Elben wie dich, Legolas. Der Gomar..."

„...der dich beinahe getötet hat. Das ich weiß alles!" vollendete Legolas den angefangenen Satz, doch er klang, als könne er dieses Thema nicht mehr ertragen. „Es liegt mir fern, auch nur etwas davon gutzuheißen. Hat er nicht dennoch ein anständiges Begräbnis verdient?"

„Wenn er etwas verdient hat, dann das, was er all seinen Opfern antat, was er meinem Vater antun ließ..."

Er zögerte kurz.

„...und was er mir antat. Was er jedoch nicht verdient hat, ist das Begräbnis, das man anständigen Personen ausrichtet. Ich werde mir nicht vorschreiben lassen, was ich für ihn zu tun habe! Nicht von einem Unbeteiligten wie dir!"

Aragorn wusste, dass die letzten Worte aus seinem Ärger geboren waren, doch so sehr er sie auch sofort bedauerte: er konnte sie nicht mehr zurücknehmen. Sie waren gesagt und standen nun im Raum. Legolas' steinerne Miene ließ das deutlich erkennen.

„Ich mag in deinen Augen vielleicht ein Unbeteiligter sein..." begann der Elb.

„Legolas, es tut mir leid..." wollte Aragorn sich entschuldigen.

Dieser ließ ihn gar nicht weiter zu Wort kommen, sondern fuhr ungerührt, den Freund gar nicht beachtend, fort.

„...obgleich mir meine Erinnerung eine andere Geschichte erzählt. Vielleicht bin ich auch etwas zu hart zu dir gewesen, als ich entgegen besseren Wissens versuchte, dir die Bedeutung des Wortes Verantwortung zu zeigen. Mir hätte klar sein müssen, das auch ich nicht schaffen würde, was schon Lord Elrond offenkundig nicht vermochte. Eines jedoch, Estel, bin ich nicht, und werde es auch nie sein: Ein Monster wie du. Wie ihr Menschen!"

Plötzlich schien die Luft zwischen ihnen förmlich zu Eis zu werden. Die zwei starrten sich an, doch in beider Augen war keine Spur von jener Sympathie zu entdecken, die sie noch vor gar nicht allzu langer Zeit füreinander hätte sterben lassen. Da war nur noch Fremdheit – und etwas anderes, das die blauen Augen des Elben mit einem wortlosen Abscheu zu füllen begann.

„Ich habe denjenigen meines Volkes nie glauben wollen, die darauf beharrten, dass Menschen Monster seien; nicht fähig, so zu empfinden, wie denkende Wesen wie Elben es vermögen." Jedes von Legolas' Worten war schneidend wie eine Messerklinge. „Jetzt jedoch sehe ich, wie recht sie hatten! Menschen sind die Freundschaft eines Elben wirklich nicht wert!"

Mit einem wütenden Aufschrei warf Aragorn sich dem Elb entgegen. Sekunden später lagen die zwei bereits auf dem Boden. Ineinander verknäuelt rollten sie hin und her, ohne wirklich einen Schlag bei dem anderen anbringen zu können.

Das änderte sich jedoch schnell, denn gegen die überlegene Kraft und Beweglichkeit eines Elben hatte Aragorn keine Chance. Innerhalb der nächsten halben Minute traf Legolas' Faust mehrmals das Gesicht des Menschen, ohne dass dieser einen Gegentreffer hätte landen können.

Aragorns Unterlippe blutete bereits heftig und der Waldläufer war sich nicht sicher, ob nicht auch der eine oder andere Schneidezahn etwas abbekommen hatte, als das durch seinen Körper jagende Adrenalin sein Denken endlich wieder klar werden ließ. Sie, die bis vor kurzem noch die besten Freunde waren, lagen nun hier und prügelten sich wie erbitterte Feinde! Schlagartig wurde ihm die völlige Absurdität ihres Verhaltens bewusst.

„Legolas, hör mir zu! Legolas! Legolas..."

Er stellte seine Angriffsversuche ein und versuchte den Elben allein durch seine Stimme zum Einhalten zu bewegen. Zunächst war ihm jedoch mäßiger Erfolg beschieden. Der Waldläufer steckte noch zwei Kinnhaken ein, ehe er endlich zu Legolas' Bewusstsein durchdrang. Dieser erstarrte mitten in der Bewegung und sah misstrauisch zu ihm hinab.

„Was willst du noch?"

„Ich will, dass wir damit aufhören!" Ganz behutsam löste Aragorn seine Hände aus der Kleidung des Elben, dann sah er ihn intensiv an. „Sieh uns doch nur mal an. Wir prügeln uns wie Betrunkene, die ihren Verstand im Weinkrug aufgelöst haben."

„Du hast recht." Sehr zögerlich und sichtbar widerwillig ließ nun der Elbenprinz seinerseits den Menschen los.

Die zwei standen auf, dann sahen sie sich an. Sie spürten, dass eine solche Entfremdung innerhalb so kurzer Zeit nicht normal sein konnte, doch was hatte sie ausgelöst?

„Was ist nur los?" fasste Aragorn beider Gedanken in leise, verlegene Worte zusammen. „Woher kommt diese Wut in uns? Es gibt keinen Grund dafür. Ich fühle mich gleichzeitig schuldig und im Recht. Du bist mein Freund, ich verdanke dir mein Leben, doch in Moment stößt mich fast alles ab, was du sagst. Schon allein deswegen möchte ich genau das Gegenteil davon tun."

„Mir..." Legolas mied den Blick seines Freundes hartnäckig. „Mir geht es ähnlich. Etwas in mir weiß noch, dass wir Freunde waren, doch es fühlt sich jetzt so..." Er schluckte. „...falsch an."

...dass wir Freunde waren...

Die Worte trafen Aragorn. Sie schmerzten schlimmer, als es die Faustschläge des Elben getan hatten. Erneut wollte Ärger die Oberhand über das Handeln des Waldläufers übernehmen, doch mit aller Gewalt drängte er ihn zurück. Nicht noch einmal durften sie es zu einer Konfrontation kommen lassen – am allerwenigsten hier und jetzt!

„Komm!" Er wischte sich fahrig das Blut vom Mund, dann deutete er zum Ausgang. „Lass uns gehen und nie wieder herkommen. Je länger wir hier bleiben, desto weniger sind wir noch wir selbst! Ich fühle es, und ich weiß, dass auch du es spürst."

Ein Hauch von Widerstand streifte Legolas' Züge, doch nach einigem Zögern nickte er. „Gut. Lass uns erst noch den Toten bestatten."

Erneut wollte Aragorn protestieren, ihn fragen, was er davon hatte – und ließ es nach einem flüchtigen Blick auf den Elben sein. Selbst im dämmerigen Fackelschein konnte er erkennen, dass da etwas Neues in dessen Augen war, das er zuvor nicht erblickt hatte; etwas Lauerndes, Substanzloses, Gefährliches, das nur darauf zu warten schien, dass ein einziger falscher Moment es entfesselte. Doch genau davor warnte Aragorn eine noch nie zuvor gespürte instinktive Furcht, die stärker war als Trotz und Wut.

„Du hast mich überzeugt." Diese Lüge von sich zu geben, die darin geäußerte Feigheit, schien die einfachste Lösung zu sein, doch er begann seine Worte sofort zu bedauern, als er den Triumph in der Miene des Elben erkennen konnte.

Aragorn wusste nicht, wie viel Zeit er sich dadurch erkauft hatte, doch jetzt begriff er, dass diese Worte keine Lösung waren. Sie waren ein Fehler gewesen.

Der Elb schien das ebenso zu empfinden, denn er nickte, zufrieden über die Kapitulation des Menschen. „Komm! Wir suchen einen Platz, um das Skelett zu bestatten!"

-x-x-x-

Die Mittagsstunde war vorüber, als sie schweigend den letzten Felsbrocken auf die neben dem Höhleneingang angelegte Grabstelle platzierten, ihre Sachen vom Grottensee holten und dann die Höhle endgültig verließen.

Noch immer schien die Sonne, doch auch ihr goldener Schein vermochte die Gemüter der beiden nicht zu beruhigen. Sie vermieden zwar bewusst jede Unterhaltung, doch sehr schnell zeigte sich, dass sich im Grunde auch im Freien nichts änderte.

Inzwischen genügte ein falsches Wort, ja sogar ein falscher Blick, um einen der beiden Männer – meist Legolas – zu einem neuen Wutausbruch zu verleiten. Da Aragorn eine zweite Prügelei zu fürchten begann, hatte er sich bis zur Ankunft von Elrond und den Zwillingen einen anderen Lagerplatz im Felsenkessel gesucht, doch er spürte, dass ihn auch das auf Dauer nicht schützen würde.

Er wusste nicht, was er noch gegen die wachsende Feindschaft zwischen Legolas und sich unternehmen konnte, außer freiwillig fortzureiten. Ob das allerdings noch möglich sein würde, war mehr als fraglich. Der Elbenprinz ließ den Menschen kaum mehr einen Moment aus den Augen und beobachtete ihn wachsam, während er sich um seine verletzte Hand kümmerte, sein Messer ausgiebig putzte, etwas aß und vor allem immer länger werdende Züge aus seiner Wasserflasche nahm. Durst schien ihn zu plagen, der weit über das übliche Maß hinausging. So überraschte es Aragorn nicht, als die Flasche des Elben bald leer war.

Mein Wasser bekommt er nicht, dachte der Waldläufer trotzig, verschränkte aber in einem neuen Anfall plötzlicher Furcht die Arme vor der Brust.

Gleich darauf runzelte er kopfschüttelnd die Stirn. Noch nie hatte er vor Legolas Angst haben müssen. Warum war das jetzt anders? Wo kam sie her? Und warum wurde diese Angst immer stärker, statt nachzulassen? Legolas würde ihm nichts antun...

Noch nicht... warnte eine kleine Stimme, die aus seinen Gedanken zu kommen schien und alles nur noch schlimmer machte. Aber er wird kommen und sich das Wasser einfach nehmen, wenn er wieder Durst hat. Sieh doch, wie er dich anstarrt... Da, schon wieder! Weißt du noch, wie er dich vorhin geschlagen hat? Du hast keine Chance gegen ihn. Du weißt es und er weiß es! Nimm deine Sachen, steig auf das Pferd und verschwinde, solange du noch kannst.

Es war, als habe Legolas seine Gedanken gespürt, denn in eben diesem Moment erhob er sich, die leere Wasserflasche in den Händen drehend. Er sah einige Augenblicke lang sinnierend zu Aragorn hinüber, doch dann wandte er sich ab und ging zur Höhle.

Jetzt oder nie! Flieh, solange er fort ist.

Die Stimme in Aragorns Kopf kreischte jetzt fast hysterisch und er hätte sofort die Hände auf die Ohren gepresst, wenn er sie dadurch hätte aussperren können. Doch da er inzwischen wusste, dass das nichts bewirken würde, seufzte er nur tief, schlang die Arme um die angezogenen Knie und bettete dann die Stirn darauf. Nach genau fünf Sekunden löste er sich wieder aus dieser Haltung und stand auf.

So kurz die Zeit auch gewesen war: sie hatte genügt, um eine Erkenntnis in sein Herz zu pflanzen. Er hatte unerklärlich starke Angst vor Legolas' offener Feindseligkeit, zudem lag ihre Freundschaft in Scherben und bei der nächsten Gelegenheit würde es eine neue Prügelei geben, die er als Mensch nie gewinnen konnte.

Kurzum: die Sache war ihm längst aus den Händen geglitten. Es bedurfte einer weitaus größeren Macht, um alles noch einmal zum Guten zu wenden. Aragorn kannte nur einen, der die Kraft dazu besaß und bereits auf dem Weg zur Höhle war.

Elrond!

Aragorn wusste plötzlich, dass er seinem Vater und den Zwillingen entgegenreiten musste, und das so schnell wie möglich.

Falls sie noch in Bruchtal waren und er doch gezwungen sein würde, es zu betreten, würde er überaus vorsichtig zu Werke gehen. Nur wenige Wächter brauchten ihn zu sehen – und sein Elbenvater würde sicher dafür sorgen, dass die ihr Schweigen wahrten. Mit ein bisschen Glück würde es auch weiterhin ein Geheimnis bleiben, dass er noch lebte. Legolas hingegen war dann nicht mehr sein Problem, denn er würde längst aus der Reichweite des Elbenprinzen verschwunden sein.

Dieser Gedanke war fast noch beruhigender als der, seinen elbischen Vater wiederzusehen.

Er begann zu packen.

-x-x-x-

Ursprünglich hatte Legolas vor, in der Nähe nach einer Quelle oder einem kleinen Bach zu suchen, um seine leere Wasserflasche neu zu füllen, doch schon nach einem Schritt war ihm klar geworden, dass er sich gar nicht anzustrengen brauchte. Ganz in der Nähe gab es doch Wasser: den See!

Noch bis zum Morgen dieses Tages wäre ihm der Gedanke, daraus zu trinken, abstoßend erschienen, doch nun zog es ihn machtvoll dorthin zurück.

Überraschenderweise war es eine Erleichterung für Legolas, aus der grellen Helligkeit des Freien in den Schatten der Höhle zu wechseln.

So schnell er konnte, eilte er den Gang entlang und blieb erst stehen, als das grüne Schimmern des Gewässers seine aufgepeitschten Sinne traf, sie auf seltsame Weise beruhigte und neue Stärke in seine Adern fließen ließ.

Nur ein schwächlicher Mensch wie Aragorn schafft es, in diesem Geschenk der Valar beinahe zu ertrinken. Es ist ein Quell reiner Kraft, die etwas Besonderes aus seinem bemitleidenswertem Leben gemacht hätte. Doch er flieht vor ihr und zieht es vor, diese Gabe zu verschmähen.

Legolas schnaubte abfällig, während er sich an das Ufer kniete und zusah, wie die Flasche sich gluckernd füllte.

Er hat Angst! Ich kann es sehen, wann immer er mich ansieht... Wie ein Tier seinen Jäger!

Der Gedanke blieb in Legolas hängen, und je intensiver er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm dieses Bild. Wie es wohl aussah, wenn die Angst in dem Menschen schließlich zu groß wurde? Würde er vor ihm, Legolas, fliehen, so wie ein Tier vor seinem Feind floh?

Versunken hob er die inzwischen gefüllte Flasche an die Lippen und begann zu trinken. Schon mit dem ersten Schluck floss neue, nie zuvor gekannte Kraft in sein Wesen und löschte jede Erinnerung an die tiefe Zuneigung aus, die er bis vor kurzem noch für den jungen Menschen empfunden hatte. Als der Elbenprinz die Flasche schließlich wieder sinken ließ, war es, als hätte es ihre Freundschaft nie gegeben.

Legolas füllte die Flasche neuerlich, dann stand er auf. Er hatte er einen Entschluss gefasst.

Es wird Zeit für eine Jagd, wie ich nie zuvor eine hatte...

-x-x-x-

Auch nach Minuten war Legolas noch nirgendwo zu entdecken, also beeilte der junge Mann sich mit seltsam klopfendem Herzen, auch den Rest seiner Sachen zusammenzupacken. Er war gerade dabei, die Decke hinter den Sattel zu schnallen, als ihn eine – nur allzu vertraute – Stimme in seinem Rücken sichtbar zusammenfahren ließ.

„Hast du also doch endlich begriffen, dass dein Platz bei den Menschen und nicht unter uns Elben ist? Ich dachte schon, du wärst zu dumm, um das einzusehen."

Aragorn hasste sich dafür, doch er konnte nicht verhindern, dass die Anspannung auf seiner Miene noch zu sehen war, als der Elben ihn urplötzlich mit eisernem Griff an den Schultern packte und wie eine Spielzeugpuppe herumdrehte. Stumm sahen sie sich an, dann ertrug Aragorn den lauernden Ausdruck in den vormals so sanften blauen Augen des Elbenprinzen nicht mehr und sah fort.

Er war nicht schnell genug, denn das aufkommende geringschätzige Grinsen des Elben nahm er noch aus den Augenwinkeln wahr.

„Also doch: der tapfere Waldläufer hat Angst!"

„Lass mich in Ruhe meiner Wege ziehen, Legolas!"

Der Waldläufer wollte dessen Hände abschütteln, doch die lagen immer noch wie Eisenklammern um seine Schultern und gaben ihn nicht frei.

„Deiner Wege? Wo sollen die dich denn hinführen, Estel? In den Wald zu deinesgleichen, den Tieren?"

„Was..." Aragorn schluckte. Etwas lag in der Luft. Er konnte es spüren. Es war etwas sehr, sehr Bedrohliches. Und plötzlich war sie so stark wie nie zuvor, diese alles umfassende Furcht in seiner Kehle, die kein Wort hindurchließ.

Legolas schien das zu spüren, denn sein unheilvolles, stummes Lächeln vertiefte sich noch. „Nun?"

„Was geht dich das an?" versetzte Aragorn, die Beleidigung mühevoll ignorierend.

„Eine Menge. Immerhin möchte ich Lord Elrond und seinen Söhnen ja ruhigen Gewissens versichern können, dass sie die Last endlich los sind, die du für sie in all den Jahren darstelltest."

Nun, da Legolas Aragorns Elbenfamilie mit in seine Bösartigkeit einbezog, erwachte auch noch ein letztes Mal jene Wut in dem Menschen, die von der Furcht in ihm beinahe zum Erlöschen gebracht worden war.

Mit dem kältesten Blick, den er aufbringen konnte, musterte Aragorn den ehemaligen Freund.

„Lass meine Familie da 'raus! Sie haben nichts mit unseren Schwierigkeiten zu tun..."

„Im Gegenteil: sie haben sogar sehr viel damit zu tun! Sag nur, du hast nicht gemerkt, dass sie dich lediglich aus Mitleid so lange bei sich behielten? Doch, doch! Du warst eine Belastung, Aragorn, ein Risiko, und keines der Leben wert, die für dich in Mandos' Hallen einzogen. Lord Elrond war nur zu gutherzig, um dir die Wahrheit zu sagen. Ich jedoch bin nicht so edel wie er und nehme ihm daher diese Pflicht gern a..."

In diesem Moment traf Aragorns Faust von unten her mitten in das makellose Antlitz des Elben. Sofort begann Blut aus Lippen und Nase zu tropfen, während der Kopf des Elben weit in den Nacken federte.

Der ganze Vorgang dauerte nur einen Augenblick, dann war alles wieder wie zuvor: Aragorn voller unbestimmter Panik und Legolas erfüllt von sichtbarer Bosheit. Lediglich der Klammergriff seiner Hände hatte kurz nachgelassen, doch nun pressten sie sich härter als vorher in die Schultern des Menschen. Aragorn meinte, dass seine Schlüsselbeine jeden Augenblick brechen würden, so unbarmherzig war Legolas' Griff.

„Oh, da hat jemand noch einen Rest Mut in sich gefunden!" Legolas dachte offenbar auch nicht daran, den Mann demnächst freizugeben. „Das muss man nutzen. Wie hatten wir doch vorhin noch festgestellt? Alle Menschen sind Monster. Du bist zwar auch ein Mensch, doch ich sagte ja schon, dass du auf mich mehr und mehr wie ein Tier wirkst. Tja, siehst du, und Tiere mit Mut sind nun wirklich selten zu finden. Die wenigsten wehren sich und sterben stattdessen voller Furcht, fliehend und winselnd. Winselst du auch oder würdest du dich wehren?"

Statt einer Antwort begann Aragorn nun verbissen gegen den Elben zu kämpfen. Er schlug, trat, wandte jeden Kniff an, den er in seinem Leben gelernt hatte, und versuchte verzweifelt – und vergeblich – an seine Waffe zu gelangen, doch es kam, wie es kommen musste.

Legolas ließ ihn immer wieder fast die Oberhand gewinnen, um ihn im letzten Augenblick doch noch zurückzudrängen. Bald schon hatte der Düsterwalder Prinz dieses Katz-und-Maus-Spiel allerdings satt. Mit ein paar raschen Griffen brachte er Aragorn bäuchlings zu Fall, dann zog er die Arme des Menschen brutal auf den Rücken.

Der Waldläufer hatte in der Kürze der Zeit den Elben zuvor nicht genauer in Augenschein nehmen können, doch als er spürte, wie Stricke seine Handgelenke zusammenschnürten, wurde ihm klar, dass dies kein neuer, zufälliger Ausbruch war. Dieser hier war beabsichtigt und gut geplant worden!

Gleich darauf drehte Legolas sein noch immer heftig zappelndes und um sich tretendes Opfer auf den Rücken, kniete sich absichtlich mit einem Bein schmerzhaft auf den Oberkörper Aragorns und sah mit dem Ausdruck erwartungsvoller Freude zu ihm herab.

„Du willst also kämpfen, um dein jämmerliches Leben zu retten? Sieh an! Das sollte ein Krieger, der etwas auf sich hält, ausnutzen."

Die Worte konnten nichts Gutes bedeuten. Was auch immer in Legolas' Verstand Einzug gehalten hatte: es war nicht natürlich und machte ihn von Stunde zu Stunde bösartiger.

Nur Orks wären zu noch größerer Grausamkeit fähig, dachte Aragorn fassungslos, nicht mehr willens, geschweige denn in der Lage, das ungewöhnliche Verhalten des Elben genau zu durchdenken. Inzwischen war er selbst bereits viel zu stark von einer für ihn eigentlich uncharakteristischen Panik durchdrungen und das Herz des Mannes klopfte jetzt so heftig, dass der Elb das Vibrieren deutlich unter seinen Fingerspitzen fühlen konnte.

„Du bist krank," spie er Legolas schließlich hilflos entgegen.

Der verzog sein unschuldig anmutendes Gesicht zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. Dann beugte er sich so tief zu Aragorn hinab, dass diesen die Spitzen des einstmals leuchtend hellen, nun eigenartig strohig und stumpf wirkenden Haares streiften.

„Und das sagt jemand, der dem Tod entgegensieht!"

Legolas lachte laut. Es war ein furchterregender, fremdartig gurgelnder Laut.

„Du amüsierst mich. Darum – und weil ich dir noch mein Leben schulde – werde ich dir einen Handel vorschlagen. Geh darauf ein, nutze die Chance, die ich dir biete, und lebe vielleicht weiter oder stirb hier und jetzt. Also?"

Die Teile von Aragorns Verstand, die noch kein Opfer dieser immer größer werdenden Panik waren, arbeiteten fieberhaft. Was auch immer der Elb im Sinn hatte: er musste sich stellen, kämpfen und – mit dem Wohlwollen der Valar – bis nach Bruchtal gelangen, um Hilfe zu holen. Flehen und an das Gute appellieren war sinnlos. Da war nichts mehr in dem Elben, der solchen Worten zuhören würde.

So sehr etwas in ihm Legolas inzwischen auch hasste: vor nicht allzu langer Zeit waren sie noch Freunde gewesen. Davon war zwar nichts mehr geblieben und es würde auch nie wieder so sein, doch er wollte den vormals loyalen Freund auch nicht komplett zu einer Bestie werden lassen.

Ich habe keine Wahl, dachte der Waldläufer und stellte schweren Herzens seine Gegenwehr ein. „Welchen Handel hast du mir vorzuschlagen?"

„Einen ganz einfachen, damit ihn auch dein beschränktes Denken erfassen kann. Du musst mir nur eine ganze Nacht lang, von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang, entkommen. Schaffst du das, bist du frei und kannst gehen, wohin du willst. Fange ich dich jedoch wieder ein, gehört dein Leben mir und ich kann damit tun, was ich will. Damit es eine gute und spannende Jagd wird – und um deine menschlichen Nachteile auszugleichen – lasse ich dich frei, sobald wir uns einig geworden sind und warte bis zum Sonnenuntergang, ehe ich dir folge. Was sagst du?"

Aragorn antwortete zunächst nicht und hielt auch seine Miene so neutral wie möglich, während er angestrengt nachdachte.

Bis zum Sonnenuntergang dauerte es wenigstens noch eine Stunde, und eine ganze Nacht Zeit war eine ungeheure Chance, Bruchtal zu erreichen. Die Zwillinge und Glorfindel hatten ihm alles beigebracht, was sie wussten. Aragorn war sicher, mindestens ebenso gut im Spurenverwischen zu sein wie Legolas als Spurenleser. Dennoch blieb ein Gedanke.

Was, wenn ich es nicht schaffe? Was macht er mit mir, wenn er mich einholt?

Als er darüber nachdachte, gesellte sich ein weiterer dicker Knoten zu den bereits in seinem Magen vorhandenen. Aragorn schob die wahrscheinliche Antwort weit von sich. Dazu musste der Elb ihn erst mal haben. Wenn der Waldläufer eines kannte, dann war es die Umgebung Bruchtals. Dank der unzähligen Ausflüge mit den Zwillingen wusste er viele Verstecke, die der ortsunkundigere Legolas nicht kennen konnte.

„Bekomme ich eine Waffe zu meiner Verteidigung?"

„Nein."

Der Mann fühlte, wie der Elb, der noch immer über ihm kniete, ihn innerhalb kürzester Zeit jeder Waffe, auch eines verborgenen Dolches, entledigte. „Und um es spannend zu machen, werde auch ich keine benutzen. Du siehst, ich lasse dir eine wirkliche Chance. Bist du einverstanden?"

Ganz langsam, um den aufkeimenden Funken Hoffnung in sich zu verbergen, nickte er. „Da du mir sonst keine Wahl lässt... Ja."

„Gut!" Legolas richtete sich auf, griff an seinen Gürtel und zog die Wasserflasche hervor. „Dann wollen wir unsere Abmachung besiegeln. Wein haben wir zwar nicht, aber das Wasser des Sees tut es sicher auch."

„WAS soll ich?" Die Aussicht, von dem Wasser auch noch trinken zu sollen, in dem er beinahe ertrunken wäre, ließ Aragorn bis ins Mark erschauern. „Nein, niemals! Trink du, wenn du musst, aber lass mich mit dieser ... dieser Brühe zufrieden."

Er wollte den Kopf wegdrehen, doch Legolas hatte so etwas offenbar geahnt. Noch ehe Aragorn die Möglichkeit dazu bekam, wurde der Druck des Knies auf seiner Brust stärker, dann fühlte er sich am Kinn gepackt und festgehalten.

Bilder blitzten kurz auf. Gomar, der ihn fast ebenso festhielt...

„Nein...n-n-nei..." Er wehrte sich vergeblich dagegen, dass seine Kiefer auseinandergedrückt wurden.

„Doch! Das oder kein Handel! Und sieh mich an. Ich habe auch schon davon getrunken und lebe noch! Außerdem: so schlecht schmeckt es gar nicht..."

„N...n-n..." Im nächsten Moment ergoss sich Wasser in Aragorns Kehle. Mehr und immer mehr, bis er glaubte, ersticken zu müssen. Dann hörte es plötzlich auf.

Zwar war Aragorn durch das Tauchen im See bereits mit dessen Wasser in Kontakt gekommen, doch zu jenem Zeitpunkt war er viel zu sehr auf sein Vorhaben konzentriert gewesen, um auf jenen widerlichen Modergeschmack zu achten, der nun seinen Mund ausfüllte. Noch ehe er das Wasser wieder ausspeien konnte, wurden seine Kiefer wieder zusammengedrückt und so festgehalten. Eine Sekunde später verschloss die andere Hand des Elben ihm auch die Nase – und damit die letzte Möglichkeit, Luft zu holen. Nun musste er das Wasser schlucken, wollte er nicht ersticken.

„Gut, sehr gut." Fast schwarz waren die Augen des Elben nun, die sein Gesicht so aufmerksam beobachteten wie ein Raubvogel eine Maus zu seinen Füßen.

Der innere Kampf in Aragorn dauerte kaum eine Minute, dann gab er auf und schluckte die Flüssigkeit herunter. Ätzend rann sie die Kehle hinab und hinterließ einen fauligen Geschmack in seinem Mund.

Als Legolas sah, dass der Mensch seinem Zwang nachgegeben hatte, ließ er dessen Gesicht los.

„So... Und nun bin ich doch mal neugierig, ob geschieht, was ich ahne!"

Unverständnis flackerte über die Miene des Waldläufers, doch noch ehe er eine entsprechende Frage stellen konnte, spürte er eine Veränderung in sich.

Auch Legolas sah, wie Aragorns Angst eine neue Intensität erreichte; eine, zu der der Waldläufer sich nie für fähig gehalten hatte. So panisch war er nicht einmal in Gomars Gefangenschaft gewesen. Sein Herz hämmerte wie das eines Rehs, das auf der Flucht vor einem Wolfsrudel war und das Schnaufen der Verfolger schon hören konnte. Jedes logische Denken war nun außerhalb seiner Reichweite, denn Aragorns Universum bestand nur noch aus wenigen Dingen: aus Hass, Kopflosigkeit, dem Gedanken an Flucht ... doch vor allem aus Furcht. Tiefer instinktiver Furcht.

„Sehr gut." Legolas' Stimme klang seltsam rau, aber überaus zufrieden. Er nahm selbst einen langen Zug aus der Wasserflasche und beugte sich dann wieder sehr dicht zu Aragorn hinab, um ihn noch einmal genau zu betrachten.

Wäre Aragorn rein elbischer Herkunft gewesen, hätte er jetzt gesehen, dass aus der Sternenlichtessenz der Elbenseele langsam ein giftgrünes Strahlen zu werden begann. Doch die menschlichen Sinne des Waldläufers nahmen nur dessen äußere Erscheinung wahr.

Plötzlich hörte er Worte aus dem Mund seines früheren Freundes, die er nie mehr vergessen sollte.

„So etwas hatte ich fast erwartet. Dieses Wasser macht die stark, die das Leben verdient haben ... und es tötet Kreaturen wie dich, die des Lebens unwürdig sind."

Mit Entsetzen starrte Aragorn zu Legolas empor, der nach dem zuvor Aragorn abgenommenen Dolch griff, den Menschen dann grob auf die Seite drehte und die kalte Klinge zwischen die aneinandergeschnürten Handgelenke schob.

„Ich hätte Lust, dich gefesselt loszuschicken, doch das würde meinen Triumph nur schmälern. Also halte ich mein Wort."

Die Stricke fielen.

„Lauf. Lauf um dein armseliges bisschen Leben. Und verlier es..."

Aragorn erhob sich, dann rannte er, ohne zurückzusehen. Die Jagd hatte begonnen!

-x-x-x-

Zur gleichen Zeit, da Aragorn in kopfloser Hast durch die Wälder jagte, überschlugen sich auch in einer weit entfernten Stadt die Gedanken eines jungen Menschen.

Es waren die Clarys, denn sie hatte den Großteil des Tages damit zugebracht, vergebliche Fluchtpläne zu schmieden. Einer war immer verwegener und unausführbarer ausgefallen als der Vorhergehende, bis sie schließlich fest entschlossen war, sich bei Anbruch des nächsten Morgens lieber aus dem Fenster in den Tod zu stürzen, als freiwillig die Frau Cobiarhs zu werden.

Darüber verging der Nachmittag, und als sich die Sonne langsam hinter die Häuser schob und damit auch das Licht abnahm, begann aus der schrecklichen Aussicht langsam eine noch schrecklichere Gewissheit zu werden.

Das Wunder, auf das sie hoffte, gab es nur in den Märchen, die ihr die Amme als kleines Mädchen erzählt hatte, doch nie in Wirklichkeit. Es würde niemand kommen, um sie im letzten Moment vor dem schlimmen Schicksal, das „Gattin des Stadtamtmannes" hieß, zu retten – es sei denn, ihr fiel selbst doch noch irgendetwas ein. Dafür brauchte sie allerdings Ruhe für ihre Gedanken. Das hieß, sie musste in dieser Nacht allein bleiben!

Als der Abend kam, verkündete das Herumdrehen des Schlüssels in der Tür, dass die Amme mit dem Abendmahl nahte.

Clary wartete gar nicht erst, dass die alte Frau ins Zimmer trat. Sie fing sie bereits im Türrahmen ab, nahm das Tablett entgegen und schob sie dann wieder auf den Gang hinaus.

„Dies ist die letzte Nacht, die ich im Hause meines Vaters verbringe. Ich will von meinem bisherigen Leben Abschied nehmen und möchte darum allein sein, Amme. Also verlass mich!"

„Kind, bist du sicher? Ich bin für dich da."

„Dies ist der letzte Wunsch, den ich vor meiner Hochzeit habe, also gewähre ihn mir."

Die Amme zögerte. Sie liebte Clary wie eine leibliche Tochter und hätte ihr gern noch einmal Trost und Mut zugesprochen. Doch wenn es denn der Wunsch des Kindes war... Sie nickte, sichtbar enttäuscht.

„Wie du möchtest. Aber lass mich rufen, solltest du es dir doch noch anders überlegen. Jederzeit, hörst du? Du musst nur an deine Kammertür klopfen und es laut sagen. Der Knecht hier wird mich dann holen."

„Ich werde es beherzigen, liebe Amme!"

Clary betrachtete die alte Frau noch einmal intensiv. Was auch immer in dieser Nacht geschah – sie würde sie höchstwahrscheinlich nicht wieder sehen. Ein trauriges, aber aus tiefster Seele ruhiges Lächeln überzog ihr Gesicht.

„Dann auf eine gute Nacht, Amme."

„Dir auch, mein Kind. Träum' etwas Schönes. Ich komme mit dem Brautgewand zu dir, sobald der Morgen heraufdämmert."

„Gut."

Ohne ein weiteres Wort wandte Clary der Tür den Rücken zu. Erst als sie das nun schon vertraute Geräusch des Schlüssels wahrnahm, holte sie tief Luft und stellte das Tablett mit zitternden Händen aufs Bett. Von nun an lief ihre Zeit, doch mit knurrendem Magen war noch niemandem etwas Gescheites eingefallen.

Sie setzte sich und begann zu essen, doch selbst der köstliche kalte Braten konnte ihren Appetit nicht wecken. So knabberte sie lustlos an einem auf die Gabel gespießten Stück Fleisch, während sie mit der anderen Hand an ihrer Bettdecke herumzupfte. Im Geiste mit einem neuen, aussichtslosen Fluchtplan beschäftigt, drehte sie dabei an einem Faden, der sich aus einer Seitennaht gelöst hatte. Sie zog spielerisch an ihm und verfolgte desinteressiert, wie sich die Naht dadurch langsam auftrennte.

Es dauerte noch mehrere Minuten, bis die Erleuchtung sie endlich mit der Wucht eines Hammerschlags traf.

„Das ist es!"

Clary stand auf, stellte das Tablett auf den Boden, dann nahm sie das Bettzeug zur Hand und begann an den Nähten herumzuzerren.

Nach einer halben Stunde war sämtliches im Zimmer befindliches Bettzeug in Einzelteile zerlegt. Die größeren Stücke hatte das Mädchen dabei unter Zuhilfenahme des Bratenmessers noch einmal in schmalere Partien geteilt. Anschließend knotete sie Stück um Stück sorgfältig zusammen, bis so etwas wie ein improvisiertes Seil daraus geworden war. Die Länge war nicht eben spektakulär und die Knoten sahen nicht einmal auf den zweiten Blick vertrauenerweckend aus, doch für das von dem Gedanken an Flucht getriebene Mädchen war es das Versprechen der Freiheit.

Sie zog – eingedenk Miros Worten – die wärmsten Kleidungsstücke an, die sie hatte, nahm das solideste Paar Schuhe, wickelte sich zusätzlich ihr großes, wollenes Dreieckstuch um den Körper, das sie sonst nur im Winter als Schutz vor der Kälte trug, und zum Schluss knotete sie noch den wenigen Schmuck, den sie besaß, in einen Kleiderzipfel. Geld besaß sie keines, doch der Ring und die Kette aus Gold würden wohl im Notfall eine Weile als Bezahlung genügen.

Dann sah sie auf. Inzwischen war es gänzlich dunkel geworden.

Clary stellte fest, dass man vergessen hatte, ihr eine Kerze ins Zimmer zu reichen, doch sie ließ sich dadurch von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Spätestens bei Anbruch des Morgens würde die Amme sowieso kommen und ihre Flucht bemerken. Bis dahin musste sie nicht nur Miro gefunden haben, sondern mit ihm auch schon so weit wie möglich von dieser Stadt entfernt sein!

Sie öffnete das Fenster ihrer Kammer und sah hastig zu beiden Seiten des Gehsteigs entlang. Wie erwartet, war er zu dieser Abendstunde menschenleer.

Der Weg nach unten war weit, weiter als bei allen hoffnungslosen Blicken zuvor, doch nicht annähernd weit genug, um sie von ihrem Vorhaben noch einmal abbringen zu können.

„Jetzt muss ich es wagen. Ich bekomme keine weitere Chance!"

Sie begann das Lakenseil mit klopfendem Herzen am untersten Teil des Fensterkreuzes festzuknoten, dann ließ sie das andere Ende in die Tiefe fallen. Wie befürchtet reichte es nicht ganz bis zum Boden. Vom untersten Stück aus würde es noch einen mutigen Sprung erfordern, um frei zu sein, doch Clary war entschlossen, ihn zu wagen und zu schaffen!

Noch ein letztes Mal sah sie sich in dem Raum um, der ihre Kindheit und Jugend gesehen hatte und ihr wahres Zuhause gewesen war. Sie vermisste ihn bereits jetzt, doch über ein Besinnen war sie längst hinaus.

Mit einem raschen Gebet an alle ihr bekannten Götter setzte sie sich vorsichtig auf den Fensterrand, dann schwang sie – sich am Rahmen festkrallend – die Beine nacheinander nach draußen.

Ein flaues Gefühl unbändiger Furcht krampfte ihren Magen zusammen, als sie sah, WAS sie sich da vorgenommen hatte. So weit hatte der Weg von drinnen gar nicht ausgesehen! Zweifelnd an sich und ihren Kraftreserven, sah sie nochmals über die Schulter zurück. Ihr Blick fiel auf die Tür, an der sie in den letzten Tagen so oft vergeblich gerüttelt und gebettelt hatte.

Sie schüttelte den Kopf. Es ging nicht anders...

„Lebt wohl, Herr Vater," flüsterte sie – und erschrak, wie weh der Gedanke tat, auch ihn nie mehr sehen zu sollen. „Ich weiß, Ihr wollt das Beste, doch es ist Eures, nicht meines!"

Mit tiefen Durchatmen schlang sie den Stoff des Seils um ihre schmale Hand, nahm allen Mut zusammen – und stieß sich ab.

Entgegen ihren tiefsten Ängsten gelangen ihr die ersten Meter hinab ganz gut. Sie war bereits auf halber Strecke und wähnte sich fast schon in Sicherheit, als von irgendwoher plötzlich ihr Name erklang.

„Clary!"

Das Wort war nicht laut und auch nicht leise. Es war gerade so laut, dass sie es vernahm und sich zu Tode erschrecken konnte.

Die fehlende Kerze... fiel ihr siedend heiß ein. Hatte man sie ihr bringen wollen und dadurch ihre Flucht entdeckt?

„Clary, hier..."

Noch einmal hörte sie den Ruf, doch sie war viel zu hektisch, als dass ihr auffallen konnte, zu wem die Stimme des Rufers gehörte.

Weg... Ich muss fort sein, ehe die Knechte über den Innenhof gelaufen sind und unten aus dem Tor kommen... Sie dürfen mich nicht fangen...

Panik machte sich in ihr breit und ließ ihre Bewegungen fahriger und heftiger werden, was dazu führte, dass sich schließlich einer der geknüpften Knoten direkt vor ihren Augen öffnete. Sie ruckte nach unten. Hing dann wieder.

„Nein!!!" War das ihr Schrei gewesen? Der eines anderen?

Sie wusste es nicht, und es war auch zu spät, um darüber nachzudenken. Falls sie den Sturz überleben würde, war sie sicher so schwer verletzt, dass ohnehin nichts mehr aus der Hochzeit wurde.

Im nächsten Moment waren auch diese Gedanken fort, als sich die zwei Lakenstreifen endgültig voneinander gelöst hatten.

Clary fiel in die Tiefe...

...und fühlte sich für ganz kurze Zeit von jemandem aufgefangen, ehe sie mit diesem Jemand gemeinsam und sehr unsanft auf dem harten Gehsteig landete.

Ein unterdrückter Laut erklang, so als würde jemandem auf besonders schmerzhafte Art alle Luft aus den Lungen gepresst. Die Wucht des Aufpralls ließ Clary für einige Augenblicke reglos innehalten. Erst, als der Schmerz in ihrem Rücken endlich nachließ, registrierte sie, dass sie auf etwas Weichem gelandet war. Erschrocken rollte sie sich zur Seite.

„Endlich..."

Das Flüstern kam ihr trotz des gepressten Klangs wohltuend bekannt vor. Gleich darauf erkannte sie auch trotz der zweifelhaften Lichtverhältnisse in der Gasse die Gestalt, die sie aufgefangen hatte.

Maßlos erleichtert fiel sie dem jungen Mann um den Hals, der diese ungestüme Gefühlsbekundung nur schwach abwehrend konnte, da er viel zu sehr damit beschäftigt war, sich ganz langsam und vorsichtig aufzusetzen.

„Miro!!! Miro, ich bin ja so froh, dass du da bist! Ich dachte schon, ich müsste dich erst lange suchen. Was machst du denn hier..."

„Pssssst!! Leise, sonst wird man doch noch auf uns aufmerksam!"

Er schob sie sanft, aber nachdrücklich, von sich, dann stand er – etwas steif und ungelenk – auf und hielt ihr seine Hand hin. „Lass uns schnell von hier verschwinden. Ich erkläre dir später alles. Komm!"

Clary brauchte keine zweite Aufforderung.

Zusammen hasteten sie durch die abendlichen, dunklen Gassen der Stadt, drückten sich in die Schatten, wenn ihnen jemand entgegenkam, um anschließend ihren Weg eilends und in tiefstem Schweigen fortzusetzen.

Erst, als sie die Lagerhausbereiche betraten, verhielten die beiden jungen Leute schwer atmend ihre Schritte. Miro blieb stehen, drückte seine Begleiterin kurz an sich und küsste sie flüchtig, dann zog er sie in einen schmalen Gang, der zwischen zwei alten Lagerschuppen bis zur Stadtmauer führte. Nach ein paar Schritten, als er sich sicher war, dass selbst ein zufälliger Passant sie nicht sehen würde, hielt er wieder an.

„Hier sind wir für die nächsten Minuten in Sicherheit!" Er ließ seinen Blick hastig über die schmale Gestalt der jungen Frau gleiten. „Ist mit dir alles in Ordnung? Hast du dich beim Sturz verletzt?"

„Nein, nein... Mir ist nichts geschehen. Aber was ist mit dir? Habe ich dir sehr weh getan?"

Besorgt wollte sie ihn nach möglichen Verletzungen abtasten, doch Miro wehrte ihre Hände rasch ab. „Nein, mir geht's gut. Komm schon, wir haben keine Sekunde zu verlieren. Der nächste, der an eurem Haus vorbeigeht und das Laken an deinem Fenster sieht, wird Alarm schlagen. Dann wird man deine Flucht entdecken und die Stadttore abriegeln. Bis dahin müssen wir außerhalb dieser Mauern sein."

Die Aussicht, dass in letzter Minute doch noch alles vergeblich sein könnte, ließ Clarys Blut fast zu Eis erstarren. Ängstlich lauschte sie in die Stille der Nacht nach verräterischen Hornsignalen, doch es war Miros Stimme, die ihre Furcht durchdrang.

„Clary, komm schon, hilf mir. Da hinten habe ich etwas Proviant und Ausrüstung versteckt. Es ist nicht viel, aber alles, was ich in der Kürze der Zeit besorgen konnte. Für Pferde hat mein Geld leider nicht mehr gereicht, und zwei zu stehlen, hätte nur unnötig Aufmerksamkeit auf uns gelenkt. Wir werden also zu Fuß gehen müssen."

„Das macht nichts, solange wir nur von hier fort und zusammen sind!" Nun, nachdem sich die junge Frau von ihrer Überraschung erholt hatte, wirkte sie entschlossener als jemals zuvor.

Sie folgte Miro in einen sehr staubigen Winkel des Lagerhausbereiches. Dieser schien auf den ersten Blick nur alte Bretter, zerbrochene Kisten und uralte Lumpen zu beherbergen, doch als Miro den Unrat zur Seite räumte, kamen zwei sorgfältig verschnürte Bündel zum Vorschein.

Er reichte ihr eines und schlang sich dann das andere über die Schulter. „Das ist alles, was wir haben. Es sei denn, du hast noch etwas bei dir, was für uns von Nutzen sein könnte."

„Nur meinen Schmuck. Wir können ihn zu Geld machen. Mehr konnte ich nicht besorgen. Cobiarh hat mich von dir fortgehen sehen und meinem Vater damit meine Heirat abgepresst. Mein Vater hat mich deswegen sogar in mein Zimmer einschließen lassen." Sie schluckte bei dieser Erinnerung. „Ich dachte, ich würde dich nie mehr sehen!"

„Mir ging es genauso!"

Der junge Mann nahm seine Begleiterin an der Hand und zog sie hinter sich her durch ein unüberschaubares Labyrinth von Gassen und Gängen.

„Vor allem, nachdem ich erfuhr, dass du morgen früh vermählt werden solltest."

„Man spricht schon in der Stadt davon?" Unwillkürlich ließ sie Miros Hand los und blieb stehen. „Das bedeutet, dass wir niemals durch das Stadttor kommen werden!"

„Doch, das werden wir, denn noch wissen es nur Cobiarhs Spießgesellen und alle, die sich, so wie ich heute Abend zufällig, in der Stadtschenke aufhielten und seine Erzählung hörten! Der Dreckskerl gibt auch noch damit an, WIE er dich zu seiner Braut machen konnte. Er ist so damit beschäftigt, sich für seine Widerlichkeit beglückwünschen zu lassen, dass niemand auf mich achtete und ich darum auch zu deinem Haus kommen konnte."

„Gerade noch rechtzeitig..." Sie verstummte, als sie sich an das schreckliche Gefühl, frei zu fallen, entsann. „Danke, Miro!"

„Dank nicht mir, sondern Cobiarh. Der feiert nämlich mit allem, was sich für Geld kaufen lässt. Vor allem..." Er schnaubte, von der Erinnerung an das in der Schenke Erlebte abgestoßen. „...mit sehr viel Wein! Glaub' mir, die meisten sind viel zu betrunken, um sich in den nächsten Stunden auf einem Pferderücken halten zu können. Torwache haben die, die bei Cobiarh in Ungnade gefallen sind und demzufolge noch von nichts wissen dürften! Eine bessere Chance bekommen wir nicht mehr!"

Erneut zog Miro sie hinter sich her und diesmal passte Clary sich seinem Tempo gern an. Es sah wirklich alles danach aus, als sollte ihre Flucht unter einem guten Stern stehen.

Sie glaubte auch noch daran, als das nördliche Stadttor endlich in Sicht kam.

Nach einem letzten tiefen, beruhigenden Durchatmen traten die beiden jungen Menschen auf den offenen Platz vor dem Tor und gingen ohne sichtbares Zögern darauf zu. Zwei Schritte trennten sie noch von der vermeintlichen Freiheit des offenen Geländes, als aus der seitlich angebauten Wächternische eine missbilligende Stimme erklang.

„Die Sonne ging schon vor zwei Stunden unter und niemand weilt nach Einbruch der Dunkelheit freiwillig in den Wäldern. Also, warum wollt ihr noch so spät die Sicherheit der Stadt verlassen?"

Sie blieben wie auf Kommando stehen, wissend, dass jede Hast sie verdächtig machen würde. Es sah fast natürlich aus, als Miro dem Sprecher seinen Kopf zuwandte.

„Vor kurzem erreichte uns ein Bote mit der Nachricht, dass mein Vater sehr krank ist und vielleicht im Sterben liegt. Noch ehe die Morgensonne aufginge, könnte der Tod ihn schon ereilt haben. Ich bitte dich, Kamerad, lass meine Frau und mich in Frieden ziehen, damit wir bei dem Vater sein können und ihm, so es denn nicht anders geht, den Abschiedsgruß entbieten können!"

Der Wächter antwortete zunächst nicht, doch dafür trat er aus dem Schatten seines Wachhäuschen in den von schwachem Fackellicht etwas besser erhellten Torbogen. Er umrundete das jugendliche Paar einmal, dann blieb er vor ihnen stehen.

„Jung seid ihr. So jung, dass ihr fast noch Kinder sein könntet." Er maß vor allem Clary mit einem nachdenklichen Blick. „Du! Wie alt bist du?"

„Zwanzig," log die, ohne mit der Wimper zu zucken, und bemühte sich den forschenden Augen des Wachmannes nicht auszuweichen. Einer plötzlichen Eingebung folgend legte sie gleich darauf lächelnd eine Hand auf den Bauch. „Und wir sind immerhin alt genug, dass wir bald selbst ein Kind haben werden. Ich bitte Euch, lasst uns gehen, damit der Schwiegervater erfährt, dass er für seinen Enkel weiterleben muss."

„Ein Kind, soso..." Ein Grinsen, das man nur anzüglich nennen konnte, verzog das Gesicht des Wächters. Man sah deutlich, woran er dachte, als er den beiden schließlich den Weg freigab.

„Dann geht, aber nehmt euch in acht. Vieles ist in nächtlichen Wäldern, dem ihr besser nicht begegnet: Spukgestalten, Irrlichter in den Mooren, wilde Tiere... Sogar Elben leben nicht weit von hier. Ihnen ganz besonders geht aus dem Weg. Sie mögen keine Menschen. Obwohl..."

Erneut huschte sein Blick über Clarys Gestalt. „An dir würden selbst sie wohl Gefallen finden, Frau!"

Clary hörte, dass Miro tief Luft holte, um sich zur Ruhe zu zwingen, ehe er endlich ein gequältes Lächeln aufsetzte. „Spuk und wilder Tiere weiß ich mich wohl zu erwehren. Was nun die Elben angeht, so werden wir einen weiten Bogen um ihr Gebiet machen, indem wir uns auf der Handelsstraße halten, bis der Pfad zur Hütte des Vaters kommt. Aber habt Dank für Eure Sorge, Wachmann. Einen guten Abend Euch noch!"

Sie setzten sich in Bewegung und gingen ungehindert weiter. Mit jedem Schritt, der sie aus dieser Stadt herausführte, wurde Clarys Herz ein Stück leichter. Sie folgten, wie Miro es dem Wachtmann gesagt hatte, der Handelsstraße, die vom Tor weg nach Norden führte. Als sie schließlich mit der nächsten Biegung aus dem Blick des Wächters verschwunden waren, blieb Miro plötzlich stehen und starrte sie großäugig an.

„Ein Kind? Du ... wir ... bekommen ein Kind?"

Es dauerte einen Moment, bis Clary begriff. Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

„Nein, sei unbesorgt. Das war nur eine Ausrede, damit es glaubhafter klingt, warum wir mitten in der Nacht aufbrechen."

Der junge Mann sah sie einen Moment lang sehr nachdenklich an, dann nahm er Clary in seine Arme. Erstaunt registrierte die, dass er traurig aussah.

„Weißt du, es fühlte sich irgendwie gut an. Vater zu werden, meine ich. Auch, wenn ich nicht gewusst hätte, wie wir das schaffen sollen..." sagte er liebevoll und stellte fest, dass er sich nach dem ersten Schrecken tatsächlich auf eine eigene Familie zu freuen begonnen hatte.

Dann schob Miro die Enttäuschung fort und seine Miene wurde wieder ernst. Für ein Kind wäre dies ohnehin der denkbar ungünstigste Zeitpunkt. Insgeheim hatte er noch nicht einmal eine Ahnung, wohin sie sich überhaupt wenden sollten, doch davon erzählte er seiner Geliebten nichts. Kam Zeit, kam Rat. Ganz sicher auch für sie beide!

Clary spürte indessen eine noch tiefere Liebe für Miro in sich. Selbst im nur von Mondlicht erhellten Dunkel konnte man ihre Augen glitzern sehen, als sie ihn spontan küsste und dann überglücklich ansah. „Wir sind frei, vor uns liegt ein ganzes Leben. Mit vielen Kindern. Wir haben es geschafft! Das Schlimmste ist vorbei, also lass uns gehen."

Viele Kinder? Miro nickte, ohne es zu bemerken. Der Gedanke war schön; etwas, worauf man sich freuen konnte. Sie mussten nur erst irgendwo in Sicherheit sein und neu anfangen. Vielleicht hatte Clary ja recht? Vielleicht war das Schlimmste wirklich vorbei?

Miro nickte, wie um seine gedachten Fragen selbst zu bejahen, dann marschierten sie weiter, immer die nächtliche Straße entlang.

Ende Kapitel 3

yavanna unyarima: Deine Vermutung war nicht unbegründet, wie du in diesem Kapitel lesen konntest. Der Prolog bezog sich tatsächlich auf Melkors unterirdische Festung Utumno, die von den Valar begraben wurde, ohne dass sie zuvor nachgesehen hätten, WAS sich darin alles verbarg. Perfekt für jeden Autor, oder?

Elanor8: Meinen ehrlichen Dank für dein tolles Lob. Ich hoffe, es ist glaubhaft, welche Macht die Freundschaft zwischen unseren beiden Lieblingen erschüttern konnte. Die von Tolkien ohnehin nur vage beschriebenen Vorgänge in den ersten beiden Zeitaltern bieten so viel Spielraum für die Phantasie, und wenn dann noch der Gedanke hinzukommt, dass man seine Lieblinge eigentlich mal als Feinde sehen möchte, muss man nur noch den entsprechenden Anstoß finden. In diesem Fall entstammt die Idee zu diesem See einem „National Geographic"-Bild über mexikanische Cenoten und deren Giftigkeit. Schwupps war da dieser Gedanke...

Mystic Girl1: Hey, schön, mal wieder von dir zu hören. Dass dir der Anfang dieser Story besser liegt als der von „Schuld und Sühne" mag am Größenunterschied beider Werke liegen. SuS drohte zwar von Anfang an schon länger zu werden, doch mit den letztlichen Ausmaßen hatten nicht einmal wir gerechnet. Und das mit Aragorns nicht ganz so sauberem Äußeren in den Filmen wird durch die Ereignisse in dieser Story auch verständlich, glaub mir.