Schatten

Eine „Der Herr der Ringe" - Story

von

Salara Feinarbeit: ManuKu


Herzlich willkommen zu Kapitel 4, mit dem die Handlung also endlich bei den Vorgängen des Prologs ankommt. Sie wird sich von hier aus geradlinig weiterentwickeln ... bis zum nächsten Cliffie jedenfalls. Die Antworten auf die eingegangenen Reviews finden sich wieder am Schluss des Kapitels.

Und nun viel Spaß beim Lesen.

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Die Gegenwart

Kapitel 4: Flucht und Angst

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Inzwischen war es Nacht geworden. Überall zog Stille und Schlaf über die Lande...

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...doch Aragorn war weiter als jemals zuvor davon entfernt, Ruhe zu finden. Er holte seit Stunden die letzten Kraftreserven aus seinem Körper heraus. Seinem Jäger vermochte er dennoch nicht zu entgehen.

Die Jagd fand abrupt ein Ende, als er nach einem wiederholten Fall beim Aufstehen...

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... plötzlich spürte, wie seine Hände ihm unter dem Körper weggetreten wurden. Jemand drückte ihm ein Knie zwischen die Schulterblätter, riss seine Hände mit eisernen Griffen hinter seinen Rücken, kreuzte und fesselte sie dann dort. Gleich darauf wurde sein Nacken gepackt, sein Kopf zurück auf den Boden gedrückt.

Aragorn kannte dies alles schon. Es waren nur wenige Stunden vergangen, seitdem dieser Jemand ihn schon einmal misshandelt hatte. Diesem Jemand hätte er noch vor kurzem sein Leben anvertraut.

Legolas... Aragorn fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen.

„Du hast mir eine gute Jagd geliefert."

Legolas' Stimme hatte noch nie zuvor so verächtlich geklungen wie jetzt. Dieser Klang weckte neuerlichen Zorn in dem Menschen, doch er hatte kaum genug Luft zum Atmen, geschweige denn für jene Worte, die er seinem einstigen Freund am liebsten ins Gesicht geschleudert hätte.

Er wollte kämpfen, sich aus dem Griff befreien, der ihn mit dem Gesicht voran wie ein neugeborenes Wolfsjunges an den Boden presste, doch seine Gegenwehr fiel eher kläglich aus und wurde mit einem bösen Auflachen bedacht. Er wand sich unter dem stärker werdenden Druck und erntete einen nahezu betäubenden Schlag in die Rippen dafür.

„Ich hatte Recht, du bist ein Tier..."

Die Hand hielt seinen Nacken wie in einer eisernen Zwinge, presste sein Gesicht noch tiefer in den Waldboden. Erde, Laubstückchen und anderes drang mit jedem Atemzug in seine Kehle und füllte sie langsam aus.

„Jedes Tier wehrt sich, ehe es stirbt. Auch du, wie ich sehe. Nun denn, deine Zeit zum Sterben ist gekommen. Sag Lebwohl, Aragorn!"

Etwas traf seine Schläfe, ließ Sterne aufleuchten. Als sie verloschen, war da nichts mehr...

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Auch für Mirodas und Clary war die Aussicht auf Schlaf und Ausruhen in weite Ferne gerückt.

Fast zwei Stunden waren sie nun schon die befestigte Straße entlanggelaufen. Immer wieder hatten sie angstvoll über die Schulter zurückgesehen oder atemlos in die Nacht gelauscht, doch weder hatten sie Fackelschein noch das Geräusch einer sich nähernden Reiterschar bemerkt.

Trotzdem blieben sie unruhig. Sie wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis man die Flucht der jungen Frau bemerken und ihnen folgen würde, daher gönnte Miro seiner Begleiterin lediglich hin und wieder mal einige Minuten Rast am Wegesrand, ehe er sie wieder hochzog und sie ihren verzweifelten Marsch fortsetzten.

Unterwegs waren die beiden jungen Menschen schnell verstummt, denn besonders Clary, die eine solche Anstrengung nicht gewohnt war, begriff schnell, dass sie ihren Atem – und damit ihre Kräfte – für die Flucht aufheben musste. Das Schweigen hatte Miro die Gelegenheit gegeben, sich ihre Situation genau zu durchdenken.

Für ihn selbst war es kein Problem, eine Woche oder länger in den Wäldern zu bleiben und sich dort vor allen Menschen zu verbergen, bis man die Suche nach ihnen eingestellte hatte. Wenn das harte Leben in Ardaneh ihn eines gelehrt hatte, dann, wie man auch mit sehr Wenigem überlebte. Die Vorräte, die er in den letzten anderthalb Tagen erworben hatte, würden ihn eine Weile am Leben halten, wäre er allein.

Doch er war es nicht und die das bequeme Leben in der Stadt gewohnte Clary würde diesen Gewaltmarsch und die Entbehrungen ohnehin nur ein paar Tage durchhalten, ehe ihre Kräfte erschöpft waren.

Das ließ ihnen nicht viele Möglichkeiten. Besser gesagt, ließ es ihnen genau zwei.

Sie konnten entweder versuchen, auf dieser Straße die vier Tage weiter nördlich gelegene Nachbarstadt zu erreichen, um in der Masse der dort lebenden Menschen unterzutauchen, oder sie verließen den Handelsweg und bewegten sich quer durch die Wälder nach Nordwesten. Miro wusste, dass dort in etwas mehr als einem Tagesmarsch Entfernung jenes Tal lag, aus dem er vor fast genau einem Jahr in diese Stadt gekommen war.

Bruchtal.

Das war zwar Elbengebiet, doch je länger Miro darüber nachdachte, desto mehr war er geneigt, sich dorthin zu wenden. In Bruchtal würde man sie sicher nicht suchen, und abweisen würde man sie dort auch nicht. Immerhin hatte ihm der Herr des Tales vor seinem Aufbruch eine jederzeitige Rückkehr freigestellt.

Miro wusste, woher das großzügige Angebot des sonst so verschlossenen Elben rührte. Auch wenn Estel, Elronds menschlicher Sohn, vor einem Jahr gestorben war, blieb die Tatsache, dass Miro ihm zuvor einmal das Leben gerettet hatte. Er wusste genug über Elben, um sich darauf verlassen zu können, dass Elrond als Angehöriger dieses stolzen Volkes die Schuld seines Sohnes begleichen würde.

An diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt, blieb Miro abrupt stehen.

„Was ist los?" Clary sah ihn fragend an und die Besorgnis in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Es war so dunkel, dass der junge Mann ihr Gesicht nur erahnen konnte. Dennoch versuchte er sich keine Regung entgehen zu lassen. „Vertraust du mir?"

„Ich bin hier, oder?" Das Lächeln in der schwer atmenden Stimme der Frau war unüberhörbar.

„Dann wird es Zeit für uns, die Straße zu verlassen."

„Du willst mitten in der Nacht durch die Wälder laufen?" Die Vorstellung erschreckte Clary hörbar. „Wo willst du denn hin? Und was ist, wenn wir uns verirren?"

„Wir werden uns nicht verirren, denn ich weiß, wo wir Zuflucht finden. Dort sind wir vor Cobiarh und seinen Männern sicher und niemand wird dich zurückholen können."

„Und wo soll dieser märchenhafte Ort sein, mein Herr Mirodas?" Die Stimme Clarys ließ erkennen, wie stark ihr Zweifel an dem eben Gehörten war.

„Er liegt in dem schönsten Tal, das ich je gesehen habe. Es ist ein absolut sicherer Ort, beschützt von unsterblichen Kriegern und mächtiger Magie..."

Clary begriff schlagartig – und trotz der Dunkelheit sah Miro, dass sie blass wurde.

„Du willst zu den Elben? Miro, das kann nicht dein Ernst sein. Die Elben hassen uns Menschen. Sie werden uns töten..."

„Das sind Lügen," unterbrach er sie. „Elben sind noble Wesen, voller Weisheit, Güte und Schönheit. Sie hassen die Menschen nicht, sondern halten sich nur von deren Furcht fern, weil sie sie nicht ertragen. Die Elben töten niemanden, es sei denn, man läßt ihnen keine andere Wahl."

„Und woher willst du das so genau wissen?" Clary klang alles andere als überzeugt.

„Ich weiß das, weil..." Miro zögerte kurz. „...weil ich eine Zeitlang bei ihnen gelebt habe."

„Das kann ich einfach nicht fassen." Die junge Frau mochte ihren Ohren nicht trauen, doch da sie andererseits auch nicht viel von Miros Vergangenheit wusste, schreckte sie vor der Beschuldigung einer Lüge zurück. „Du hast wirklich bei ihnen gelebt?"

Der Mann nickte. „Das ist eine lange Geschichte, für die wir jetzt keine Zeit haben. Also, was sagst du? Vertraust du mir immer noch?"

Clary holte tief Luft. „Dir schon, aber den Elben nicht. Dich kennen sie. Mich nicht. Wer sagt mir denn, dass sie uns nicht fortjagen oder mich diesem Scheusal Cobiarh ausliefern werden, wenn er dort nach mir sucht?"

„Ich gebe dir mein Wort darauf, dass sie das nicht tun werden. Die Menschen dichten den Elben gern das an, wozu nur sie selbst fähig sind. Das, was in Hirnen von Leuten wie diesem Amtmann vorgeht, ist für Elben unvorstellbar. Glaub mir, der Fürst des Tales wird uns helfen und beschützen. Außerdem schuldet er mir noch etwas."

„Ein Fürst, der dir etwas schuldet?" Ein ungewohnter Tonfall ließ Clarys Stimme plötzlich eigentümlich klingen. Doch es war nicht Spott oder Misstrauen, das sie färbte. Erstaunen lag in den Worten – und das Begreifen, dass sie noch viel zu wenig voneinander wussten. „Auf diese Geschichte bin ich gespannt. Du musst sie mir erzählen, wenn wir dort sind!"

Miro, der sich auf viel mehr Widerstand eingestellt hatte, war überrascht, keinen zu finden. „Dann bist du einverstanden?"

„Wie könnte ich es nicht sein? Einen so geheimnisvollen Mann wie dich findet ein junges Mädchen nicht alle Tage. Außerdem hast du mich neugierig auf dieses Elbental gemacht. Ich frage mich nur, was du mir noch alles verschwiegen hast."

Vieles, dachte er, ohne ihr zu antworten. Für deine Liebe vielleicht zu vieles...

Er nahm sie bei der Hand, dann spähte er gen Nordwesten, ihre neue Richtung. So, wie bisher die feste Straße ihre Spuren verschluckt hatte, würde nun das Moos des Waldes sie verbergen. Die Chancen, es zu schaffen, standen gut.

„Dann lass uns gehen!"

Die beiden jungen Leute verließen die Straße und schlugen sich mit einigen Mühen und unter Zuhilfenahme des Dolches, den Miro seit dem Verlassen von Ardaneh als einzige Waffe noch immer bei sich trug, durch die an den Seiten wachsenden ausgedehnten Brombeerhecken in den Wald. Die Schwärze verhinderte, dass sie das Stückchen von Miros Umhang bemerkten, das dabei an einem der langen Dornen hängenblieb...

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Der späten Stunde entsprechend war es inzwischen in der Stadtschenke etwas ruhiger geworden, doch im hinteren Teil des großen Schankraumes ging es noch immer hoch her. Der Alkohol hatte die Stimmen der durchweg männlichen Zecher laut und unsicher werden lassen, doch das störte Gorad Cobiarh nicht, der hier mit seinen Leuten die in wenigen Stunden bevorstehende Vermählung mit Clary feierte.

Runde um Runde Wein hatte er bringen lassen. Die klebrigen Ränder auf den hölzernen Tischplatten zeugten davon, dass es schon viele gewesen waren, und jeder volle Weinkrug bewirkte, dass ihn die Leute aufs Neue hochleben ließen.

Cobiarh badete in dieser Anerkennung. Egal, ob es Waren, eine Frau oder Lobpreisungen waren; alles, was man kaufte, gehörte einem, und man durfte damit machen, was man wollte!

Gerade wollte er die schon sehr müde wirkende Schankmaid ein weiteres Mal heranwinken, als die Tür zum Raum aufgestoßen wurde. Überrascht sah er auf. Im Türrahmen stand einer seiner Männer.

Der atemlos aussehende Mann, der vor nicht einmal einer halben Stunde erst schwankend verschwunden war, um daheim seinen Rausch auszuschlafen, hielt suchend nach Cobiarh Ausschau und kam dann – nun gar nicht mehr schwankend – eilenden Schrittes zu ihm herüber.

„Entschuldigt, Herr, aber ich denke, Ihr wünscht zu erfahren, dass Eure Braut fort ist!"

Es dauerte eine Sekunde, bis dieser Satz das von Wein und Krach umnebelte Gehirn Cobiarhs erreichte, doch dann ernüchterte er den Amtmann schlagartig.

„HALTET DIE SCHNAUZEN!!!" brüllte er so laut, dass ihn sämtliche Anwesende erschrocken anstarrten. Ein letzter, verspäteter Lacher verebbte, dann herrschte Stille im Saal. Cobiarh kümmerte sich nicht darum, sondern starrte den Hauptmann der nördlichen Stadtwache drohend an.

„Wiederhol' das!"

Der Wächter hütete sich, den Spott, den er fühlte, auch in seinen Worten deutlich werden zu lassen, als er möglichst gleichmütig mit den Achseln zuckte. „Ich sagte, Eure Braut ist weg. Fort. Euch davongelaufen, Herr Amtmann!"

Dessen Betrunkenheit machte es erforderlich, dass er sich am Tisch festhalten musste, um aufstehen zu können. Das Ausmaß des konsumierten Weins sorgte auch dafür, dass er dabei alles in Reichweite Befindliche herunterfegte, doch er schenkte der am Boden zerschellenden Keramik nicht einmal einen Blick. „Woher weißt du das? Sprich doch, Mann!"

„Auf meinem Heimweg kam ich an Kaufmann Nigiaths Haus vorbei. Ich musste mal, also pisste ich an die Hauswand." Der Wachmann wirkte keineswegs verlegen ob seiner derben Wortwahl. „Und wie ich also so dabei bin und zum Himmel hochschaue, sehe ich da oben etwas wedeln. Ich hab' erst gar nicht verstanden, warum da ein Laken aus einem Fenster hängt, doch dann fiel mir wieder ein, welches Haus das ist. Na ja, und da wurde mir klar, dass da irgendetwas nicht stimmt. Also habe ich so lange geklopft, bis man mir öffnete..."

Cobiarh packte den Hauptmann am Kragen seiner Tunika und schüttelte ihn ungeduldig. „Komm' zur Sache!"

„Sie haben Eure Kleine offenbar in ihr Zimmer gesperrt, doch nun ist sie nirgends im Haus mehr zu finden. Sie ist wohl aus dem Fenster geklettert, als keiner es gemerkt hat! Und jetzt ist sie weg!"

Der Amtmann durchbohrte den Wachhauptmann finster mit seinen Blicken, dann ließ er ihn endlich wieder los. „Was ist bisher unternommen worden, um sie wieder einzufangen?"

„N-n-nichts! Ich dachte, ich komme erst..."

Dass das die falsche Antwort war, bewies dem Wachmann die Faust, die in diesem Augenblick sein Gesicht traf, einen unerträglichen Schmerz durch die Nase jagte und ihn rückwärts taumeln ließ.

„Du Idiot!"

Cobiarh funkelte wütend erst ihn, dann die gesamte Runde der anwesenden Männer an, die ihre Mienen mit meist zweifelhaftem Erfolg neutral zu halten versuchten, denn einigen stand ein boshaftes Grinsen unübersehbar im Gesicht.

„Ihr seid alles Idioten! Wieso sitzt ihr noch hier und tut nichts? Hoch mit euch! Macht, dass ihr raus kommt, ihr Trunkenbolde! Macht die Pferde bereit. In zwanzig Minuten habe ich zehn berittene und bewaffnete Männer zu meiner Verfügung, sonst könnt ihr etwas erleben! Alle! Dieses kleine Miststück wagt es, sich mir zu widersetzen! Das werde ich ihr austreiben, ehe sie meine Frau wird! Sie wird es bitter bereuen, ohne meine Erlaubnis auch nur einen Fuß aus der Stadt gesetzt zu haben!"

Während sich die erschrockenen Zecher eilends davonmachten, betrachtete der Wachhauptmann einen Moment lang seine blutbefleckte Hand, mit der er sich bis eben die schmerzende Nase gehalten hatte. Dann kam er offensichtlich zu der Entscheidung, dass es nun kaum noch schlimmer für ihn kommen konnte. Er trat trotzdem vorsichtshalber einen weiteren Schritt zurück, ehe er Cobiarh fragend ansah.

„Was veranlasst Euch, anzunehmen, dass sie die Stadt verlassen hat? Ich meine, hier gibt es viele Winkel, in denen man sich verstecken kann, wenn man es will."

„Nein."

Der Wein ließ das Gesicht des Stadtamtmanns aufgedunsen wirken, doch hinter der schwammig-betrunkenen Fassade arbeitete ein schlagartig ernüchterter Verstand bereits auf Hochtouren.

„Clary weiß, wie groß meine Macht hier ist und dass ich sie in jedem Haus suchen lassen würde, um sie zu finden. Es gelänge ihr nicht, sich lange vor meinen Suchtrupps zu verbergen. Nein, ihr Verstand wird ihr sagen, dass sie nur woanders Schutz findet. Also hat sie die Stadt mit Sicherheit bereits verlassen. Fragt sich nur, wohin sie will." Er sah den Hauptmann nachdenklich an. „Wohin könnte sie geflohen sein? Was denkst du?"

Der überlegte einige Momente.

„Wenn sie Verwandte hat, ist sie möglicherweise zu denen unterwegs. Sie könnte aber auch nach Süden oder Norden laufen. In beiden Richtungen befindet sich eine Stadt, in der sie sich vor Euch verstecken könnte. Zu der südlich gelegenen ist sie zu Fuß... hmm, sechs Tage unterwegs, während sie nach Norden nur etwa vier Tage brauchen wird. Im Osten liegt das Gebirge, im Westen ist auf lange Strecke nur Wald und Ödnis zu finden. Sonst gibt es nichts, wo sie hin könnte. Und zu den Elben wird sie bestimmt nicht gehen. Niemand ist so dumm, ausgerechnet dort Zuflucht zu erbitten. Nein, wenn ich an der Stelle Eurer Braut wäre, würde ich mich so schnell wie möglich irgendwo verstecken. Und wenn ich mich nicht der Gefahr ausliefern wollte, von Verwandten ausgeliefert zu werden, ginge ich zur nächsten Stadt, die ich erreichen kann. Aber was auch immer sie vorhat: sie kommt nur durch die Tore aus der Stadt heraus."

„Verwandte, Süden oder Norden also..." resümierte Cobiarh und rieb sich die Schläfen, hinter denen aus dem Weinrausch ein beachtlicher Kopfschmerz zu werden begann. Dann sah er den Wächter an. Er war zu einer Entscheidung gekommen.

„Geh. Lass die vier Tochwachen befragen. Eine von ihnen muss sie gesehen haben. Erstatte mir dann Bericht. Du findest mich zu Hause."

„Ja, Herr!"

Der Hauptmann verschwand so hastig, wie er gekommen war, während Gorad Cobiarh achtlos ein Säckchen Münzen als Bezahlung in das Durcheinander aus Krugscherben und verschüttetem Wein warf und ihm dann folgte.

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Eine Viertelstunde war vergangen, als die herbeibeorderte Reiterschar vor Cobiarhs Haus zum Stehen kam. Er hatte sie bereits erwartet und stieg auf das Pferd, das man für ihn mitgebracht hatte. Die Männer waren alles gut ausgebildete Leute, doch sie hatten sichtbar Mühe, die Folgen des genossenen Weins zu überwinden, denn sie hielten sich mehr oder weniger zufriedenstellend gerade im Sattel.

Cobiarh sah Schwerter an ihren Gürteln, Bögen und Köcher auf einigen Rücken und Schlafrollen auf allen Reittieren. Im Grunde konnte die Verfolgung beginnen, doch er zögerte, das Kommando dafür zu geben.

Sein Instinkt sprach für den Norden als Fluchtrichtung und wenn dem so war, dann hatte er sie bald eingeholt, wenn er sofort aufbrach. Falls er sich jedoch irrte und Clary eine andere Richtung gewählt hatte, kostete ihn das eventuell wertvolle Stunden, bis er seinen Irrtum bemerkte und korrigieren konnte. Stunden, die ihre Flucht vielleicht mit Erfolg krönten. Das zuzulassen war Cobiarh jedoch nicht gewillt. Also wartete er ungeduldig auf die Rückkehr des Wachhauptmanns.

Der kam zehn Minuten später zu Pferd angaloppiert.

„Nach Norden sind sie..." rief er atemlos, sobald das Pferd ihn dicht genug an Cobiarhs Schar herangebracht hatte. „Der Wächter am Nordtor hat sie gesehen."

„SIE???" Die Mehrzahl, in der der Mann geredet hatte, ließ Cobiarh aus allen Wolken fallen. „Was heißt ...sie...? Sprich schon!"

Der Wachhauptmann erkannte den gefährlichen Tonfall in der Stimme seines Herrn und brachte sein Pferd daher kurz außerhalb der Reichweite des Amtmannes zum Stehen. Das, was er noch erfahren hatte, ließ ihm diesen Abstand ohnehin sehr angeraten erscheinen.

„Der Torwächter hat vor etwa zwei Stunden ein junges Paar angehalten. Ein Mann und eine Frau, auf die die Beschreibung Eurer Braut zutrifft. Die beiden haben ihm erzählt, dass sie zum sterbenden Vater wollten, um bei ihm zu sein."

„Ein Paar? Sie ist nicht allein gewesen?" fauchte der Amtmann erbost. Er zweifelte keinen Augenblick lang daran, dass es sich nur um Clary handeln konnte. Der Hauptmann nickte unterdessen nur stumm, als er sah, dass Cobiarh vor Wut schäumte.

Clary hatte den mächtigsten Mann der Stadt noch vor der Ehe betrogen und ihm einen anderen vorgezogen. Wahrscheinlich irgendeinen dahergelaufenen Habenichts, der nichts darstellte und dessen einziges Kapital sein jugendlich kräftiger und mit Gewissheit schlanker Körper war, nahm der Hauptmann an. Nicht, dass er es der jungen Frau verdenken konnte. Jeder Mann war ansehnlicher als Cobiarh; vor allem, wenn es ums Bett einer hübschen Maid ging. Dennoch musste er diesem auch noch die letzte Information irgendwie beibringen. Er seufzte innerlich. Es hatte manchmal auch Nachteile, einen führenden Posten zu haben.

„Herr, da war noch etwas..."

Das Herumdrucksen des Wachtmannes ließ Cobiarh nicht Gutes ahnen. Was gab es, das er noch nicht wusste?

„Jaaaa???" knurrte er daher langgezogen und beugte sich so weit zu dem Hauptmann vor, wie es sein Gleichgewicht zuließ.

„Der Torwächter sagt... Nun, er meint, dass die zwei ihm gesagt haben, dass... Also, er sagt, dass die Frau ihm erzählt hat, dass sie ein Kind erwartet."

Hatte der Hauptmann nun ein Brüllen erwartet, das alle Schlafenden im Umkreis mehrerer Dutzend Meter wecken würde, so beunruhigte es ihn viel mehr, Cobiarh so ruhig bleiben zu sehen.

„Sie ist schwanger?" wiederholte der nämlich nur und starrte ihn an, als wüsste er mit dem Wort nichts anzufangen.

„Ja," bestätigte der Wachmann unbehaglich, während er sich noch weiter fort wünschte. „Das hat er mir bei allen Göttern geschworen."

Ich bringe sie um, wütete Cobiarh innerlich, ohne wahrzunehmen, dass seine Männer, die jedes Wort genau verstanden hatten, sich zusehends unwohler in seiner Nähe zu fühlen begannen. Nein, erst bringe ich diesen Dreckskerl um, der es gewagt hat, sie zu schwängern. Ich tue es vor ihren Augen. Clary soll sich an seinen Tod erinnern, wenn ich sie und diese faule Frucht in ihrem Leib töte. Und wenn ich wieder hier bin, nehme ich mir ihren Vater vor. Auch er wird es bitter büßen, dass seine Tochter mich so entehrt hat!

Sein Schnaufen sagte den Männern mehr als alle Worte. Sie kannten ihren Herrn gut genug, um zu wissen, was die Flüchtlinge erwartete, wenn sie erst eingefangen waren. Und tief in sich begannen sich einige von ihnen vor diesem Augenblick zu fürchten, denn dass es so kommen würde, stand für alle außer Frage!

„Also..." Cobiarhs Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Die Fährtenleser reiten voran. Entzündet dafür genügend Fackeln."

Er verstummte kurz, dann sah er den Wachhauptmann an. „Sind sie zu Pferd unterwegs?"

„Nein. Zu Fuß, sagt der Torwächter."

„Ihr habt es gehört. Sie laufen, während wir beritten sind. Damit dürfte klar sein, dass sie uns nicht entkommen können. Haltet trotzdem gut Ausschau. Vielleicht entschließen sie sich dazu, die Straße zu verlassen. In diesem Fall werden sie auch dort Spuren hinterlassen. Wahrscheinlich sogar mehr als auf der festen Straße. Derjenige, der mich als Erster zu den beiden führt, erhält von mir nach unserer Rückkehr eine ansehnliche Summe Geldes."

Er wandte sich erneut dem Hauptmann zu.

„Du hast die Stadtgewalt, bis ich wieder da bin. Das Haus des Kaufmanns Nigiath wird bewacht, damit nach der Tochter nicht auch der Vater verschwindet. Sollte Clary sich mir entziehen können, soll er es mir an ihrer Statt büßen. Verstanden?"

Der Hauptmann nickte.

„Dann los!"

Die Reiterschar setzte sich in Bewegung. Zehn Minuten später preschten sie durchs Nordtor in die Finsternis des Waldes hinaus.

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Aragorn wurde von einem in regelmäßigen Abständen stärker werdenden Druck auf seine Rippen aus der Bewusstlosigkeit gerissen. Etwas Unbequemes, Kantiges drückte sich immer wieder in seinen Brustkorb und nahm ihm den Atem. Außerdem hatte er entsetzliche Kopfschmerzen, das Gefühl, zumindest zum Teil in der Luft zu hängen, und fror erbärmlich.

Als er es schließlich schaffte, die Augen einen Spalt breit zu öffnen, empfing ihn zunächst die gleiche Dunkelheit, die auch hinter seinen geschlossenen Lidern geherrscht hatte. Erst nach mehrmaligem Blinzeln wurden vage Schemen erkennbar, die sich in einem verwirrenden Rhythmus durch sein eingeschränktes Sichtfeld bewegten: hinein ... hinaus ... dann wieder hinein...

Bis Aragorn begriff, dass seine Perspektive verdreht war und sich ihm alles halbwegs auf dem Kopf stehend darbot, dauerte es eine Weile. Plötzlich wusste er instinktiv, was er da sah.

Es waren über den Boden eilende Hufe, und er konnte sie nur deshalb sehen, weil er bäuchlings über dem Rücken eines Pferdes hing!

Ein Pferd? Wieso...?

Der hämmernde Schmerz hinter seinen Schläfen machte es dem Waldläufer fast unmöglich, die Vielzahl der durch sein Hirn schwirrenden Bilder in einen Zusammenhang zu bringen. Er wollte den Kopf heben, schaffte es aber nicht. Ebenso wenig konnte er verhindern, dass sein schmerzender Schädel sich im Takt des Galopps auf und ab bewegte. Zum Kopfschmerz drohte nun noch Übelkeit hinzuzukommen, doch dann kam mit einem Schlag die Erinnerung zurück und vertrieb sie. Jetzt ergab alles einen entsetzlichen Sinn.

Die Höhle. Mein missglückter Tauchversuch. Legolas...

Allein durch den Namen erwachte auch die eigentlich für Aragorn völlig untypische Panik zu neuem Leben. So wie schon am Nachmittag im Felskessel ergriff sie auch jetzt unaufhaltsam Besitz von seinem ganzem Wesen. Der eine kurze Moment, in dem der junge Mann hatte klar denken können, ging so schnell vorbei, wie er gekommen war. Was blieb, war der ihm nun schon bekannte innere Aufruhr, der den Menschen wiederum nur noch an eines denken ließ: an Flucht!

Getrieben von wachsendem Entsetzen wollte Aragorn sich aus seiner misslichen Lage befreien, doch schon nach den ersten Bewegungen stellte er fest, dass ihm in seiner derzeitigen Situation keine Flucht möglich sein würde.

Der Waldläufer war nach wie vor gefesselt. Zusätzlich schlangen sich Stricke unter seinen Achselhöhlen hindurch um den Körper herum, die dann zurück zum Sattelknauf führten und ihn so sicher auf dem Pferderücken hielten.

Vergeblich wand er sich hin und her. Nur minimale Bewegungen waren ihm möglich, und auch die veränderten seine unbequeme Haltung nicht. Er lag quer mit dem Oberkörper über den harten, verstärkten Vorderrand des Sattels, der sich mit jeder Bewegung des Reittieres in seinen Brustkorb und Bauch drückte.

Das hat mich also geweckt!

Er versuchte, ein winziges Stück seitwärts zu rutschen, um zumindest diese Qual zu verringern – und spürte, wie die um seinen Körper führenden Stricke mit einem harten Ruck noch fester angezogen wurden. Nun blieb ihm kaum noch genug Spielraum, um Luft zu holen, so eng saßen die Fesseln jetzt. Gleich darauf wurde das Pferd zum Stehen gebracht.

„Ich hatte mir schon gedacht, dass du so etwas versuchen würdest, sobald du wieder wach bist," ließ ihn eine schrecklich bekannte Stimme zusammenfahren. „Also traf ich Vorsorge, damit du mir nicht ganz aus Versehen plötzlich vom Pferd rutschst."

Die Stimme gehörte Legolas, doch nichts in ihr erinnerte mehr an die Güte und jahrtausendealte Weisheit, die einst in jedem seiner Worte gelegen hatten. Jetzt war ihr Klang hart, mitleidlos und so grausam, wie es auch die zuvor immer so sanften Augen des Elbenprinzen geworden waren. Als Aragorn sich an die Kaltblütigkeit entsann, mit der dieser ihn wie ein wildes Tier gnadenlos gejagt hatte, entrang sich unwillkürlich ein Stöhnen seiner trockenen, wunden Kehle.

Wie zur Antwort ertönte ein Lachen, fremdartig zwar in seiner Bösartigkeit, doch auch schmerzhaft an jene friedlichen Tagen erinnernd, die nach Aragorns Empfinden schon Äonen zurückzuliegen schienen.

„Du hast Durst, nicht wahr?"

„Ja..." Aragorn ärgerte sich darüber, wie zitternd sich seine Stimme anhörte, doch viel mehr verärgerte ihn, dass er es zugeben musste. Der Durst brannte ihm fast die Kehle weg und ein übler Geschmack nach Fäulnis und Moder, den er mehr als alles andere in der Welt tilgen wollte, lag auf seiner Zunge.

„Bitte... gib mir etwas zu trinken ...Wasser... bitte, Legolas..."

Er hasste sich dafür, auf diese Art um einen Schluck Wasser zu bitten, doch weder sein Stolz und auch nicht die unerklärliche Furcht konnten den Durst löschen, der ihn immer heftiger plagte. Also bettelte er.

„Nicht so ungeduldig!" Gleich darauf begann eine Hand seinen Kopf zu tätscheln, so wie man normalerweise einen ungeduldigen Hundewelpen beruhigte. „Jetzt, wo die Jagd vorbei ist, haben wir es beide fast geschafft."

Wieder ertönte dieses unbarmherzige Gelächter, und es ließ den jungen Mann schlucken. Eine böse Vorahnung begann sich seiner zu bemächtigen, die ihn den Durst momentan vergessen ließ.

„Was..."

Aragorn stockte, während seine Furcht sich weiter verstärkte – etwas, das eigentlich unmöglich geschienen hatte. Eine innere Stimme warnte ihn davor, auch nur an diese Frage zu denken, doch seine Verzweiflung ließ ihm keine Wahl. Er musste wissen, was ihn erwartete.

„Was hast du jetzt mit mir vor?"

„Ist das so schwer zu erraten?" Nachsichtiger Tadel lag in der Stimme des Elben. „Wir hatten immerhin einen einfachen Handel."

„Legolas, bitte... Du kannst mich doch nicht wirklich umbringen wollen? Lass uns doch in Ruhe noch einmal über alles reden..."

„Du willst mit einem Stärkeren vernünftig reden? Das kannst du doch gar nicht. Du kannst nur noch winseln wie ein Tier, das den Tod spürt." Geringschätzigkeit lag in den Worten des Elben, als er den Menschen plötzlich nachzuäffen begann. „...gib mir Wasser, Legolas... was hast du mit mir vor, Legolas... lass uns reden, Legolas..."

Es war, als habe man Aragorn geschlagen, als er seine verzweifelten Bitten so verzerrt aus dem Munde seines einstigen Freundes hörte. Seine allerschlimmsten Albträume hätten ihn nicht auf diese Entwicklung vorbereiten können. Es gab auch nichts mehr, dass sie rückgängig machen konnte: aus einstigen Freunden waren unversöhnliche Gegner geworden!

„Du..."

Er holte so tief Luft, wie es die Fesseln zuließen, legte alle Verachtung, die er noch unter den dicken Schichten seiner vom Höhlenwasser erzeugten Panik zusammenkratzen konnte, dann wandte er den Kopf zu Legolas zurück, soweit es seine Nackenmuskulatur erlaubte.

„Du Ungeheuer! Wie konnte ich nur je glauben, du seiest mein Freund? Kein Geschöpf Melkors kann schlimmer sein als du! Eine Bestie wie dich kann nur die dunkelsten Tiefen hervorbringen. Krieche in die Höhle zurück, aus der du kamst, und beschmutze das Antlitz Ardas nicht länger mit deinem Atem!"

Dass er mit seinen wütenden Worten überraschend einen Nerv bei dem Elben getroffen hatte, bewies ihm gleich darauf dessen Reaktion.

Legolas brachte abrupt sein Pferd zum Stehen, packte Aragorns Haare, an denen er dessen Kopf weit in den Nacken zog und beugte sich dann seitlich nach vorn.

Aragorn blickte in ein Antlitz, das an die Makellosigkeit einer Statue erinnerte. Legolas' helle Haare schimmerten wie fein gesponnene Seidenfäden und seine Haut wirkte beinahe marmorn. Der Prinz war dem Waldläufer nun so nahe, dass dieser das unglaublich tiefe Blau sehen konnte, in dem die Augen des Elben selbst im spärlichen Mondlicht noch leuchteten. Nie zuvor hatte Aragorn den Elbenprinzen in so unirdischer Anmut erblickt – und nie zuvor meinte er, unfassbarerer Grausamkeit begegnet zu sein.

„Jetzt weiß ich, dass es stimmt. Menschen sind Tiere, doch du bist nicht einmal das. Du bist eine schwache Kreatur, die nicht einmal die eigene Mutter wollte, weil du zum Leben nicht taugst und zum Sterben zu dumm bist. Schwache Tiere tötet man, damit die Starken leben können. Deine Mutter wollte kein schwaches Kind, aber da sie dich nicht zu töten vermochte, hat sie dich bei Lord Elrond abgegeben. Sie wollte dich nicht schützen, sondern sich deiner entledigen. Doch wo sie und er zu schwach waren, werde ich stark sein. Ich werde ihm diese Last von den Schultern nehmen."

Aragorns Herz hämmerte bis zum Hals, als die Worte des Elben langsam in seine Furcht einsickerten und zusammen mit ihr einen – wenn auch verdrehten – Sinn zu ergeben schienen. Er wollte protestieren, doch etwas schnürte ihm die Kehle zu.

Stimmten die gehässigen Worte von Legolas womöglich sogar?

Warum war Gilraen niemals nach Bruchtal gekommen, um ihn zu sehen? Sie hätte ihm ihren Namen doch nicht nennen müssen, aber wenigstens einen Blick auf ihren Sohn werfen können! Und warum hatte Elrond im letzten Jahr während der Südländerkrise so hartnäckig darauf bestanden, ihn nach Lórien zu schicken? Hatte er ihn dadurch wirklich nur schützen wollen? Oder war das Ausdruck seines Wunsches, ihn endlich loszuwerden?

Aragorn schluckte gegen die Furcht an, dass all dies die Wahrheit sein könnte. Das war es nicht. Niemals! Es durfte einfach nicht wahr sein, denn wenn es so war, würde niemand ihn verabschieden, ehe er nach Gondor...

An dieser Stelle kamen seine Gedanken zum Stehen, als ihm klar wurde, dass er nirgendwo mehr hingehen würde. Jetzt war er der Gefangene des Elbenprinzen, und was der mit ihm zu tun gedachte, wollte Aragorn sich gar nicht vorstellen. Nur eines wusste er bereits jetzt: er würde es früh genug erfahren müssen.

Legolas meinte an Aragorns Verhalten abzulesen, dass er den Widerstand des Menschen endlich gebrochen hatte. Zufrieden lächelnd ließ er den Waldläufer los und streichelte stattdessen erneut dessen nach unten hängenden Kopf, der durch Angst, Durst, das hineinströmende Blut und die emotionale Misshandlung schmerzte, als würde er jeden Augenblick abfallen.

„Endlich hast du begriffen. Da bleibt mir nur noch eines übrig: dich endgültig loszuwerden. Ich habe es so satt, mich mit dir und deinem Gejammer zu belasten."

Eigentlich wollte Aragorn das eben Gehörte nicht wahrhaben, doch schon einen Augenblick später musste er es. Der Mann hörte ein Geräusch, das er genau kannte: es war das Schaben einer stählernen Klinge, die aus ihrer Scheide gezogen wurde.

Es war eines von Legolas' Zwillingsmessern!

Und was weder Worte noch Beleidigungen vermocht hatten, brachte nun ein einziges, in der Regel todbringendes Geräusch zustande. Zum letzten Mal wurde Aragorns Kampfgeist geweckt.

„Ist es jetzt soweit?" fragte er verächtlich und sah, so gut er es vermochte, über die Schulter zu Legolas empor. „Bringst du mich endlich um? Das passt zu dir, denn du wagst es nur, weil ich gefesselt und hilflos bin, es Nacht ist, keiner dich sieht, und hier mitten im Wald auch niemand je erfahren wird, zu welcher Niedertracht du wirklich fähig bist."

„Du hast Angst vor dem Tod. Ganz, wie ich es von dir erwartet habe..." höhnte der Elb, doch Aragorn würdigte ihn nicht einmal einer Antwort. Statt dessen schnaubte nur abfällig.

Er konnte Legolas' Antlitz durch die nächtliche Dunkelheit und die Unzulänglichkeit seiner menschlichen Augen nicht mehr richtig sehen und war den Valar plötzlich dankbar dafür. Zumindest blieb ihm dieser eine letzte Schmerz erspart, denn er wusste, dass er den Blick in die Züge seines einstigen Freundes nicht mehr ertragen hätte. Erschöpft ließ er den Kopf wieder herabhängen.

„Also los: stich zu, bring' es hinter dich – und lebe für den Rest deines unsterblichen Lebens mit meinem Schatten! Ich schwöre bei allen Valar, dass dein Albtraum noch nicht einmal begonnen hat, Legolas! Er beginnt jetzt erst. Ich werde den Weg der menschlichen Seelen nicht gehen, sondern hier auf Arda bleiben, um dich zu verfolgen, wohin auch immer du gehst. Ich werde sein, wo du bist, sprechen, wenn du Ruhe suchst, und dich wach halten, wenn du dich nach Schlaf sehnst. Du kannst die Augen schließen, um meinen Geist aus deinem Blick zu verbannen, doch wenn du sie wieder öffnest, wirst du feststellen, dass ich noch immer da sein werde! Mein Hass wird dich bis ans Ende aller Zeitalter verfolgen und darüber hinaus! Dagegen kannst du nichts unternehmen, und du weißt das auch!"

„Worte... alles nur Gewimmer, das Geheul eines Hundes!" Der Elb wusste vor Zorn nichts anderes zu erwidern.

Aragorn konnte spüren, dass Legolas sich nun viel wütender und hilfloser fühlte, als dieser in seinem derzeitigen Zustand zu ertragen imstande war. Zwar war der Waldläufer sicher, dass ihn nichts von dem, was er gesagt oder getan hatte, noch retten würde, doch etwas in ihm war froh, es dem Elben vor dem Ende noch ins Gesicht geschleudert zu haben. Und er war noch nicht am Ende.

„Noch eines will ich dir sagen. Du bist Abschaum, deiner stolzen, edlen Rasse nicht wert. Du verdienst es nicht, zu ihnen gezählt zu werden, sondern bist sogar ein noch größerer Feigling als ein Ork, du..."

Weiter kam er nicht. Ein Aufschrei unterbrach Aragorn, in dem so viel Wut lag, dass es kalt seinen Rücken hinablief.

„Schweig! Schweig endlich! Halt den Mund..."

Ein Schlag traf seinen Hinterkopf. Zwar war er nicht stark genug, um Aragorn erneut in die Bewusstlosigkeit zurückzuschicken, doch er entfachte weiteren Schmerz zusätzlich zu dem schon Vorhandenen.

„Du sollst sterben, doch nicht durch meine Hand! Oh nein! Deine eigene Unzulänglichkeit wird dich töten. Es wird lange dauern und ich werde dafür sorgen, dass du es bis zum Schluß bei vollem Verstand erlebst. Bisher wollte ich dir um deiner Schwäche willen einen schnellen Tod schenken, doch darum hast du dich gerade selbst gebracht."

Ein weiterer Schlag traf seinen Schädel. Er war härter als der erste und sorgte dafür, dass sich der Verstand des Menschen erneut zu trüben begann. Aragorn stöhnte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Beiläufig spürte er, wie warmes Blut von der Wunde über die Kopfhaut bis zu seiner Stirn lief und von dort zu Boden tropfte.

Das Blut rauschte in den Ohren, der Kopf hämmerte und Adrenalin durchströmte seine Adern. Jeder Atemzug schien so schwer, als hätte sein Körper gerade wichtigeres zu tun, als zu atmen. Plötzlich, so wie die Sonne nach einem Gewitter unerwartet hinter den Wolken hervorleuchtet, verschwand diese unerklärliche Furcht, die ihn wie ein Parasit besetzt und dafür gesorgt hatte, dass er gleich einem waidwunden Reh durch den Wald gehetzt war.

Seit dem missglückten Tauchgang war Aragorns Handeln und Denken von ihr bestimmt worden, doch nun blieb von ihr nichts zurück als die bedrückende Erinnerung an einen Albtraum.

Ob vielleicht das Nahen seines sicheren Todes dafür verantwortlich war, wusste der Mensch nicht. Aragorn spürte nur voller Dankbarkeit, dass auch Schmerz, Kälte und Durst ihn nun gnädig verließen und er ganz ruhig wurde.

Für den Waldläufer war vorbei, was in der Höhle seinen Anfang genommen hatte, doch nicht so für den Elbenprinzen.

Das Böse, das Legolas umklammert hielt, gewann mit jeder verstreichenden Stunde weiter an Stärke. Etwas in Aragorn konnte das trotz seiner menschlichen Natur fast körperlich spüren, da der Elb in seiner unmittelbaren Nähe war. Mitleid regte sich in ihm, als er trotz seiner wachsenden Benommenheit ahnte, dass Legolas' Leidensweg erst noch beginnen würde.

„Legolas..." Aragorn kämpfte gegen den Schwindel, der ihn erfasste und seine Worte wie Papier durcheinander zu wirbeln drohte. „Noch kannst du zurück. Wir sind doch Freunde. Hör mir zu... du musst dich ... dagegen wehren..." Die Worte wurden zusehends schleppender.

„Das Einzige, gegen das ich mich wehren muss, ist dein ewiges Gebettel," unterbrach ihn der Elbenprinz in dieser Sekunde. „Immer bettelst du um irgendwas. Was war es vorhin noch gleich? Wasser, nicht war? Ich werde deinen Durst auf eine Art stillen, die sich dein Verstand nicht auszumalen vermag!"

Ein dritter Schlag – der Heftigste von allen – traf seine Schläfe. Erneut versank die Welt um den Waldläufer herum in Dunkelheit.

-x-x-x-

Zur gleichen Zeit erwachte der hinter dem Bruchtaler Schloss gelegene Hof zu einem für diese späte Stunde ungewohnten Leben. Drei in schlichte graue Umhänge gehüllte und wohlbewaffnete Gestalten kamen soeben die hintere Freitreppe hinab und griffen nach den Zügeln dreier Pferde, die ihnen von Bediensteten hingehalten wurden.

In einer einzigen fließenden Bewegung stiegen sie auf den Rücken der Reittiere, die sofort nervös zu tänzeln begannen, sich jedoch folgsam zurückhielten. Gleichzeitig trat ein hochgewachsener, goldhaariger Elb, bei dem es sich um Glorfindel handelte, an die drei Reiter heran und sah zu einem von ihnen empor.

„Ich werde mich um alle Belange des Tals kümmern, solange Ihr fort sind, mein Lord. Ihr habt mein Wort!"

„Ich weiß, mein Freund!" Elrond lächelte flüchtig. „Bei dir ist dieses Tal schon seit langem in den besten Händen, und das wäre es auch, sollte meinen Söhnen und mir jemals etwas zustoßen!"

Er sah, wie Glorfindel sich alarmiert versteifte, und hob die Hand, noch ehe dieser auch nur ein Wort äußern konnte.

„Du brauchst deine Fragen gar nicht erst zu stellen, denn ich kann dir die Antworten darauf auch so geben. Nein, meine Bemerkung war kein versteckter Hinweis auf neue Visionen, sondern ein weiterer, offenkundig misslungener Versuch, dir das Ausmaß meines Vertrauens deutlich zu machen. Ja, sowohl Elladan und Elrohir als auch ich haben genügend Waffen dabei, um uns möglicher Angreifer erwehren zu können. Doch das wird nicht der Fall sein, da keine der Patrouillen auch nur das kleinste Vorkommnis gemeldet hat und die Wölfe noch hoch oben in den Bergen sind. Ja, wir werden dennoch größte Vorsicht walten lassen. Und nein, ich weiß nicht, wann wir wieder hier sein werden. Habe ich etwas vergessen?"

Glorfindel sah aus den Augenwinkeln, wie die Zwillinge einander angrinsten, ignorierte es jedoch. Stattdessen warf er den Elbenherrn einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Nein, das waren alle Fragen. Es scheint, dass ich schon zu lange in Euren Diensten stehe, denn Ihr machtet mir soeben deutlich, wie berechenbar ich geworden bin. Für Euer Vertrauen jedoch habt Dank. Ich werde es nicht wieder enttäuschen, mein Lord."

Elrond seufzte innerlich, schüttelte aber in sanftem Tadel den Kopf. „Das hast du noch nie getan."

Seit der unbemerkten Entführung Estels aus dessen Grab, dachte der Gondoliner anders darüber und Elrond hatte es ihm bislang auch nicht auszureden vermocht. Dies war allerdings der ungeeignetste Zeitpunkt für einen weiteren Versuch. Das würde warten müssen, bis sie wieder zurück waren.

Er nickte kurz, dann sah er die Zwillinge an.

„Bereit?"

„So bereit man sein kann, Vater!" Elladan nickte ungeduldig. Ihm war, genau wie seinem Zwilling, die Freude anzumerken, ihren jüngsten Bruder nach einem Jahr endlich wiedersehen zu können.

„Bitte, mein Lord..." Glorfindel, der plötzlich verlegen wirkte, sah Elrond an. „Richtet Estel von mir aus, dass er seine fixe Idee, für die Welt weiterhin tot zu bleiben, endlich aufgeben soll. Nirgendwo ist er mehr in Sicherheit als hier im Schutz meiner Wachen. Außerdem vermisst man ihn."

„Ich werde es meinem Sohn wortwörtlich ausrichten, sobald ich ihm begegne."

Elrond ließ einen letzten Blick in die Runde gleiten, dann sah er die Zwillinge an.

„Lasst uns aufbrechen. Euer Bruder wird schon meinen, wir kämen nicht mehr."

Er wusste nicht, wie wahr seine Worte waren.

-x-x-x-

Clary war so erschöpft wie noch nie zuvor in ihrem Leben, doch sie zwang sich verbissen weiter vorwärts, um es ihren Geliebten nicht merken zu lassen. Sie hatte zwar bereits zu Beginn ihrer Flucht geahnt, dass ihnen alles andere als ein Spaziergang bevorstand, doch auf derartige Anstrengungen war sie nicht vorbereitet gewesen.

An Miros Seite drang Clary immer tiefer in einen Wald ein, den sie nicht kannte, in dem sie sich im tiefsten Grunde ihres Herzens trotz der Anwesenheit des Geliebten fürchtete und dessen dichte Baumkronen nicht einmal das Sternenlicht als winzigen Trost zu ihnen durchließen.

Als sie von der Straße heruntergegangen waren, hatte Miro ihnen mit seinem Dolch eine schmale Schneise durch ein riesiges, völlig verwildertes Brombeergestrüpp bahnen müssen. Völlig zerkratzt waren sie dann fast zwei Stunden lang durch ausgedehnte Farnflächen gelaufen. Die Pflanzen hatten Clary zum Teil bis an die Hüfte gereicht und sie beide in Minutenschnelle bis auf die Haut durchnässt, da der starke Regen der letzten Tage und die Nachtkühle als Wasserfilm auf den Wedeln lagen und bei jedem Kontakt in ihre Kleidung eindrangen. Die Feuchtigkeit wiederum ging eine verhängnisvolle Verbindung mit der Nachtkälte ein und so fror die junge Frau in ihren nassen Sachen erbärmlich. Auch die ununterbrochene Bewegung änderte nichts daran.

Miro schien diese Probleme nicht zu haben, denn er hielt ihre Hand fest und zog sie entschlossen weiter hinter sich her. Als sie jedoch immer häufiger stolperte und ihr Schritt langsamer und schleppender wurde, erkannte er, dass Clary am Ende ihrer Kraft angelangt war.

„Komm schon, noch ein kleines Stück, dann rasten wir ein paar Minuten, ja?"

Fast beschwörend sah er zu Clary zurück, doch sie antwortete ihm nicht. Schon lange hatten ihre Augen sich nicht mehr vom Boden gelöst, als sei sie selbst dafür zu müde.

Miro seufzte, dann blieb er stehen. Wie sollte er ihr nur verständlich machen, dass sie wahrscheinlich viel zu langsam für ein Gelingen ihrer Flucht waren und ihre Chancen wohl stetig weiter sanken?

Selbst wenn Clary derartige Gedanken in diesem Augenblick hätte, wären sie ihr egal gewesen. Für sie zählte nur, dass Miro stehen geblieben war. Ohne nachzudenken ließ sie sich an Ort und Stelle zu Boden sinken, ohne sich um die neuerliche Nässe zu kümmern, die sofort in die Kleidung eindrang.

Sitzen... nur einen Moment... dachte sie, zog die Knie an und bettete müde ihre Stirn darauf. Einen Moment später hatte Miros harter Griff sie unnachgiebig wieder emporgezogen. Vorwurfsvoll starrte er seine Geliebte an.

„Was machst du denn da? Auf dem durchnässten Boden wirst du dir den Tod holen!"

Clary hob müde den Kopf. Tapfer widerstand sie der Versuchung, sich erneut zu setzen, und blieb stehen.

„Ich habe es versucht, Miro. Die Götter wissen, wie sehr. Aber ich kann nicht mehr! Meine Füße schmerzen, als laufe ich über Messer, die Sohlen sind voller Blasen, ich friere, habe Hunger und..." Mit einem Mal wurde sie leise. „...und ich bin müde. So schrecklich müde. Wenn wir jetzt nicht rasten, führt zumindest mein Weg bald nirgendwo mehr hin, denn ich werde vor Erschöpfung umfallen und nicht mehr aufstehen, bis Cobiarh mich gefunden hat."

„Deswegen müssen wir ja weiter, Clary. Bis nach Bruchtal ist es noch ein weiter Weg und jede Minute, die wir vergeuden, bringt uns ihn und seinen Männern näher. Ich treibe dich nicht gern so an und wenn es nicht anders geht, werde ich dich tragen, aber wir müssen uns beeilen, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, frei zu sein."

Miro machte Anstalten, sein Gepäck abzustreifen, um seine Worte wahr werden zu lassen, doch Clary nahm seine Hände in die ihren. „Wir sind doch längst frei!"

„Was redest du denn da? Hast du vergessen, dass man dich nicht so einfach gehen lassen wird? Noch sind wir nicht im Reich der Elben." Unwillig schüttelte er Clarys Hände ab und begann an den Schulterriemen des Rucksackes zu zerren, doch sie ließ sich nicht einschüchtern.

„Nein, das habe ich nicht vergessen." Sanft, aber bestimmt nahm sie sein Gesicht zwischen ihre schmalen Hände und zwang ihn so, innezuhalten und sie anzusehen.

„Miro, hör' mir zu. Begreifst du es denn nicht? Wir sind frei, weil wir uns entschlossen haben, zusammen zu sein. Trotz aller Verbote, trotz aller Hindernisse, ungeachtet der Folgen, die das für uns haben wird. Selbst, wenn man uns fängt, werden wir weiter frei sein, weil wir uns lieben. Das können weder mein Vater noch Cobiarh noch irgendeine Macht Ardas rückgängig machen. Ich weiß, du willst mich nur beschützen, aber das musst du nicht. Ich bin kein hilfloses Besitztum, sondern..." Sie zögerte unschlüssig, dann lächelte sie. „...deine Frau."

Schweigend standen sich die beiden jungen Menschen gegenüber und sahen sich an. Die Ereignisse hatten aus zwei Halbwüchsigen über Nacht entschlossene junge Menschen gemacht, die von nun an zueinander stehen würden und ihre Liebe noch nie zuvor so schmerzhaft deutlich gespürt hatten wie in diesem Augenblick.

Clary sah, wie Miro ihr Lächeln unsicher erwiderte.

„Wir begannen es zu zweit, und egal, was geschieht: wir stellen uns den Folgen auch zu zweit. Aber wir werden es schaffen... sogar mit einer kleinen Pause!"

Der Mann holte tief Luft und zwang sich gewaltsam zur Ruhe.

„Auch, wenn ich es ungern zugebe: du hast recht. Ich bekomme nur einfach die Vorstellung nicht aus dem Kopf, was man mit dir machen wird, falls man uns fängt, und das spornt mich an."

Genau darüber hatte auch Clary in den letzten Stunden immer wieder angstvoll nachgedacht und festgestellt, dass ihr Miros Schicksal viel größere Sorgen bereitete als das eigene. Der Stadtamtmann war als rachsüchtig bekannt und würde es seinen Rivalen bitter büßen lassen, sollte er ihn je in die Finger bekommen. Cobiarh würde schon deshalb Vergeltung üben, um auch sie – Clary – damit zu bestrafen, soviel stand für die junge Frau fest. Sie schauderte unwillkürlich und schob die dunklen Gedanken beiseite.

„Lass uns darüber nachdenken, wenn wir es müssen. Keinen Moment eher," bat sie und streichelte gedankenvoll Miros Wange mit ihrem Daumen. Erste zaghafte Bartstoppeln begannen dunkle Schatten auf die Haut des jungen Mannes zu legen.

„Du solltest ihn dir wachsen lassen," sagte sie übergangslos und ihr Lächeln vertiefte sich, als Miro sie irritiert musterte. „Deinen Bart. Er würde dir stehen. Außerdem mag ich Männer mit Bart."

„Ach ja?" Miro erwiderte ihr Lächeln. Es sah trotz der sichtbaren Zeichen von Müdigkeit jungenhaft übermütig aus. „Spätestens jetzt weiß ich, dass Bruchtal die richtige Wahl ist. Elben wächst nämlich kein Bart, weißt du."

„Oh!" Neckend zog Clary eine Augenbraue hoch. „Das klingt, als wärst du schon jetzt eifersüchtig..."

„Eifersüchtig? Ich? Auf wunderschöne, kluge, gütige, unsterbliche Geschöpfe?" Miro tat, als müsse er angestrengt überlegen, dann runzelte er die Stirn. „Ja, doch... Jetzt, wo du es sagst..."

Er sah sich flüchtig um, dann erspähte er in einiger Entfernung einen umgestürzten Baumstamm.

„Komm!" Miro zog seine Begleiterin dorthin, drückte sie auf den Stamm hinunter, dann setzte er sich neben sie. „Wir rasten ein paar Minuten. Unterdessen erzähle ich dir von den Elben."

-x-x-x-

Cobiarhs Truppe war der nordwärts führenden Handelsstraße in langsamem Tempo gefolgt, weil die an der Spitze befindlichen Fährtenleser – angetrieben von der in Aussicht gestellten Belohnung – aufmerksam am Wegesrand nach etwaigen Zeichen der Flüchtlinge Ausschau hielten.

Die Mitternacht lag schon eine Weile zurück und etwa zwei Stunden waren seit ihrem Aufbruch aus der Stadt vergangen, als schließlich ein Ruf durch die Nacht hallte.

„Hier! Ich glaube, danach könnten wir gesucht haben!"

Der Amtmann schloß zum Rufer, einem Mann mit sonnengegerbtem Gesicht und drahtigem Körperbau, auf und dirigierte sein Pferd neben dessen. „Was hast du gefunden?"

Der Fährtensucher stieg ab und ging zum Gebüsch. Er trug eine rußende Fackel bei sich. Ihr Schein verlieh dem Gestrüpp zunächst einen unverdächtigen Eindruck. Erst auf den zweiten Blick war eine schmale Schneise zu erkennen, die quer hindurch direkt in den Wald führte. Der Mann griff nach einigen Zweigen und hielt sie dem Amtmann hoch.

„Die Bruchstellen sind noch frisch. Kaum zwei Stunden alt, würde ich sagen. Außerdem wurde die kleine Klinge eines Dolches oder eines Kurzschwertes benutzt, um sich hier durch zu schneiden."

Er stutzte, beugte sich dann vor und entfernte etwas zunächst Unidentifizierbares von einem Ast.

„Wer auch immer es war, tat es in Hast. Ansonsten wäre ihm ... oder ihr ... sicher aufgefallen, dass dabei die Kleidung zerrissen ist."

Mit diesen Worten reichte der Fährtensucher seinem Herrn einen schmalen Stofffetzen empor.

Cobiarh befühlte ihn. Der Fetzen konnte noch nicht lange dort gehangen haben, denn nicht einmal die spätherbstliche Nachtfeuchte der Pflanzen hatte dem noch immer trockenen Gewebe bisher etwas anhaben können.

Der Fährtensucher hat recht: das waren sie. Sie müssen es gewesen sein. Niemand sonst hat an diesem Abend die Stadt in diese Richtung verlassen.

Ungeduldig warf der Amtmann den Stoffstreifen fort. „Wohin gelangt man, wenn man dort entlang geht?"

Der Fährtenleser sah nachdenklich in den Wald.

„Es gibt auf eine weite Strecke keine menschliche Ansiedlung in dieser Richtung... nur das Tal der Elben." Unsicher kratzte der Mann sich am Nacken, dann sah er schulterzuckend zu Cobiarh zurück. „Aber sie kann unmöglich zu den Elben wollen, Herr."

„Sie nicht..." Die Miene des Amtmannes verhieß nichts Gutes, als er der gewaltsam gebahnten Schneise mit seinen Blicken folgte. „...vielleicht aber derjenige, der bei ihr ist."

Ein letztes Mal sah er sinnend die Straße entlang.

In der Stadt oder bei den Elben: wo sucht ihr euer Heil, Clary???

Die eine Möglichkeit war so gut oder so schlecht wie die andere, denn wo die Stadt den Flüchtlingen Schutz durch die Massen der in ihr lebenden Menschen bot, verhieß das Elbental es ihnen womöglich durch den Ruf, den das erstgeborene Volk allgemein hatte. Kein Mensch würde freiwillig für den Rest seines Lebens elbische Arroganz und Feindseligkeit ertragen...

...es sei denn, man hoffte, dass niemand einen für verzweifelt genug hielt, genau dies zu tun!

Cobiarhs Entschluss stand fest. Ihr Weg hatte in den Wald geführt – und er würde ihnen folgen!

Der Stadtamtmann ließ seinen Blick über die ihn begleitenden Reiter schweifen, dann nickte er dem Fährtenleser zu, der inzwischen wieder neben seinem eigenen Pferd stand.

„Die Belohnung ist dein. Fangen wir die Flüchtlinge noch vor dem Morgen, bekommt jeder von euch den gleichen Betrag. Da du die Spur gefunden hast, führst du uns von nun an weiter!"

Deutliche Freude über die in Aussicht gestellte Kopfprämie erhellte die bis eben noch verdächtig verkatert wirkenden Gesichter der Reiter. Gleichzeitig hatte Ehrgeiz die Männer gepackt, die sich auszumalen begannen, was man alles mit der Belohnung anfangen konnte. Der Fährtenleser warf unterdessen einem Kameraden die Zügel seines Pferdes zu, dann zog er sein Schwert und sah zu Cobiarh auf.

„Ich weiß, wo das Elbental liegt. Sobald wir mit unseren Pferden durch diese Hecke hindurch sind, können wir ein schnelleres Tempo anschlagen. Ihr werdet sehen, Herr Amtmann: bald habt Ihr Eure Braut wieder!"

Cobiarh winkte ungeduldig mit der Hand. Doch während der Spurenleser sich daran machte, das uralte, verfilzte Gesträuch mit seiner scharfen Klinge zu teilen, weilten die Gedanken Goradh Cobiarhs bei der Vorstellung, was er mit Clary tun wollte, wenn er sie erst einmal hatte.

Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass das sehr bald schon der Fall sein würde.

-x-x-x-

Ende Kapitel 4

Mystic Girl1: Ich sag's nochmal: schön, von dir zu lesen.

Gerade die durch das Wasser des Höhlensees hervorgerufene Charakterwandlung von Legolas' war das schreiberisch Schwierigste. Doch den Reviews nach ist es uns gelungen, sie glaubhaft darzustellen.

Aragorns etwas... hmm... mitgenommenes Aussehen in den ersten zwei Filmen brachte uns auf die Idee, diesen leicht schmuddeligen Touch zu erklären, indem wir den Ursprung dafür mit in die Geschichte einbauen. Um Genaueres zu erfahren, musst du also dranbleiben. (...grins...)

Zu SuS noch schnell ein abschließendes Wort. Den Faden hatten wir an keiner Stelle verloren, denn wir schreiben nach zuvor verfasster Plotlinie. Es war mehr so, dass die 12 Seiten Plotlinie uns bis etwa zur Hälfte der Geschichte noch glauben ließen, dass wir mit erheblich weniger Kapiteln auskämen. Als aus den anfänglich geschätzten 24 dann 33 wurden, war das ein ganz schöner Happen – für uns und euch, unsere Leser... (g) Also vielen Dank nochmal für dich und alle, die durchgehalten haben!

Elitenschwein: Erst einmal vielen Dank für deine Review und die vielen lobenden Worte. Natürlich freut sich jeder Autor darüber. (...grins...)

Wir haben uns eigentlich von Anfang an bemüht, moderne Wörter und Ausdrücke zu umgehen, und bis auf wenige Ausnahmen ist uns das auch gelungen, hoffen wir. Es passt einfach besser, wenn die Charaktere Tolkiens sich einer mittelalterlich anmutenden Sprache bedienen.

Tja, die Konfrontation zwischen Legolas und Aragorn basiert eigentlich auf einer spontanen Idee, die ManuKu und mir während eines Telefonats kam: wir wollten die beiden Jungs mal als Feinde sehen. Da jedoch keine FanFic so etwas bot, schrieben wir es nach einer intensiv-angeregten Brainstorming-Session selbst. Wer nun von beiden letztlich der Stärkere sein wird, bleibt dahingestellt. Sicher hat Legolas die größeren Körperkräfte, doch die Kraft der menschlichen Verzweiflung ist auch nicht zu unterschätzen...

Warten fällt, so finden wir, beiden Seiten gleichermaßen schwer. Den Lesern, weil sie (hoffentlich ungeduldig) auf die Fortsetzung harren, während Autoren ihre Motivation aus der Reaktion der Leser nehmen. Und wir zwei waren seeeehr neugierig darauf... und sind es noch!

Elanor8: Dankeschön für die Review.

Legolas' Verhaltensmuster entspricht in dieser Story aus gleich mehreren Aspekten heraus nicht dem allgemeinhin als üblich angesehenen „elbischen Verhalten". Zum einen ist da der Einfluss des Höhlensees, dessen genauer Ursprung und früherer Zweck in den Schlusskapiteln noch ausführlich erklärt/enthüllt werden, und zum anderen ist man als menschliche Autorin natürlich nicht ganz frei davon, sich in der Hitze des Schreibens mit eigenen Gefühlen bzw. Verhaltensmustern in die betreffende Figur einzubringen. Zieht man jedoch dann noch das Wissen in Betracht, das ihr als Leser noch nicht haben könnt, erklärt sich Legolas' Verhalten hoffentlich ganz gut. Also schön neugierig (und dran) bleiben...

Miro und Clary... Nun, den beiden wird auch noch einiges mehr bevorstehen, als nur die dunklen Legolas/Aragorn-Passagen aufzulockern.

yavanna unyarima: Auch dir vielen Dank für das Lob. Schön, wenn es uns gelungen ist, euch Leser in den Bann dieser Geschichte zu schlagen. Clary und Miro haben ihren Schlüsselauftritt übrigens im nächsten Kapitel...

Liderphin und Monika: Euch beidengleichfalls Danke für eure wahnsinnig langen Review-E-Mails!Die Antworten fallen genauso lang aus, doch da das den Rahmen dieses Formats sprengen würde, kommen sie also separat per E-Mail, einverstanden?