Schatten
Eine „Der Herr der Ringe" - Story
von
Salara
Feinarbeit: ManuKu
Vielen Dank für die beiden Reviews zu Kapitel 4. Die Antworten befinden sich wieder am Ende dieses Kapitels. Dann mal ohne große Vorreden weiter mit Kapitel 5, in dem alle Einzelfäden sich endlich zu einem vereinen.
Viel Spaß!
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Kapitel 5: Entdeckungen
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Aragorn kehrte das nächste Mal ins Bewusstsein zurück, als die Stricke, die ihn an den Sattelknauf banden, gelöst und mit einem Ruck fortgezogen wurden. Einen Augenblick später wurde er unsanft vom Pferderücken auf den Boden befördert.
Er landete auf der rechten Seite. Beim Aufprall bohrte sich etwas Hartes, das sich verdächtig wie ein Stein anfühlte, in seine Rippen. Der Schmerz, der gleich darauf dort explodierte, war enorm, doch ein bereits hellwacher Überlebenswille ließ ihn die Zähne zusammenbeißen und keinen Laut von sich geben. Statt dessen blieb er zusammengekrümmt und reglos liegen und folgte seinem Instinkt, der ihm riet, sich weiter besinnungslos zu stellen. Er hörte, wie Legolas abstieg, seinen Rappen ein Stück zur Seite führte, wo er ihn offensichtlich festband, und dann fast unhörbar hin und her lief, als suchte er nach etwas.
Das gab Aragorn Zeit, um nachzudenken. Schnell ergaben die vielen durch seinen Verstand schwirrenden Erinnerungen wieder einen Sinn. Die Höhle, der Tauchunfall, Legolas' Persönlichkeitsveränderung, seine eigene unerklärliche, fast animalische Panik und – am schrecklichsten von allem – die vergebliche Flucht vor seinem Jäger, seinem einstmals besten Freund, der zu seinem gnadenlosesten Feind geworden war.
Daran zu denken schmerzte, da Aragorn nun zu seinem früheren Selbst zurückgefunden hatte. Viel hatten der Elbenprinz und er in den zurückliegenden anderthalb Jahren zusammen erlebt, noch mehr füreinander riskiert und eine Freundschaft geschlossen, die bis zum Vortag unzerstörbar geschienen hatte. Dass dies nun Vergangenheit war, tat trotz allem, was zwischen ihnen geschehen war, weh.
Nun, wo Aragorn wieder bei Bewusstsein war und klar, logisch und ohne Furcht überlegen konnte, begann er sofort darüber nachzusinnen, was er gegen das Böse unternehmen konnte, das in Legolas' lichte Seele eingedrungen war.
Seine Gedankengänge konzentrierten sich schließlich auf die offensichtliche Chance. Es war dieselbe, an die er schon vor Beginn dieser verachtenswerten Jagd gedacht hatte.
Er musste es irgendwie schaffen, den Elben zu überwältigen und zu Elrond zu bringen. Wenn es überhaupt etwas gab, das Legolas sein früheres Wesen wiedergeben konnte, dann war das die Magie, die dem Elbenfürsten zu Gebote stand.
Aragorn wusste nicht viel über dieses Thema, da weder sein Elbenvater noch die Zwillinge viel mit ihm darüber gesprochen hatten. Nur ein paar alte Legenden, die man ihm als Kind an manchem Abend vor dem Zubettgehen erzählt hatte, sprachen von einer magischen Macht. Aus jener Zeit wusste er, dass es Elbenmagie gab und Elrond sie unter anderem dazu benutzte, die Wasser des Bruinen unter Kontrolle zu halten. Ganz nach seinem Willen waren die Wasser des Flusses sanft, wenn sie als Wasserfälle in das Tal strömten, oder reißend, wenn es galt, es vor Feinden zu beschützen.
Der Gedanke an sein Zuhause zerstob, als irgendwo in Aragorns Rücken Holz knackte, als würde man es zerbrechen. Das musste Legolas sein. Der Waldläufer wusste nicht, was der Elb suchte; nur, dass er noch immer ein Stück entfernt zu sein schien. Vorsichtig öffnete Aragorn seine Augen einen Spalt weit, um sich zu orientieren.
Inzwischen beherrschte vormorgendliches Dämmergrau den Himmel, in das sich die dunklen Wipfel von Baumkronen schoben. Der Waldläufer wagte es nicht, den Kopf zu bewegen, um Legolas nicht auf sich aufmerksam zu machen, doch soweit er es bei diesen Lichtverhältnissen erkennen konnte, befanden sie sich nach wie vor im Wald. Es musste sich um das Ufer irgendeines Flusses handeln, denn er konnte dessen Wasser in unmittelbarer Nähe zwar gurgeln hören, jedoch nicht sehen.
Versuchsweise testete er die Fesseln, mit denen Legolas seine Handgelenke auf den Rücken gebunden hatte, doch die Stricke saßen so eng wie zuvor und ließen ihm noch immer keinen Millimeter Spielraum.
Gerade im Begriff, sich nun doch zu bewegen, hörte er, wie sich die Schritte des Elben ihm wieder näherten. Schnell schloß er die Augen, sich erneut bewusstlos stellend. Gleich darauf hörte er, wie einige Dinge, darunter auch etwas dem Klang nach Hölzernes, dicht neben seinem Schädel zu Boden fiel. Für einen Moment erwartete Aragorn, erneut niedergeschlagen zu werden, noch ehe er auch nur die geringste Möglichkeit zum Handeln gefunden hatte.
Dass es nicht geschah, machte den Kopfschmerz, der durch seinen Schädel raste, auch nicht unbedingt kleiner. Einen Augenblick darauf hörte er, wie der Elb erneut eines seiner Zwillingsmesser aus der Scheide zog. Gleich darauf fuhr die kalte Klinge zwischen seine Handgelenke und zertrennte die Stricke, die ihn hielten.
Im Bruchteil einer Sekunde begriff Aragorn, dass er keine bessere Gelegenheit mehr bekommen würde. Beherzt nutzte er den Überraschungsmoment aus.
In einer einzigen Bewegung rollte er sich auf den Rücken, zog gleichzeitig die Knie an und trat dann mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, nach oben, direkt hinein in Legolas' Körper.
Der Tritt ließ den überraschten Elbenprinzen wie ein herunterfallendes Buch in der Mitte einknicken und gleichzeitig einen Schritt nach hinten stolpern. Die Hände fuhren automatisch zu seinem Leib, das Messer glitt ihm aus der Hand, fiel mit metallischem Klingen zu Boden und blieb zwischen Steinen und abgestorbenem Gras liegen. Zeitgleich vernahm Aragorn einen erstickt klingenden Laut, der ihm verriet, dass er dem Elben mit seiner Attacke jegliche Luft aus den Lungen gepresst hatte.
So leid ihm das sonst getan hätte, so dankbar war er jetzt für die gewonnenen zusätzlichen Sekunden.
Mit einem zweiten Satz kam er auf die Beine und griff sofort mit seinen noch immer kraftlosen Händen nach der Waffe. Sekunden später war er Glorfindel nachträglich für die durch unzählige Übungsstunden eingeschliffenen flinken Reflexe dankbar, denn Aragorn schaffte es, sie trotz der nur langsam wieder in Schwung kommenden Blutzirkulation zu sich heranzuziehen, ehe der Elbenprinz sie aus seiner Reichweite treten konnte.
Die Klinge lag ungewohnt in seiner Hand, doch Aragorn umklammerte sie fest, da buchstäblich sein Leben an ihr hing.
Inzwischen hatte sich Legolas wieder gefangen. Drohende Blicke trafen den Menschen, der sich gerade außerhalb der Reichweite des Elben aufhielt.
„Ich hätte wissen müssen, dass man dir nicht einmal in bewusstlosem Zustand trauen darf." Langsam, fast genussvoll, zog Legolas das zweite seiner Zwillingsmesser. „Ich werde diesen Fehler nicht noch einmal begehen. Wenn du erst wieder in meiner Gewalt bist, werde ich Vorsorge treffen, dass du mich bis zu deinem Tod kein zweites Mal überrumpeln kannst."
Der Waldläufer wog die Klinge in der Hand. So gern sein Mitleid für den Elben auch an dessen Gewissen appelliert hätte, so klar war sich Aragorn darüber, dass das nutzlos sein würde. Er konnte Legolas nur besiegen, wenn dieser wütend genug war, um alle Überlegung zu vergessen und wenigstens einen einzigen Fehler zu begehen; einen, der es ihm gestatten würde, die Oberhand über den Elben zu gewinnen und ihn gefahrlos zu Elrond zu schaffen.
So setzte Aragorn die verächtlichste Miene auf, zu er sich fähig fühlte.
„Du hättest mich töten sollen, als du es noch konntest. Diese Möglichkeit bekommst du kein zweites Mal oder glaubst du wirklich, dass ich mich noch einmal freiwillig von dir wie ein Tier hetzen und fangen lasse? Wenn ja, bist du der einfältigste Elb, dem ich je begegnet bin. Jetzt bin ich wieder frei und ich werde es bleiben, denn die besten Lehrer Bruchtals haben mich das Überleben gelehrt."
„Was nützen ausgezeichnete Lehrer, wenn der Schüler die Lektionen nicht begreift? In meinem Leben stand ich schon klügeren Wesen als dir gegenüber. Keines von ihnen lebt mehr. Gib auf, so lange du noch Gelegenheit dazu hast, Aragorn. Dann verspreche ich dir, dass ich deinen Tod auch nicht über Gebühr hinauszögern werde. Anderenfalls wirst du jede Sekunde, die du dich mir widersetzt, bereuen, ehe du stirbst"
Der schnaubte, und es klang deutlich ungeduldig. „Sterben, bereuen, Tod... Ich höre immer nur die gleichen Worte aus deinem Mund. Ist der Wortschatz des Thronerben Düsterwalds denn wirklich so klein? Außerdem vergisst du etwas Wichtiges."
„Ach ja? Was wäre das wohl? Was hättest du mir denn noch zu sagen, das ich noch nicht über dich wüsste?"
Die Überheblichkeit in Legolas' blauen Augen strafte die vermeintliche Sanftmut seiner Züge deutlicher Lügen als alle Worte, doch sie täuschte auch nicht über die Gefährlichkeit des Elben hinweg. So gut Aragorn auch ausgebildet worden war: durch die elbische Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft war Legolas ihm haushoch überlegen. Aragorn hingegen war nur ein Mensch, und überdies auch noch angeschlagen durch rasende Kopfschmerzen, Durst und eine bei jeder Bewegung verdächtig schmerzende Rippe. Dennoch war er entschlossen, das Äußerste aus sich herauszuholen. Der Preis, um den sie kämpften, war der Größtmögliche: ihre Leben!
Aragorn leichthin zuckte mit den Schultern.
„Um mich töten zu können, musst du mich erst mal wieder in deine Gewalt bringen, Prinz Maulheld! Doch darauf hoffst du vergeblich, sei gewiss! In ein paar Minuten werde ich über dein Schicksal entscheiden."
„Oh!" Belustigung huschte über die alterlosen Züge des Elben, doch dass die Beleidigung getroffen hatte, sah Aragorn an der Art, wie Legolas unmerklich das waffenführende Handgelenk lockerte. „Zu erfahren, was ein niederes Wesen wie du sich für mich ausdenken würde, wäre es mir fast wert, mich besiegen zu lassen..."
Aragorn spannte alle Muskeln im Körper an. Er konnte spüren, dass die Zeit des Redens fast vorbei war. „Dann erspar' dir doch einen ohnehin aussichtslosen Kampf und ergib dich freiwillig."
„Das gleiche bot ich dir vorhin schon an, doch ich sehe nun, dass du mich einfach nicht verstehen willst oder kannst. Es ist wohl an der Zeit, mit dir eine deutlichere Sprache zu sprechen."
„Na, dann komm näher heran, damit ich sie auch verstehe."
Abschätzend begannen sie einander zu umkreisen. Jeder Schritt war bewusst gesetzt und fast schien es, als würde keiner der beiden den ersten Ausfall wagen. Doch als Aragorn an seiner nachlassenden Konzentration merkte, dass die letzten Stunden ihren Tribut zu fordern begannen, entschloss er sich dazu, einen Angriff zu riskieren.
Er bewegte sich einen weiteren Schritt seitwärts, da er aus den Augenwinkeln dort die leicht aus dem Boden ragende Wurzel eines nahestehenden Baumes erspähte. Mit dem nächsten Schritt tat er, als stolpere er über sie, ohne dabei Legolas aus dem Blick zu verlieren.
Der schien nur auf eine solche Gelegenheit gewartet zu haben. Mit einer unglaublichen Schnelligkeit sprang er Aragorn entgegen, das Messer dabei gegen die rechte Hüfte des jungen Mannes schwingend. Da dieser eine solche Reaktion vorausgesehen hatte, fing er den Arm des Elben mühelos ab. Aragorn zog den Prinzen dicht genug an sich heran, um mit dem massiven Griff seines Dolches einen kraftvollen Hieb gegen die linke Schläfe des Elben zu führen.
Der Schlag fiel jedoch längst nicht so nachdrücklich aus, wie der Waldläufer es sich erhofft hatte. Statt auf der Stelle bewusstlos zusammenzubrechen, taumelte Legolas nur ein paar Schritte weiter, ehe er stehenblieb. Er wirkte sichtbar benommen und fiel schließlich auf ein Knie.
Entschlossen, diesen winzigen Moment der Überlegenheit auszunutzen, um Legolas niederzuschlagen, hob Aragorn seine Waffe erneut und folgte ihm.
Dass der Elb bei weitem nicht so handlungsunfähig war, wie er es Aragorn hatte glauben lassen, bewies seine blitzschnelle Abwehr. Legolas erhob sich nämlich im letzten möglichen Augenblick, drehte sich auf dem Absatz herum, bis er sich dem jungen Mann gegenüber sah, und holte dann in einem raschen seitlichen Aufwärtsbogen mit seinem Messer aus.
Der Waldläufer war nicht auf so etwas gefasst gewesen. Er konnte weder seinen Schwung vermindern noch rechtzeitig ausweichen. Im nächsten Augenblick war es nun sein Schädel, der mit dem harten Griff von Legolas' Zwillingsmesser kollidierte.
Der Elb hatte die Wucht des Schlages jedoch nicht genau genug dosiert. Er hatte Aragorn erneut bewusstlos schlagen wollen, erreichte jedoch nur, dass dessen Sichtfeld sich für einige Momente verdoppelte. Gleichzeitig flammten die Kopfschmerzen zu neuer Stärke auf und wüteten nun in seinem Schädel.
Wiederum war es Glorfindels Ausbildung zu verdanken, dass Aragorn die Geistesgegenwart besaß, zurückzuspringen, ehe ein zweiter Schlag das Werk des ersten vollenden konnte. Erneut belauerten sich die zwei.
Während der Waldläufer die Waffe entschlossen umklammerte, betastete er flüchtig mit der freien Hand die getroffene Schläfe. Dann sah er seine Finger an. Erleichterung durchströmte ihn, als er kein Blut an ihnen kleben sah.
Der Elbenprinz hatte seine Handlung aufmerksam verfolgt und zog nun geringschätzig einen Mundwinkel zur Seite. „Wenn ich dich einfach nur töten wollte, wärst du längst tot."
„Und wenn ich Märchen hören wollte, wäre ich zu Hause und würde denen lauschen, die man Kindern abends erzählt."
Legolas' Augen wurden schmal. Nun begann er jenes Stadium der Wut zu erreichen, auf das Aragorn gehofft hatte; jenes, in dem sich ein Fehler in seine bisher so kühl kalkulierten Handlungen einschleichen würde. Aragorn musste es nur schaffen, solange konzentriert und wachsam zu bleiben.
„Du strapazierst meine Geduld schon viel zu lange, Aragorn. Es ist an der Zeit, dies hier ein für alle Mal zu beenden."
Dieser spürte, wie seine Konzentration weiter nachließ. Er war sich nicht sicher, ob der letzte Schlag ihm eine Gehirnerschütterung eingetragen hatte, doch die Desorientierung nahm mit jeder verstreichenden Sekunde spürbar zu. Aragorn blieb nicht mehr viel Zeit, bis er derjenige sein würde, der einen alles entscheidenden – und in diesem Falle mit Sicherheit tödlichen – Fehler beging. Nun, wo er wieder er selbst war, wollte er dem Elbenprinzen mehr noch als zuvor helfen. Doch dieser schien entschlossen, ihn zu töten. Es gehörte keine besonders gute Beobachtungsgabe dazu, dies hinter der schnell bröckelnden Fassade von Legolas' Gelassenheit zu erkennen.
Verzweifelt holte der Waldläufer zu seinem letzten Versuch aus, den Elb zu einem Fehler zu verleiten.
„Was willst du tun? Da stehen bleiben und mir so lange drohen, bis ich verhungert oder verdurstet bin? Oder hängst du noch immer der Idee nach, mich auf ehrliche Art in einem Kampf besiegen zu wollen?"
„Menschen. Mutig mit Worten, immer zu einem Risiko bereit ... und doch nicht fähig, ihre Schwäche zu erkennen." Ein Lächeln huschte über die anmutigen und doch so beängstigend gnadenlosen Züge des Elben, als er unvermutet die Waffe ein Stück sinken ließ. „Sag mir, Aragorn... zu welchem Zeitpunkt habe ich das Wort EHRLICH gebraucht?"
Der hatte nicht einmal genügend Zeit, um die volle Bedeutung dieser letzten Frage zu verstehen, denn im nächsten Augenblick lehnte sich Legolas leicht zurück und riss die Hand nach hinten, die den Dolch hielt.
Aragorn schloss innerhalb von Sekundenbruchteilen, dass der Elb im Begriff stand, sein Zwillingsmesser als Wurfdolch zu gebrauchen Er reagierte instinktiv und drehte sich blitzschnell zur Seite, um dem erwarteten Wurfgeschoss so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Sein Gleichgewichtssinn ließ ihn trotz der unglaublich starken Kopfschmerzen und einer heftig protestierenden Rippe nicht im Stich, denn durch die heftige Bewegung taumelte er zwar, schaffte es aber, stehen zu bleiben.
Dass der Elbenprinz ihn mit dieser Handlung ablenken wollte, um dicht genug an ihn heranzukommen und ihn einmal mehr kampfunfähig zu machen, begriff der Waldläufer, als Legolas ihm einen Moment später mit nach vorn schnellender Waffe entgegen sprang, dabei jede Vorsicht außer Acht lassend.
Das war der Moment, auf den Aragorn gehofft hatte.
Im allerletzten Augenblick drehte sich der Mensch um die eigene Achse und packte Legolas' ausgestreckten Arm an dessen Handgelenk. Den Schwung des darauf nicht vorbereiteten Elben ausnutzend, wirbelte Aragorn ihn an seinem Handgelenk einmal im Halbkreis herum, dann schleuderte er ihn gezielt und mit voller Wucht frontal gegen den Baumstamm, dessen Wurzel ihm zuvor schon gute Dienste geleistet hatte.
Der Aufprall war nicht hart genug, um Legolas in die Bewusstlosigkeit zu schicken, doch er genügte, um ihn zeitweilig den Dolch sinken zu lassen.
Für Aragorn genügte das.
Mit einem langen Satz stand er hinter dem Elben, der eben dabei war, die Auswirkungen des Zusammenpralls mit wiederholtem Kopfschütteln zu bekämpfen. Der junge Mann warf seine Waffe zur Seite, packte den Elben an Nacken und Hinterkopf und schmetterte ihn erneut und noch heftiger als zuvor an den Stamm.
Gleich darauf sackte Legolas unter seinen Händen zusammen. Instinktiv fing Aragorn den einstigen Freund auf und ließ ihn vorsichtig auf die Erde gleiten. Der zu Boden polternden Klinge schenkte er keinen Blick.
Die Augen des Prinzen waren geschlossen, eine Augenbraue war durch die Wucht des Aufpralls aufgerissen worden. Ein dünner Blutfaden kroch langsam von dort seitlich an den bleichen und von winzigen Rindensplittern bedeckten, nun aber wieder sanften Zügen des Elbenprinzen hinab. Er atmete ruhig und regelmäßig und nichts ließ darauf schließen, ob er in den nächsten Minuten wieder zu sich kommen würde oder nicht.
Nachdem Aragorn sich vergewissert hatte, dass er dem Elben keine ernste Kopfverletzung zugefügt hatte, säuberte er dessen Wunde, so gut es mit bloßen Händen möglich war. Dann sank er, für den Moment erleichtert, auf die Fersen zurück und sah nachdenklich auf den Freund hinunter.
Erst ein Tag war vergangen, seit sie sich am ehemaligen Südländerversteck wiederbegegnet waren, doch Aragorn hatte das Gefühl, dass schon ganze Zeitalter zwischen diesem Augenblick und ihrer allerersten Begegnung lagen.
Auch zu jenem Zeitpunkt hatte Legolas so hilf- und reglos vor ihm gelegen, doch wo sie damals schnell gelernt hatten, einander instinktiv zu vertrauen, bestimmten jetzt nur noch Feindseligkeit oder Misstrauen ihr Handeln.
Aragorn bedauerte dies aus ganzem Herzen und etwas in ihm wünschte sich noch einmal in jene Zeit zurück, in der sie so unbeschwert und frei von Hass miteinander hatten umgehen können. Doch er spürte, dass das endgültig der Vergangenheit angehörte. Die Freundschaft, die sie besessen hatten, war zerstört. Sollte es ihnen wirklich irgendwann gelingen, sich einander wieder anzunähern, so würde es unter anderen Vorzeichen geschehen. Verlorenes Vertrauen war nur sehr selten wieder zurück zu gewinnen.
Trotz allem war Aragorn dennoch entschlossen, seinem einstigen Freund dabei zu helfen, wieder zu dem zu werden, der er bis gestern noch gewesen war. Womit seine Gedanken wieder bei Elrond waren.
Zwar hatte er seinem Pflegevater ebenfalls die Bitte um ein Treffen zukommen lassen, doch falls der Elbenherr nicht bereits an der Höhle auf ihn wartete, war Aragorn gezwungen, mit Legolas nach Bruchtal weiterzureiten. Der Schutz des Elbentals, den er mit seinem mühevoll inszenierten Tod vor einem Jahr eigentlich hatte gewährleisten wollen, würde damit allein wieder die schwere Bürde von Lord Glorfindel und seinen Wächtern werden.
Aragorns ohnehin gedrückte Stimmung wurde noch trüber, als er weiterdachte.
Selbst wenn er es schaffte, das Problem an Elrond heranzutragen, wusste Aragorn nicht, ob dieser überhaupt Rat wusste. Kannte sein Pflegevater eine Methode, durch die Legolas wieder zu seinem früheren Ich zurückkehren konnte? Und selbst wenn; zwischen Legolas und ihm würde es danach trotzdem nie mehr so sein wie bisher.
„Ich werde unsere Freundschaft vermissen. Ungeachtet allem, was geschehen ist..." flüsterte Aragorn mit einem Seufzen, dann erhob er sich.
Was auch immer am Vortag mit Legolas geschehen war, hatte ihn zu einem grausamen, unberechenbaren und äußerst gefährlichen Wesen gemacht. Zudem würde er nicht mehr lange bewusstlos bleiben. Erste unbewusste Bewegungen und leises Stöhnen verrieten das.
Aragorn musste den Elb – schon zu seinem eigenen Schutz – jeder Handlungsfreiheit berauben, wollte er mit ihm überhaupt sicher von hier wegkommen.
Suchend sah er sich um.
In einiger Entfernung erblickte er Legolas' angebundenen Rappen. Es würde Aragorn schon genug Mühe bereiten, den widerstrebenden Elbenprinzen bis zur Höhle oder gar noch weiter weg zu bringen. Hätten sie dafür laufen müssen, wäre es eine sehr mühevolle Reise geworden. So jedoch konnte er Legolas genauso transportieren, wie dieser ihn nach dem Ende der Menschenjagd hierher geschafft hatte.
An jener Stelle nahe des Flusses, wo der Elb ihn so unsanft vom Pferderücken befördert hatte, lagen ein etwas längerer, stabil aussehender Ast und das Seil, das sonst immer seitlich am Sattel des Pferdes befestigt gewesen war.
Stirnrunzelnd ging Aragorn zu dieser Stelle und sah auf die Sachen hinab. Was hatte Legolas nur mit ihm vorgehabt?
Er verdrängte diese Überlegungen schaudernd, griff sich stattdessen das Seil und kehrte zu dem Elbenprinzen zurück, der weitere Zeichen des Erwachens erkennen ließ.
Es war ein beklemmendes Gefühl, als er Legolas den Bogen samt Köcher und zwei winzige Dolche abnahm, alles zu den Zwillingsdolchen zur Seite legte und ihm dann seinerseits Fesseln anzulegen begann.
Widerstrebend kreuzte er Legolas' Hände hinter dem Körper und fixierte sie so, dass ein Freikommen selbst mit Elbenkräften unmöglich war, dann wiederholte der Waldläufer die Prozedur nach einigem Zögern schließlich mit den Füßen.
Als er fertig war, waren auch seine körperlichen und seelischen Kräfte an ihren Grenzen angelangt.
Sein Kopf schmerzte so sehr, dass er jeden einzelnen Schädelknochen spüren konnte. Die Rippe hatte ihm den heftigen Kampf gleichfalls sehr übel genommen und sandte nun mit jeder Bewegung neue Schmerzen durch den Oberkörper. Am schlimmsten aber war der Durst, der ihn bereits bei seinem Erwachen auf dem Pferderücken gepeinigt hatte, inzwischen jedoch kaum noch zu unterdrücken war.
Aragorn war die Wasserflasche an Legolas' Gürtel aufgefallen, während er den Freund gefesselt hatte. Jetzt erinnerte er sich wieder an sie. Kurzentschlossen löste er sie vom Gürtel des Elben, schraubte sie auf und setzte sie an die Lippen.
Schon nach einem Schluck riss er sie jedoch wieder weg und spukte angewidert aus, was er bereits im Mund hatte.
„Elbereth, das ist Höhlenwasser..."
Er erinnerte sich sofort an diesen eigentümlichen Geschmack. Es war noch frisch in sein Gedächtnis eingebrannt, wie Legolas diese Flüssigkeit seine Kehle hinabgezwungen hatte, ehe er selbst davon trank. Danach war alles nur noch schlimmer geworden.
Jetzt, wo er darüber nachdachte, wurde Aragorn klar, dass sowohl die Veränderung des Elbenprinzen als auch die eigene unerklärliche Panik durch das Wasser des Sees stets stärker geworden waren. Plötzlich begann sich eine Antwort auf die Frage nach dem warum abzuzeichnen: alles schien von diesem seltsamen grünen See auszugehen, der ihn in Gestalt dieser Flasche sogar bis hierher verfolgt hatte.
Die Gefahr, die von ihrem Inneren ausging, ließ es Aragorn schließlich angeraten erscheinen, das Wasser aus ihr auszuschütten, ehe es noch mehr Schaden anrichten konnte. Obgleich der Waldläufer nur wenig Hoffnung hatte, dass allein der Entzug dieses Giftes Legolas sein gewohntes Wesen zurückgeben würde, drehte er die Flasche ohne zu zögern um und ließ den widerlich trüben Inhalt auf den Waldboden laufen.
„Nein!!!"
Eine vertraute, nun hörbar wütende Stimme ließ ihn zur Seite sehen. Legolas war inzwischen erwacht und sah mit Entsetzen, dass Aragorn keinerlei Anstalten machte, aufzuhören.
„Was machst du da? Du hast kein Recht dazu."
Der Elb wollte sich aufrichten, stellte jedoch fest, dass er von Fesseln daran gehindert wurde. Hass lag in den leuchtend blauen Augen, als er, vergeblich mit den Stricken kämpfend, zu Aragorn aufblickte. Der sah in diesem Moment den letzten Tropfen des Höhlenwassers im Waldboden versickern.
Schlagartig wurden die Lippen des Elbenprinzen weiß, so fest presste er sie wütend aufeinander. „Das Wasser gehörte mir."
„Ich habe dich besiegt, also gehört es jetzt mir. Und ich habe entschieden, es auszugießen."
„Oh, so einfach ist das also für dich."
„Sicher!" Gespielt gleichmütig zuckte Aragorn mit den Schultern. „Du warst derjenige, der mit diesem Spiel begonnen hat, also beschwere dich nun nicht. Wie war das noch gleich? Wer gewinnt, dem gehört das Leben des Verlierers und alles, was er besitzt, dazu. Dein Wasser war mein, so wie dein Leben jetzt mir gehört."
In Legolas arbeitete es sichtlich. Mühsam richtete er sich halb auf, behindert von seinen gefesselten Händen, dann starrte er Aragorn verächtlich an.
„Und? Was machst du jetzt mit mir? Alle Menschen sind schwach, das hast du mir bereits durch die Jagd bewiesen. Du wirst dich rächen wollen, nehme ich an. Also, sag schon, was hast du jetzt vor, du...?" Er verschluckte das letzte Wort, das mit Sicherheit nicht schmeichelhaft ausgefallen wäre.
Aragorn blieb, wo er war. Er wirkte äußerlich unbewegt, doch innerlich schmerzten die hässlichen Beleidigungen des Elben ihn mehr, als er es zuvor in seinem ängstlichen Zustand wahrgenommen hatte.
Bereits im Begriff, dem Prinzen seine Absicht mitzuteilen, Elrond um Hilfe zu bitten, verschluckte Aragorn die Antwort wieder, noch ehe sie ihm entschlüpfen konnte. Er hatte gesehen, wie unberechenbar der Elb nun war. Wozu sollte er ihm also das Ziel ihrer Reise nennen? Das gab Legolas nur die Gelegenheit, ihm unterwegs unnötige Schwierigkeiten zu machen.
Wenn er dem Prinzen helfen wollte, durfte dieser nichts wissen. Also schüttelte Aragorn den Kopf. „Das wirst du schon früh genug merken. Und jetzt halt' den Mund, bevor ich meine guten Absichten vergesse."
Legolas zog die verletzte Augenbraue empor, während er dank langsam wiederkehrender Kräfte geschmeidig in eine sitzende Haltung hochkam. Während er, durch die Hand- und Fußfesseln nur zu winzigsten Bewegungen in der Lage, langsam an den Baumstamm zurückrutschte, gegen den Aragorn ihn vor kurzem so hart geschmettert hatte, schnaubte er hochmütig. „Der Tag, an dem du mich einschüchterst, liegt noch in weiter Ferne. So wie jener, an dem Lord Elrond dich vermissen wird, wenn ich mich deiner erst entledigt..."
Der Elb kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Aragorn hatte die Flasche achtlos beiseite geworfen, war mit einem Satz zu Legolas gesprungen und drückte ihn nun nicht eben sehr sanft zurück an den Stamm.
„Sei still oder du wirst die nächste Zeit schlafend verbringen. Ich will dir helfen, doch ich werde dich mit Gewalt zum Schweigen bringen, wenn du deine Zunge nicht im Zaum hältst. Das schwöre ich dir."
Ob es nun die nachdrücklichen Worte waren oder das instinktive Wissen, dass Aragorn seine Drohung ohne zu zögern wahrmachen würde; zum ersten Mal seit Beginn dieses Albtraums wirkte Legolas wieder etwas beherrschter. Zwar irrlichterten weiterhin die unterschiedlichsten Empfindungen über sein ebenmäßiges Gesicht, doch zumindest wahrte er für die nächsten Minuten sein Schweigen.
Während Aragorn sich erschöpft auf einen seitlich liegenden Stamm setzte, den der letzte Sturm umgebrochen hatte, musterte ihn der Elb hin und wieder forschend, sah aber betont gleichgültig durch die Umgebung, wenn sich beider Männer Blicke trafen.
Aragorn wusste, dass er es sich eigentlich nicht leisten konnte, noch länger hier zu verweilen, doch die nun spürbar werdende Schwäche ließ jede Bewegung zur Mühsal werden. Er empfand es schon als Wohltat, einfach nur an Ort und Stelle zu verharren. Am liebsten hätte er die Augen zugemacht und dem immensen Schlafbedürfnis nachgegeben, doch der Heiler in ihm wusste, dass er genau das nicht durfte. So saß er einfach nur da und genoss die Stille dieses Ortes, die nur von Rauschen des reißenden Flusses durchbrochen wurde.
Schließlich spürte er, dass er sich bewegen musste, wollte er nicht im Sitzen einschlafen. Der Rückweg zur Höhle würde bestimmt noch weit genug sein. Immerhin war er stundenlang in kopfloser Panik vor Legolas geflohen, ehe dieser ihn schließlich doch eingeholt hatte. Aragorn wusste zwar nicht, wo er sich gerade befand, denn diesen Fluss kannte er nicht, doch er ahnte, dass er weit von der Felsengruppe entfernt sein musste. Damit war er wieder am Ausgangspunkt seiner Überlegungen angelangt: der Frage nach dem Rückweg.
Vorsichtig schüttelte er den unerträglich schmerzenden Kopf. Er war viel zu erschöpft, um klar denken zu können, und alles Grübeln würde ihn nicht weiterbringen. Außerdem wusste Legolas im Gegensatz zu ihm sicher genau, wie sie die Felsgruppe wiederfinden würden. Und dessen Verlangen, zu dem grünen See zurückzukehren, würde den Elbenprinzen sicher dazu bewegen, ihm nach einiger Diskussion den Weg doch zu beschreiben. Schweren Herzens erhob der Mensch sich wieder und sah flüchtig zu Legolas hinüber.
Der lehnte noch immer am Baumstamm und wich seinem Blick bewusst aus, doch alles an dem Elben, sein gesamtes Wesen, bewies höchste Wachsamkeit.
Lautlos seufzend hob er die nun leere Wasserflasche wieder auf, dann ging er zu Legolas hinüber und blieb vor ihm stehen.
„Du wirst uns beide zurück zu der Felsenhöhle führen."
„Wieso sollte ich das tun?"
„Weil du das..." Aragorn schüttelte die leere Flasche. „...was hier drin war, wiederhaben willst. Ich weiß es und du weißt es."
Der Elbenprinz zuckte kurz mit den Schultern. „Möglicherweise irrst du dich. Wieso sollte einfaches Wasser für mich genug Anreiz sein, dir etwas zu geben, das du willst?"
„Wenn es so wäre, wärst du nicht so wütend geworden, als ich es ausgoss."
Legolas wollte etwas erwidern, ließ es dann aber. Statt dessen sah er kurz zu Boden, dann – überraschenderweise sichtlich ruhiger als zuvor – wieder zu Aragorn zurück. „Befiehlt mir das derjenige, der mich besiegt hat, oder bittet mich ein früherer Freund darum?"
„Du solltest die Antwort darauf selbst kennen!" Aragorn ging neben dem Elben in die Hocke und berührte kurz die Stricke, die dessen Fußgelenke aneinander schnürten. „Die hier wären nicht nötig gewesen, wenn du mich nicht dazu gezwungen hättest. Du hast dir das alles hier selbst zuzuschreiben, aber glaub' mir, ich hasse es mehr, als du je wissen wirst!"
„Soll mich das jetzt versöhnen?"
„Das Letzte, was ich in Moment will, ist mich mit dir zu versöhnen. Nicht nach dem, was du..." Er verschluckte den Rest des Satz, beruhigte sich gewaltsam, dann sah er den Elb wieder an. „Lass uns nicht schon wieder streiten. Ich will genauso zu dieser Höhle zurück wie du, nur aus anderen Gründen, also hör auf, den Sturen zu spielen."
Legolas sah ihn lange gedankenvoll an, dann huschte so etwas wie ein nachsichtiges Lächeln um seine Mundwinkel. Es wirkte fast wieder wie das alte. „Wenn du unser Wasser nicht ausgeschüttet hättest, steckten wir jetzt nicht in dieser Situation, Waldläufer. Vielleicht ist dir das für das nächste Mal eine Lehre!"
Unser... wir... das nächste Mal... Skeptisch ließ Aragorn sich die eben gehörten Sätze noch einmal durch den Sinn gehen. Woher kam der plötzliche Sinneswechsel? Kein Wort war mehr von Rache oder Tod gefallen, keine Beleidigungen mehr gekommen. Sollte es denn wirklich so einfach sein? Genügte es tatsächlich schon, dem Elben das giftige Wasser zu entziehen, um sein altes Wesen langsam wieder zum Vorschein zu bringen?
Irgendwie wollte etwas in Aragorn gern daran glauben, doch sein Instinkt warnte ihn vor dieser leichfertigen Reaktion. Nichts war je so einfach gewesen. So blieb er abweisend und deutete mit einer flüchtigen, aber nichtsdestotrotz schmerzhaften Kopfbewegung auf den Fluss in seinem Rücken.
„Wenn es nur um das Wasser ginge, würde ich nicht fragen. Dort hinten ist genug Wasser für alle Leben Ardas. Nein, ich will zu dieser Höhle zurück, weil ich meine Sachen dank dir dort zurücklassen musste. Sobald wir am Ziel sind, reite ich fort. Dann bist du frei und wir werden uns nie wieder sehen. Das ist der Handel, den ich dir vorschlage. Also, was sagst du?"
„Ich sage, dass du in diesem Zustand keine halbe Stunde mehr durchhältst. Dann wird es keinen Handel mehr geben, Aragorn. Du bist verletzt, müde und, wenn ich mich recht erinnere, überaus durstig, nicht wahr?"
Der eindringliche Blick des Elben ruhte unverwandt auf dem Menschen, doch er war bar jeder Gefühlsregung.
„Wenigstens gegen den Durst kannst du bereits hier etwas unternehmen. Die Wasserflasche hast du ja schon und dahinten ist das Wasser, nach dem es dich so sehr verlangt. Also, worauf wartest du noch? Geh, stille deinen Durst. Danach reden wir weiter."
Legolas wandte den Blick ab und signalisierte so, dass er es ernst meinte.
Unschlüssig drehte Aragorn die Trinkflasche in den Händen. Es klang so überaus einfach, so verlockend bequem. Ein schneller Gang an den Fluss, seinen Durst stillen, die Flasche auffüllen und sich dann mit einem bereitwilligen Legolas auf den Rückweg machen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Aragorn keinen zweiten Gedanken verschwendet und wäre der Aufforderung gefolgt. Diesmal jedoch zögerte er. Wo war der Haken bei dem Angebot? Was steckte hinter dem plötzlichen Sinneswandel des Elben? Wirklich nur der Entzug des Giftes? Oder war da etwas, das sein schmerzender Kopf schlichtweg übersah?
Noch einmal musterte er den Elben, doch dieser betrachtete seine Umgebung so intensiv, als sähe er Ardas größte Wunder in seiner unmittelbaren Nähe. Den Waldläufer ignorierte er dabei bewusst.
Andererseits: was kann schon passieren, dachte Aragorn, dessen Gedanken sich nur noch mühsam zusammenhängend durch die Schmerzkaskaden in seinem Kopf kämpfen konnten. Legolas hat sich vielleicht wirklich besonnen. Zudem ist er gefesselt und ich habe ihm alle Waffen abgenommen. Bevor er sich befreit hätte, wäre ich zurück.
Diese Überlegung gab zusammen mit seinem brennenden Verlangen nach Wasser und den Resten des einst so wohltuenden, bedingungslosen Vertrauens zu Legolas den Ausschlag.
„Einverstanden. Wir reden weiter, sobald ich die Flasche gefüllt habe."
Legolas erwiderte nichts, sah ihn auch nicht an, und so erhob der junge Mann sich, wandte sich ab und ging zum Flussufer hinunter. Der durch die schweren Regenfälle der letzten Tage stark angeschwollene Fluss peitschte gleichermaßen gegen die steinigen Ufer und die Wurzeln der uralten Bäume, die zu beiden Seiten standen und ihre ausladenden Kronen über sein Bett breiteten.
Das Rauschen der reißenden Strömung wurde mit jedem Schritt lauter und sorgte dafür, dass Aragorn nicht mitbekam, wie sich Legolas in der gleichen Sekunde zur Seite fallen ließ, in der er ihm den Rücken zugedreht hatte.
Während der Waldläufer nichtsahnend neben dem Ufer in die Hocke ging, die Trinkflasche öffnete und schließlich ins Wasser hielt, rollte sich der Elb zu dem Waffenstapel hinüber und fischte trotz seiner gefesselten Händen einen der dort liegenden Dolche heraus. Mit routinierten Bewegungen hatte er rasch seine Stricke zertrennt, dann sprang er auf.
Bereits im Begriff, Aragorn zu folgen, um ihn ein weiteres Mal niederzuschlagen, zögerte Legolas plötzlich. Sein Blick fiel auf den grünbraunen Umhang, der seine Gestalt lose umfing und nur von einer schmalen Mithrilspange am Hals zusammengehalten wurde. Eine neue Idee keimte in seinem Sinn; eine, die ihm ein hinterhältiges Lächeln entlockte. Er steckte den Dolch hinter seinen Gürtel, löste den Umhang von seinen Schultern, nahm ihn in beide Hände, dann hastete er mit lautlosen Schritten an den Fluss.
Aragorn hörte ihn in keinem Augenblick kommen.
Gerade, als er die Flasche aus dem Wasser hob und aus ihr trinken wollte, legte sich von hinten etwas Schweres, Dunkles über seinen Kopf. Die Flasche flog in hohem Bogen davon und versank in den Fluten, während schwerer, aus vielen Fäden gewebter und beinahe wasserabweisend dichter Stoff sich über sein Gesicht legte. Einen Augenblick später wurde das Gewebe blitzschnell um seinen Hals geschlungen und zusammengezogen.
Aragorn musste das Gesicht seines Angreifers gar nicht sehen. Er wusste auch so, um wen es sich handelte. Es gab ja nur eine Möglichkeit...
Warum war ich nur so dumm, Legolas auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen? Fieberhaft überschlugen sich die Gedanken in seinem pochenden Kopf. Wie konnte ich bloß annehmen, er käme zur Vernunft? Und wieso habe ich die Waffen nicht mitgenommen?
Er versuchte nach hinten zu greifen, irgendetwas zu fassen zu bekommen, doch das Einzige, was er ertasten konnte, war ein Handgelenk. Verzweifelt packte er es, versuchte den eisernen Griff zu lösen, mit dem der Stoff zusammengedreht und festgehalten wurde, doch eine Sekunde später bohrte sich ein Daumen schmerzhaft und tief in seinen Unterarm. Der Druck war so stark, dass Aragorn schon ein paar Herzschläge später meinte, dass sich seine Hand gleich vom Arm lösen müsse. Er schrie auf und zog den Arm weg.
„Was soll das?" keuchte er stattdessen und kämpfte weiter vergeblich gegen die Umklammerung an. „Lass mich sofort los!"
Das schwere Material des Umhang dämpfte seine Worte und ließ sie als stickige Atemschwaden an der Haut kleben. Sie waren noch nicht einmal ganz verklungen, als ihm ein harter, gezielter Tritt die Beine unter dem Körper wegriss.
Da er aller Sicht beraubt war, vermochte er den harten Aufprall nur unzureichend mit seinen Händen abzufangen. Erneut sandte die verletzte Rippe neuen Protest aus. Gleich darauf presste ihn ein enormes Gewicht endgültig an den Boden, als Legolas sich auf seinen Rücken kniete und gleichzeitig den Umhang noch enger zusammenwand und schließlich hinter dem Hals verknotete, so dass er nun die Hände völlig frei hatte.
Aragorn versuchte sich gegen die heimtückische Attacke zur Wehr zu setzen. Er hatte vor, seine unterlegene Position zu verbessern, indem er sich zur Seite zu rollen versuchte. Der Elb vereitelte dies, indem er sich kurzerhand auf den Rücken des Menschen setzte, seine Beine links und rechts neben dem Menschen auf die Erde setzte und die Knie zum Stabilisieren von dessen Lage in den Boden presste. Nun war Aragorn praktisch am Untergrund festgenagelt und konnte nichts weiter tun, als unablässig zu versuchen, sich vergeblich mit den Händen vom Boden wegzustoßen.
Langsam machte ihm der dicke Stoff auch das Atmen immer schwerer. Obgleich fast völlige Dunkelheit vor seinen Augen lag, vermeinte er seine Kopfschmerzen als bunte Schlieren vor seinen Augen tanzen zu sehen. Gleichzeitig verstärkte sich die bereits vorher vorhandene Schwäche. Dann ertönte ein zwar nur dumpf vernehmbares, aber hörbar böses Lachen.
„Meine Worte waren gut gewählt, denn du hast mir geglaubt. Du hättest dich sehen sollen! So schnell warst du bereit, alles zu vergessen. Es war beinahe schon zu einfach. Selbst, wenn ich dich leben ließe, würdest du es gar nicht verdienen, denn du weißt dich nicht zu schützen! Doch wer überleben will, sollte zumindest die Grundregeln dafür beherrschen, Aragorn. Nummer Eins: Wende deinem Jäger niemals den Rücken zu! Nummer Zwei: Lass niemals Waffen oder Gegenstände in Reichweite deiner Beute liegen. Nummer Drei und die wohl wichtigste von allen: Glaube deiner Beute nichts! Das klingt alles vertraut, nicht wahr? Besonders das Letzte. Das sollte es auch, denn du hast diese Regeln missachtet. Nun bist du wieder mein Gefangener. Glaube mir, Waldläufer, diesmal werde ich kein Risiko mehr eingehen. Ein zweites Mal entkommst du deinem Schicksal nicht, das schwöre ich bei meinem Namen!"
„Dann schwörst du einen Eid, der die Valar zornig machen wird, denn du schwörst ihn auf einen Namen, der nicht der deine ist. Nicht mehr. Du bist nicht Legolas. Der Legolas, den ich einst kannte, war sanft und gütig, jemand, dem ich mein Leben anvertraut hätte. Das Wesen, das mich jetzt quält, ist die Schlimmste aller Bestien, nicht wert eines so reinen Namens." Es war eine Qual, die stickige Hitze der eigenen Worte so dicht an den Lippen zu spüren, doch der Umhang lag nun fast wie eine zweite Haut über Aragorns Gesicht.
„Sanftmut, Güte und Vertrauen sind etwas für die Schwachen, die zum Untergang bestimmt sind. So wie du." Obwohl der Stoff über Aragorns Ohren den Klang seiner Stimme dämpfte, vermochte er die Verächtlichkeit in Legolas' Stimme nicht zu verbergen.
Aragorn schluckte krampfhaft. Ungebeten schlich sich wieder das Bild des Astes vor sein inneres Auge, den er am Flussufer gesehen hatte. Was auch immer Legolas vorgehabt hatte: er würde es sicher zu Ende führen wollen. Der Gedanke ließ seinen Kampfgeist noch einmal aufflackern.
„All das hier entspricht nicht deinem Wesen. Etwas in dir muss sich doch noch daran erinnern, wer du einst warst. Es kann doch nicht alles verloren sein. Denk nach, Legolas, und erinnere dich an früher. Erinnere dich an all das, was wir zusammen durchgemacht haben. Ich habe dir mehr als einmal das Leben gerettet. Du kannst mich doch nicht einfach so töten. Es gibt sicher noch eine andere Lösung..."
„Eine andere Lösung, um mich endlich von deiner Gegenwart zu befreien? Nein, da fällt mir nur eine ein."
„Aber ich hätte dich gehen lassen, wenn wir die Höhle erst mal erreicht hätten."
„Du hättest mich gehen lassen – und ich tue es nicht. Das wäre eine Schwäche, doch nur die Menschen haben Schwächen. Es ist allerdings ein Jammer, dass ich das erst jetzt begriffen habe. Schwächen muss man ausmerzen, darum werde ich dafür sorgen, dass du vom Antlitz Ardas verschwindest. Und jetzt habe ich dich endgültig satt!"
Noch ehe Aragorn etwas sagen konnte, legte sich ihm etwas über Mund und Nase. Er hatte zwar vorher schon nicht viel Luft bekommen, doch nun bekam er gar keine mehr. Auch wiederholtes Kopfschütteln war vergeblich. Er bekam einfach keine Luft mehr. Rasch erfasste ihn Schwindel und hinzu gesellte sich das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Die zuvor schon verletzte Rippe schmerzte durch Legolas' Gewicht nun unerträglich und Aragorn war fast davon überzeugt, dass sein Schädel gleich in Rauch und Asche aufgehen würde.
Seine mit letzter Kraft geführte Gegenwehr erlahmte ebenso schnell, wie sein Bewusstsein durch die tanzenden hellen Flecken hindurch in die Schwärze der Ohnmacht hinabrutschte.
Als seine Bewegungen ganz aufhörten, wartete Legolas noch ein paar Sekunden, ehe er sich vom nun reglosen Körper des Menschen erhob. Vorsichtig, noch immer auf eine Finte gefasst, entknotete er den Umhang, dann zog er ihn von Aragorns Kopf.
Dessen Gesicht war erschreckend bleich und die Spuren längst getrockneten Blutes auf Hinterkopf und Stirn betonten die Blässe zusätzlich. Die Augen des Mannes waren geschlossen, doch ein schnelles Überprüfen seines Pulses zeigte, dass er noch am Leben war.
„Gut," stellte der Elb zufrieden fest, doch seine Züge waren steinern. „Es hätte meinen Plan ruiniert, wenn du erstickt wärst."
Er stand ein paar Momente neben seinem reglosen Opfer, dann packte ihn neuerlich die Wut darüber, dass Aragorn das Höhlenwasser vernichtet hatte.
„Du hättest es nicht ausgießen sollen, dann wäre dir und mir eine Menge Ärger erspart geblieben."
Feindselig sah er zu seinem einstigen Freund hinab, dann trat er zu.
„Aber nein, du musstest es mir ja unbedingt wegnehmen!"
Legolas' Stiefelspitze traf die Rippen des Menschen ein zweites Mal.
„Und dann wagst du es sogar, mich zu bedrohen!"
Ein drittes Mal fand der Stiefel des Elben sein Ziel im Oberkörper des Mannes. Aragorn rollte unter der Wucht der Tritte zwar leicht zur Seite, der Mensch erwachte jedoch nicht aus seiner Bewusstlosigkeit.
Nun, da der Elbenprinz seiner unmittelbaren Wut Luft gemacht hatte, war er wieder zu jener Art grausam-nüchternen Denkens in der Lage, die sein vormals sanftes Wesen seit der Begegnung mit dem Höhlensee immer nachhaltiger veränderte.
Legolas' Augen verengten sich zu Schlitzen, als er den leblosen Menschen musterte.
„Wie ich dich kenne, wirst du nicht ewig bewusstlos bleiben. Also sollte ich wohl besser keine Zeit mehr verlieren!"
Der Elb wirkte beinahe erwartungsvoll, als er die Reste seines Seils und den zuvor so sorgfältig ausgesuchten Ast herbeiholte und dann damit begann, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
-x-x-x-
Etwa zwei Stunden von dieser Stelle entfernt bewegte sich auch eine Gruppe berittener Männer langsam durch die Wälder. Durch den tagelangen Regen war der Waldboden morastiger gewesen als erwartet. Da Cobiarh nicht riskieren wollte, dass sich eines der Reittiere in der Nachtfinsternis unrettbar verletzte, hatte er zugestimmt, die Pferde nur langsam voranzutreiben. Bei den ersten Strahlen der aufkommenden Tageshelligkeit hatten sie ihr Tempo erhöht. Schließlich hatten Cobiarhs Männer sogar ihre Fackeln löschen können.
Sie hatten die beiden Flüchtlinge durch die Verzögerung zwar noch nicht eingeholt, aber das konnte nicht mehr lange dauern. Nun sahen auch die unerfahrensten Fährtenleser unter ihnen die dunkle Spur, die sich über die ansonsten taubenetzte und somit hellere Moos- und Pflanzenwelt zog und noch immer unverwandt auf das Elbental zuhielt.
Cobiarhs Stimmung war im Verlaufe der Nacht immer brütender geworden. Längst waren es nicht mehr nur gekränkte Eitelkeit und der Zorn darüber, von seiner Auserwählten abgewiesen worden zu sein. Inzwischen war daraus der Gedanke an Rache geworden. Niemand durfte ihn, den mächtigen Stadtamtmann Cobiarh, derart lächerlich machen, ihm noch vor der Ehe Hörner aufsetzen und öffentlich bloßstellen, wie Clary und ihr Geliebter es gewagt hatten.
Sie sollten das büßen. Cobiarh wusste zwar noch nicht wie, doch wenn die zwei erst mal gefasst waren, würde ihm schon etwas Passendes einfallen. Die Erzählungen der Männer würden dies später zu einer Mahnung für die Stadtbewohner machen.
Die Pferde der Männer hatten während der gesamten Nacht keine Pause bekommen. Nun schnaubten sie müde und ihre Bewegungen wurden zusehends langsamer. Lange hatten die Männer das schweigend mitangesehen, doch als die Flanken der Tiere schließlich zu zittern begannen, wagte einer der Männer es, zu Cobiarh aufzuschließen.
„Herr, die Pferde sind erschöpft. Sie brauchen eine Rast, sonst tragen sie uns nicht mehr viel weiter." Dass auch die Männer müde waren, erwähnte der Reiter dabei wohlweislich nicht.
Cobiarh wollte ihn unwirsch zurechtweisen, doch dann tat er es nicht. Sein Blick ging die Fährte der Flüchtlinge entlang. Sogar er, der nur selten aus der Stadt kam, konnte die Spur der beiden nun sehen. Sie konnten nicht mehr weit vor ihnen sein. Was schadeten da schon ein paar Minuten Rast? Außerdem konnte man nie wissen, ob man die Kraft der Tiere nicht für seine Rachepläne brauchen würde. So nickte er zur Überraschung des Mannes.
„Gut. Zehn Minuten. Dann brechen wir wieder auf."
Dankbar stiegen die Reiter ab, um ihren Tieren und sich ein wenig Schonung zu gewähren. Cobiarh tat es ihnen gleich, doch er bewegte sich ein Stück von den anderen weg, seitlich an der Fährte entlang, die zu kreuzen er sich hütete.
Warte nur, Clary, dachte er, blieb stehen und starrte in die Dunkelheit des Waldes hinein. Bald... bald ereilt dich dein Schicksal. Dich, das Kind unter deinem Herzen... aber vor allem denjenigen, der es gewagt hat, dich mir wegzunehmen. Ich werde mir eine Strafe für euch ausdenken, an die man noch lange denken soll.
Ein Hauch von Zufriedenheit ließ das Gesicht des Mannes kurz aufleben, ehe er sich – nun wieder beherrscht – umwandte und zu den anderen zurückging.
-x-x-x-
Es war das schlimmste Erwachen seit den Tagen, die Aragorn in der Gewalt der Südländer verbracht hatte.
Zunächst waren da nur dieser grelle, verzehrende Schmerz in seinem Schädel und eine unerklärliche, schneidende Kälte in seinem gesamten Körper, doch erst das laute Rauschen in seiner unmittelbaren Nähe holte Aragorn schließlich in die Wirklichkeit zurück.
Vorsichtig öffnete er die Augen.
Undurchdringliche Finsternis umgab ihn, deren Ursprung sich seinen nur zögernd wieder funktionierenden Sinnen zunächst nicht erschloss. Dafür spürte er, wie eisiges Wasser ihn bis auf Höhe der Achseln umgurgelte und vereinzelte Spritzer sogar bis in sein Gesicht gelangten.
Er hob seinen Kopf, dessen Kinn bis eben noch dicht über den Fluten gehangen hatte, und bewegte ihn probeweise hin und her. Das schmerzhafte Pochen hinter seiner Stirn ebbte zwar auf ein erträgliches Maß ab, doch um ihn herum blieb es nach wie vor dunkel. Irritiert versuchte er die Schwärze mit seinen Blicken zu durchdringen – und begriff erst jetzt, dass sie von einem Tuch stammte, das fest über seine Augen geschlungen worden war.
Der Waldläufer wollte danach greifen, es entfernen – und stellte fest, dass er eben dies nicht konnte. Erst jetzt, nachdem der anfängliche Schock durch das eisige Wasser zögernd nachließ, nahm er wahr, dass sein gesamtes Körpergewicht an seinen Armen hing. Diese waren wiederum über seinen Kopf gestreckt und weit von einander entfernt mit den Handgelenksrücken an etwas Hartes, dem Gefühl nach Hölzernes, gefesselt worden. Jetzt wusste Aragorn, wozu der Elb den Ast gewollt hatte, der so harmlos neben dem Seil gelegen hatte.
Vergeblich zerrte er daran. Die Bewegungen ließen die Stricke, die sich durch sein Gewicht ohnehin bereits ins Fleisch einschnitten, noch tiefer eindringen.
Was ist hier los? dachte er und konnte nicht verhindern, dass neuerliche Panik sein durch die Kälte des Wassers bereits heftig schlagendes Herz weiter anspornte.
Bruchstückhaft ordneten sich die Erinnerung an das Vorgefallene ein weiteres Mal zu einem Bild. Die Höhle, die Jagd, sein Erwachen am Fluss, der erfolgreiche Kampf mit dem Elben, der unerwartete Angriff, dem er nicht viel entgegenzusetzen gehabt hatte, schließlich dieses hassenswerte Gefühl, erstickt zu werden, ehe die Bewusstlosigkeit ihn verschlang. Plötzlich ergab alles einen albtraumhaften Sinn, der sich mit einem einzigen Wort beschreiben ließ...
„Legolas?"
Seine Stimme war so leise, dass er sie durch das Rauschen des Wassers selbst kaum hörte, doch der Elb musste sich in seiner unmittelbaren Nähe befinden, denn zu Aragorns Überraschung kam gleich darauf von über ihm eine Antwort.
„Ich dachte schon, du würdest nicht mehr erwachen und mich so um meinen allerletzten Triumph bringen. Um so angenehmer ist es, dass ich ihn nun doch noch erleben kann, ehe ich zur Höhle zurückkehre."
„Hol' mich raus und binde mich los. Das kannst du nicht ernst meinen. Wir können doch über alles reden."
„Reden, reden. Mehr fällt dir nicht ein."
„Mehr ist auch unter vernünftigen Wesen nicht nötig. Der Legolas, den ich einst kannte, dachte ebenso. Er war weise, vermochte seine Worte klug zu gebrauchen und wusste um ihren wahren Wert. Man suchte seinen Rat, vertraute ihm..."
„Kann dein menschlicher Verstand nicht begreifen, dass es diesen schwächlichen, lächerlichen Elbenschatten nicht mehr gibt?"
Es war zwar unklug, in seiner Lage noch einen Streit zu beginnen, doch Aragorn wusste, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Wenn Legolas ihn in dieser Situation beließ – und etwas in dem Menschen spürte, das genau so etwas geschehen würde –, erwartete ihn ein qualvoller Tod. Er würde in den Fluten des reißenden Flusses ertrinken, ohne die Möglichkeit zu bekommen, sich zu befreien, und niemand würde je erfahren, wo er geblieben war.
„Dieser Elbenschatten, wie du dich nennst, war mein Freund. Er war sogar bereit, mir nach Valinor zu folgen, als er im letzten Jahr glaubte, ich sei tot, und ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen, wenn er mich darum gebeten hätte."
„Dann bittet er dich jetzt, zu sterben. Erfülle dem Bild, an das du dich so törichterweise klammerst, diesen einen Wunsch."
„Du Ungeheuer..."
Mitten im Satz schlug eine Welle eisig kaltes Wasser über Aragorn zusammen. Es drang in seinen Mund und füllte ihn sekundenschnell völlig aus. Wie ein Erstickender riss er ihn instinktiv auf und schnappte nach Luft – um einen Augenblick später weiteres Wasser direkt hineinzubekommen. Hustend spuckte er alles wieder aus, bis er endlich die Kehle wieder frei hatte.
Legolas hatte gewartet, bis er Aragorns voller Aufmerksamkeit wieder sicher sein konnte.
„Ich bin bei weitem nicht das Ungeheuer, für das du mich hältst. Eigentlich hatte ich vor, dich hier deinem Schicksal zu überlassen, doch etwas Störendes in mir... nenne es den Rest des früheren Legolas, den du ja so vermisst ... bestand darauf, dir eine Chance zum Überleben zu geben. Sie ist winzig, zugegeben, aber es gibt sie. Immerhin schuldet dir mein früheres Ich ja tatsächlich noch sein Leben. Das soll nicht vergessen sein."
„Was hast du also mit mir vor?" Aragorns Stimme klang rau, als hätte er sie monatelang nicht gebraucht.
„In deiner... nun, sagen wir ... gerade noch möglichen Reichweite habe ich lose einen Dolch angebracht. Schaffst du es, ihn zu finden und an dich zu bringen, ehe das Wasser über deinen Kopf steigt, kannst du deine Fesseln durchtrennen und ans Ufer schwimmen. Falls du dabei nicht ertrinkst, so wie gestern beinahe im Höhlensee, steht es dir frei, zu gehen, wohin du willst. Nur hüte dich, mir dann noch einmal zu begegnen. Ein zweites Mal würde ich dein Leben nicht verschonen. Schaffst du es jedoch nicht, die Waffe zu finden..."
Legolas lachte leise. Es war ein abstoßender Laut, denn der einst reine Klang der elbischen Stimme war nun erbarmungslos wie das Lachen eines siegessicheren Ork.
„...nun, dann sollte es wohl nicht sein. Es war ja ohnehin meine Absicht, dein wertloses Leben auszulöschen."
Der Waldläufer wollte nicht glauben, was er eben gehört hatte, doch die Lage, in der er sich befand, sprach eine eindeutige Sprache.
„Das..." Er schluckte. Was sein einstiger Freund ihm anzutun im Begriff stand, war so unfassbar, dass sein Hirn trotz der Eindeutigkeit der Situation Probleme hatte, es als Wirklichkeit hinzunehmen. „Das kannst du nicht tun. Das ist grausam, unmenschlich..."
„ICH BIN KEIN MENSCH!" Der junge Mann erkannte am hörbaren Ärger des Elben, wie sehr dieser schon von seinem alten Selbst entfernt war. „Hast du es denn immer noch nicht begriffen? Ich bin ein dir und deinesgleichen weit überlegenes Wesen, das sich bei den Valar das Recht auf ewiges Leben verdient hat. Du hingegen hast durch deine Schwäche kein Anrecht darauf und es ist MEIN Vorrecht – das des Stärkeren – es dir zu nehmen. Auf jede Art, die mir beliebt. Du bist die Chance, die ich dir gebe, im Grunde gar nicht wert."
„Du bist wahnsinnig. Dieses verfluchte Höhlenwasser ist schuld. Es hat dich zu einem Monster gemacht..."
Erneut ließ ihn ein Wasserschwall spucken. Aragorn konnte spüren, dass der Fluss langsam weiter anschwoll. Krampfhaft hob er seinen Kopf an, soweit er es vermochte, doch weit kam er damit nicht. Die Art, in der Legolas ihn an den Ast gefesselt hatte, machte es Aragorn unmöglich, an irgend etwas Halt zu suchen, denn seine Hände schlossen sich nur um Luft. Selbst wenn er es geschafft hätte, sich an etwas festzuhalten: seine Kraft hätte nicht ausgereicht, um sich hochzuziehen. Vage spürte er, dass auch seine Füsse gefesselt waren, doch die von der Kälte herrührende Taubheit verhinderte, dass er fühlte, wie eng der Elb die Stricke gezogen hatte.
„Ach ja, das Wasser."
Legolas' Stimme klang nun wieder so unbewegt wie zu Beginn dieses schrecklichen Gespräches.
„Allein für die Tatsache, dass du es ausgegossen hast, verdienst du den Tod, denn darum muss ich bald zur Höhle zurückkehren. Dabei wäre ich gern hier geblieben und hätte dir bei deinem letzten Kampf zugesehen. Aber ich kann und will das Wasser nicht länger entbehren. Mein Körper verlangt danach, alles in mir vergeht vor Begierde, jene Stärke zu erneuern, die aus dem See kommt und von der du schwacher Mensch niemals eine Vorstellung haben wirst. Du weißt nicht, wie es ist, das Leben, die Kraft und jede einzelne Faser seines Körpers spüren zu können. Du weißt nicht, wie es ist, allen überlegen zu sein. Du hast nur Worte. Ach ja, und deinen Durst, wenn ich mich recht entsinne."
Unerwartet spritzten eisige Wassertropfen in Aragorns Gesicht, doch die Augenbinde verhinderte, dass er die Hand des Elben sah, die sie spielerisch dorthin schleuderte. So erwartete er einen neuerlichen Schwall Flusswasser und war sichtbar erleichtert, als der ausblieb.
Legolas, der bäuchlings auf einem der stärkeren Äste lag, die von den alten Baumkronen weit über den Fluss reichten, studierte den vor Kälte und Hilflosigkeit zitternden Menschen. Er hatte dessen aussichtloses Ringen genießen wollen, doch nun mischten sich zwiespältige Gefühle darunter.
Störende, schon überwunden geglaubte Zweifel hinterfragten sein Handeln. Es war beinahe, als könne er den schwachen Elben, der er bis gestern gewesen war, wieder in sich spüren. Gegen seinen Willen kamen Erinnerungen auf, die von den gewalttätigen Bildern in seinem Kopf begraben worden waren. Die Ereignisse, von denen Aragorn gesprochen hatte, wurden plötzlich wieder real und für den Bruchteil einer Sekunde sah Legolas sich selbst mit den Augen seines alten Ichs.
War das, was er vor sich sah, wirklich das Produkt seines Geistes, das Werk seiner Hände? Steckten denn tatsächlich derartige Abscheulichkeiten in ihm? Fast meinte der Elbenprinz, an dem überwältigenden Gefühl von Schuld und Scham ersticken zu müssen, das angesichts seiner Taten aufkommen wollte.
Er streckte die Hände aus, wollte den Menschen befreien – doch schon eine Sekunde danach war alles wieder vergessen und es gab wieder nur das inzwischen vertraut gewordene Gefühl von grenzenloser Macht, Stärke und Überlegenheit.
Das Dunkle, das Einzug in Legolas' Seele gehalten hatte, übernahm ein weiteres Mal die Kontrolle seines Wesens und bewirkte, dass der Elb sich an der hoffnungslosen Situation Aragorns weidete.
„Wo war ich? Ach ja... Du hattest Durst, nicht wahr?"
Unerwartet fühlte der Waldläufer, wie ein Handrücken über seine Wange fuhr. Da Aragorns Nerven zum Zerreißen gespannt waren, empfand er die sanfte Berührung des Elben fast wie einen Schlag. Oft hatte ihn Elronds Hand so getröstet, wenn er als Kind verängstigt oder krank im Bett gelegen hatte. Hier aber, gepeinigt von Erinnerungen an unwiederbringlich Vergangenes und mit dem sicheren Tod vor Augen, war dieser Kontakt schlimmer als Folter.
„Nimm deine Finger weg," fauchte er angewidert und versuchte sich mit heftigem Kopfschütteln von der Berührung zu befreien. Es gelang ihm nicht.
„Nun, nun... nicht so heftig. Darf ein Freund sich nicht vom anderen verabschieden?"
„Du bist kein Freund, sondern eine Bestie, und von einem Abschied sind wir noch weit entfernt. Vergiss meinen Schwur nicht, Elb, und denk daran: ich mag hier sterben, doch meine Seele wird bleiben. Jeden Tag wird sie dich daran erinnern, dass eines Tages auch für deine Grausamkeit das Ende kommen wird. Ich weiß, dass man dich so jagen wird, wie du mich gejagt hast. Und man wird dich zur Strecke bringen. Das reine, lichte Wesen des wahren Legolas muss noch in dir sein und es wird befreit werden. Erst dann wird meine Seele fortgehen."
„Das sind große Worte. Für jemanden, der gleich sterben wird, zu groß. Trink lieber einen Schluck Wasser, statt soviel zu reden." Legolas lachte wie über einen gelungen Scherz. „Bis an dein Lebensende hast du davon ja jetzt genug, kann man sagen. Für mich allerdings wird es Zeit, zu gehen, denn auch mein Durst ist unerträglich."
„Du bist süchtig, ein Sklave dieses Sees, siehst du das denn nicht?" Ein allerletztes Mal versuchte Aragorn zu dem Elben durchzudringen. „ Willst du dich den Rest deiner Jahre an ihn ketten, bis du wie eine Kreatur der Finsternis in dieser Höhle dahinvegetierst? Das Gift dieses Sees ist es, das dich zu der Bestie gemacht hast, die du nun bist. Binde mich los. Ich werde dir helfen, seinem Einfluss zu entkommen. Zu zweit können wir es schaffen..."
„Dein ach so geschätztes Reden, teurer scheidender Freund, ist es, das dich dein Leben kosten wird, nicht mein Handeln."
Das bis zu diesem Moment andauernde Streicheln hörte auf. Statt dessen tippten Fingerspitzen auf die Augenbinde.
„Eigentlich hatte ich vor, sie dir jetzt abzunehmen, denn sie war nur dazu gedacht, dir die Überraschung nicht zu verderben. Deine fortwährenden Beleidigungen zwingen mich jedoch zu einer angemessenen Strafe."
Die Hand wurde fortgezogen.
„Nun wirst du sie weiterhin tragen und den Dolch, der dir Rettung bringen kann, blind finden müssen. Allerdings rate ich dir, dich damit zu beeilen. Das Wasser steigt nämlich schnell. Du kannst es spüren, denke ich. Und nun leb wohl, Waldläufer."
Der spürte ein fast unmerkliches Vibrieren in dem Ast, an den er gefesselt war, als Legolas sich von dem seinen erhob und leichtfüßig zum Stamm zurücklief.
„Legolas!" Voller Verzweiflung versuchte Aragorn den Elben zurückzuhalten, doch dieser blieb nicht einen Augenblick stehen, sondern kletterte mühelos am Baum hinab. „Legolas, warte! Komm wieder! Du kannst mich doch nicht so zurücklassen! Lee-gooo-laaaas..."
„Leb' wohl, Aragorn!" Die Stimme des Prinzen kam noch einmal leise durch das Rauschen des Flusses hindurch, dann verstummte sie endgültig. Dass der Rappe den Elben gleich darauf davontrug, sah und hörte Aragorn nicht mehr.
„Sei verflucht, du Ungeheuer!"
Aragorn wusste nicht, ob seine Worte noch an Legolas' Ohr drangen, doch seine hilflose Wut wurde vom reißenden Fluss davongetragen und von den eisigen Fluten in seinem bereits gefühllos werdenden Körper eingeschlossen.
„Ein Dolch. Er hat etwas von einem Dolch gesagt," murmelte er und versuchte erfolglos, seine Hände aus den Stricken zu winden. Schließlich stellte er das Zerren an ihnen ein und tastete aufs Gratewohl in der Luft herum.
„Wo ist er?"
Unter derben Flüchen versuchte er seine Handgelenke bis an die Schmerzgrenze zu überdehnen, um die kostbare Waffe zu finden, die er irgendwo in seiner Reichweite wusste.
Während das Wasser bis auf Kinnhöhe stieg und das Taubheitsgefühl in seinem Körper ein beängstigendes Ausmaß erreichte, stieß er ein, zwei Male mit den Fingerspitzen an etwas Hartes, Kaltes. Noch ehe er es festhalten konnte, war ihm dieses Etwas schon wieder entglitten und die Suche begann von Neuem.
Nach vielen vergeblichen Versuchen, ihn zu finden, begriff Aragorn, dass der Dolch, den Legolas ihm hinterlassen hatte, lose vor seinen Händen hing. Um ihn ergreifen zu können, musste er ihn sehen, doch das konnte er nicht. Seine Bemühungen waren durch die verbundenen Augen zum Scheitern verurteilt.
Erschöpfung, die vor Kälte gefühllosen Glieder, der schmerzende Kopf und jene charakteristische zunehmende Schläfrigkeit verrieten ihm, dass er dabei war, einer Unterkühlung zu erliegen. Wenn nicht ein Wunder geschah und Legolas es sich doch noch anders besann oder die Waffe durch das Mitleid der Valar in seine tastenden Hände geriet, würde es nicht mehr lange dauern, ehe er zum letzten Mal das Bewusstsein verlieren würde. Falls das Wasser nicht vorher über seinem Kopf zusammenschlug, hieß das.
Und dafür standen die Chancen wirklich gut, denn inzwischen hatten die schäumenden Fluten fast schon Kinnhöhe erreicht. Immer öfter war Aragorn gezwungen, sein Herumtasten zu unterbrechen, um das Wasser wieder auszuspucken, das ihm in Mund und Nase eindringen wollte.
Inzwischen hatte sich die Sonne über den Horizont geschoben. Nach dem vielen Regen war dies der zweite Tag, an dem sie ihre herbstlich schwachen Strahlen über Ardas Antlitz ergoß.
Auch Aragorn spürte ihre schwachen Strahlen auf seinem Gesicht, doch nur für die Dauer weniger Sekunden genoss er die Wärme. Dann gesellte sich zu diesem angenehmen Empfinden Wehmut. Nie wieder, flüsterte es in seinem Verstand, würde er Sonnenstrahlen auf seiner Haut fühlen. Bald, sehr bald, war sein ohnehin aussichtsloser Kampf vorbei und er musste es zulassen, dass die Fluten sich endgültig über seinem Kopf schlossen. Bereits jetzt war er gezwungen, das Gesicht zum Himmel empor zu drehen, um nicht noch mehr Wasser zu schlucken. Doch diese Haltung kostete ihn Kraft; Kraft, die er nicht mehr besaß.
Ich träumte den Tod, spürte vor einem Jahr schon einmal seinen Atem in mir, doch diesmal ist er es selbst, dachte Aragorn und hörte in plötzlicher innerer Ruhe auf, nach dem Dolch zu tasten. Es wird kein Wunder geschehen, kein höherer Wille dafür sorgen, dass ich einmal mehr mit dem Leben davonkomme. Niemand außer Legolas weiß, wo ich bin. Wenn Vater zur Höhle kommt, wird er mich nicht mehr finden und wenn Legolas es ihm endlich sagt, wird es zu spät sein.
Der Gedanke an Elrond und die Zwillinge verstärkte seine Trauer weiter.
Wie gern hätte ich sie wiedergesehen, den Fuß noch einmal nach Bruchtal hineingesetzt. Erst jetzt weiß ich, wie sehr mir alles fehlt.
Es war seine beste Absicht gewesen, das Tal durch sein Fortbleiben zu schützen, doch nun, wo Aragorn wusste, dass er sein Zuhause nicht mehr wiedersehen würde, bereute er seinen Entschluss plötzlich. Er hatte das Richtige gewollt, begriff er, doch die falschen Methoden gewählt.
Während der Fluss seine Wasserlinie unaufhaltsam weiter an den Rand seines aufwärts gewandten Gesichtes heranschob und sich schließlich sogar in seine Ohren ergoss, ging der junge Mann in Gedanken noch einmal all jene Momente durch, die er in seinem Leben als schön empfunden hatte.
Auch an die Begegnung mit Legolas und beider Freundschaft erinnerte er sich. Zwar hatte diese Freundschaft durch Legolas' mitleidlose Handlungen nun einen tiefen Riss bekommen, doch sie war noch immer nicht völlig ausgelöscht worden. Dazu hätte es der Überzeugung bedurft, dass Legolas seine Grausamkeiten in vollem Bewusstsein beging. Aragorn spürte jedoch deutlich, dass das Gegenteil der Fall war.
Selbst ein Fremder hätte den unheilvollen Einfluss bemerkt, dem der Elb seit dem Kontakt mit dem Höhlenwasser unterlag.
Der Waldläufer bedauerte es aufrichtig, nicht mehr miterleben zu können, wie Elrond dem jüngeren Elben helfen würde, doch er hatte keinen Zweifel daran, dass sein Pflegevater es konnte und tun würde. Und vielleicht, falls Legolas sich später an alles entsann, würde der Elbenfürst dafür sorgen, dass das Böse der Felsenhöhle keine Seele mehr in Besitz nehmen konnte. Wenn es etwas gab, das Aragorn mindestens ebenso sehr erhoffte wie ein Wunder in allerletzter Sekunde, dann die Gewissheit, dass nie wieder jemand so leiden musste wie sie beide.
Besonders Legolas würde die Wirkung des ihn beherrschenden Giftes noch mit voller Wucht zu spüren bekommen: und zwar in jenem Moment, in dem er wieder zu seinem alten Selbst zurückkehrte und sich an dies hier erinnerte. Aragorn hoffte, dass der Elbenprinz dann nicht so allein war, wie er in diesem Augenblick.
Eine erste Welle schaffte es nun, über sein Antlitz hinwegzurollen, und die eisigen Temperaturen des Wassers ließen ihn unwillkürlich nach Luft schnappen.
Es war ein Fehler. Aragorn spuckte das eingeatmete Wasser wieder aus, prustete und schnappte keuchend nach Luft, doch gleich darauf erfasste ihn eine zweite, dann eine dritte Welle.
Der Waldläufer war sich der Worte, die er dem Prinzen in seinem Zorn zweimal geschworen hatte, wohl bewusst, doch nun war jene Wut fort; davongeschwommen in diesen Wassern, die bald auch seinen letzten Atem davontragen würden.
Und plötzlich tauchte wie aus dem Nichts Furcht auf. Kein Traum, kein Scheintod hatte ihn auf diesen Moment vorbereiten können, in dem man den Tod zum ersten Mal nach sich greifen fühlt. Einem tief verwurzelten Überlebenswillen gehorchend, zerrte er erneut an den Stricken, die ihn an den Ast banden, um dennoch zu wissen, dass es umsonst sein würde.
Der Fluss hatte nun eine Höhe erreicht, dass sein Gesicht kaum noch an die Luft gelangte. Immer wieder zog er sich, den zweifelhaften Halt seiner gefesselten Handgelenke nutzend, ein winziges Stück in die Höhe, um keuchend Atem zu holen, doch die Abstände dazwischen wurden immer länger.
Bis der Augenblick kam, in dem Aragorn es nicht mehr an die Oberfläche schaffte und sein nach Luft hungernder Körper ohne Nachschub blieb.
Es war kaum einen Tag her, dass er das schreckliche Gefühl des Ertrinkens schon einmal verspürt hatte, und auch diesmal rasten seine Gedanken wie wahnsinnig durch seinen Verstand. Er kämpfte gegen das Verlangen, unter Wasser atmen zu wollen, doch als die brennenden Lungen seine Kehle zu zerreißen drohten, ergab er sich dem Unabwendbaren.
Im allerletzten Moment, jenem, der dem Beginn des Sterbens vorausgeht, wurde Aragorn im Geiste noch einmal zu einem Kind, das sich in die schützende Umarmung der Eltern träumt.
Vater, hilf' mir...
Die Worte blitzten durch seinen Sinn und ließen Elronds Bild vor seinem inneren Auge auftauchen. Er konnte den Elben plötzlich nicht nur sehen, sondern auch die sanfte, wissende Stimme hören, die ihn schon so oft in seinem Leben getröstet hatte.
„Ganz ruhig, Estel, alles wird wieder gut. Glaube mir..."
Aragorn legte alles, was von seinem Vertrauen noch übrig war, in die Illusion der Stimme des Elben ... und ließ los. Während seine hektischen Bewegungen langsam im eisigen Wasser erstarben, spürte er die in ihn einziehende Ruhe des letzten Vergessens. Dann wurde er still...
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Auch über Legolas' Antlitz streichelten die Sonnenstrahlen, doch anders als Aragorn, der ihre Wärme in seiner Lage als Trost aufnahm, empfand der Elbenprinz sie als zu grell. Seine Gedanken waren bereits dabei, den Fluss und Aragorns Situation zu vergessen. Statt dessen drehte sich alles in Legolas nur noch um eine Sache: den See.
Die Muskeln in seinem Körper brannten wie nach einer übermächtigen Anstrengung und seine Haut fühlte sich bei der kleinsten Berührung an, als hätten spitze Bachkiesel stundenlang darüber gerieben. Am schwersten jedoch fiel es dem Elb, den Durst zurückdrängen. Er träumte davon, ihn mit dem wohltuend kühlen und längst nicht mehr modrig, sondern samtig mild schmeckenden, Wasser des Sees zu stillen. Selbst der bloße Gedanke an das grüne Schimmern und die schattenspendende Höhle war schon ein Vorgeschmack auf diese Wonne.
So ließ Legolas die Zügel ein weiteres Mal auf den Pferderücken klatschen, woraufhin das Tier noch schneller als zuvor zwischen den Bäumen hindurchgaloppierte. Und mit jedem Schritt, den ihn das Pferd vom Fluss forttrug, rückte Aragorns Misere ein Stück weiter in den Hintergrund seines Denkens, verblassten dessen verzweifelte Worte ein wenig mehr. Das Band, das ihn bisher mit dem jungen Menschen verbunden hatte, begann endgültig zu zerfasern...
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Auch an einer weiteren Stelle in diesem Wald wurden die wärmer werdenden Sonnenstrahlen begrüßt, doch hier waren es zwei müde Augenpaare, in denen sie sich spiegelten.
Miro und Clary waren nach ihrer kurzen Rast ohne weitere Pausen durch den dunklen, schweigenden Wald gelaufen, hatten sich ihren Weg durch weitere Farnwälder, über vom Regen morastig gewordene Moosflächen und durch uralte, dicht beieinander wachsende Baumgruppen hindurch gesucht. Dabei war nach Clary auch Miro schließlich über die Maßen ermüdet. Nun, da das Licht eines weiteren Tages ihnen mehr von ihrer fremden Umgebung enthüllte, spürten die beiden, dass sie ans Ende ihrer Kräfte gelangten, doch sie setzten ihre verzweifelte Flucht unverdrossen fort.
In der Nacht hatte Miro sich nur auf Verdacht orientieren können. Nun wies ihm die aufgehende Sonne die richtige Richtung. Dennoch wurde er die Angst nicht los, dass sie an Bruchtal vorbei liefen.
Als hätte Clary seine Gedanken gelesen, blieb sie in diesem Augenblick schwer atmend stehen und sah ihren Begleiter erschöpft an.
„Sag mir, dass es nicht mehr weit ist."
„Der größte Teil des Weges müsste eigentlich hinter uns liegen," umging Miro eine direkte Bestätigung und hoffte, dass das der Wahrheit entsprach.
Clary durchschaute sein Ausweichmanöver mühelos.
„Du weißt also nicht, wo wir sind," stellte sie fest, ließ sich auf den nächsten Baumstumpf sinken und sah dann zu ihm hoch. „Es ist sinnlos, Miro, sieh das ein. Wir haben die Orientierung verloren und kommen kaum noch voran."
Der Mann ließ sich neben ihr nieder. „Es ist nicht sinnlos. Sag so etwas nicht. Wir müssen nur eine weitere Rast machen, Kräfte sammeln... Jetzt, bei Tageslicht, kann ich mich an der Sonne orientieren und die Richtung genauer einschätzen. Spätestens gegen Mittag müssten wir eigentlich auf die Wächterpatrouillen der Elben stoßen. Dann sind wir in Sicherheit, Clary. Vertrau mir!"
„Das tue ich, sonst wäre ich nicht hier." Eine schmale, schmutzige Frauenhand strich durch feuchtes, ungeordnetes Haar. „Es ist nur..."
Sie verstummte.
„Es ist nur... was?" hakte Miro nach, nahm ihre Hand in die seine und küßte flüchtig die Fingerspitzen.
„Ich werde die Furcht nicht los, dass wir uns vergeblich so schinden, dass trotzdem alles umsonst sein wird. Man hat meine Flucht inzwischen mit Gewissheit bemerkt, und bestimmt sind uns schon Cobiarhs Männer auf den Fersen. Er hat viele Leute unter seinem Kommando, Miro, fähige Leute, die zu allem entschlossen sind, wenn man es ihnen sagt."
„Das bin ich auch, sonst würde ich dich ja nicht so zur Eile drängen. Dieser widerliche Fettsack bekommt uns nicht, das habe ich dir geschworen. Und ich werde dieses Versprechen halten. Doch dafür müssen wir weiter. Komm!"
Er wollte sie hochziehen, doch Clary rührte sich nicht.
„Bitte... gib mir erst die Wasserflasche, Miro. Ich habe solchen Durst."
Ohne weiteres nestelte Miro wie schon etliche Male zuvor auch diesmal die Lederflasche aus seinem Rucksack, doch statt sie weiterzureichen, schüttelte er sie lauschend. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes, als er mit den Schultern zuckte. „Sie ist leer, fürchte ich."
Clarys Miene spiegelte deutliche Enttäuschung wider, doch nach hörbarem Seufzen riss sie sich zusammen und erhob sich tapfer.
„Dann muss es auch ohne Wasser gehen, schätze ich."
Sie wollte auf ihn zu und an ihm vorbei weitergehen, doch Miro hielt sie auf und schüttelte den Kopf.
„Nein, muss es nicht. Wenn wir so dicht am Elbental sind, wie ich denke, müssen hier auch Flüsse oder Bäche in der Nähe sein. Anderenfalls gäbe es in Bruchtal nicht so viele Wasserfälle. Weißt du was? Du wartest hier und ich sehe mich mal in der Umgebung um. Dabei finde ich bestimmt einen Bach, an dem ich unsere Trinkflasche auffüllen kann."
Wenn er geglaubt hatte, Clary mit dieser Ankündigung beruhigen zu können, so sah Miro sich gründlich getäuscht, denn im nächsten Moment lief die Frau los, als wäre seine Ankündigung eine Aufforderung für sie gewesen.
Clary war schon ein paar Schritte an ihm vorbei, als sie bemerkte, dass ihr Geliebter ihr nicht folgte. Überrascht blieb sie stehen und sah zu Miro zurück. „Was ist? Warum kommst du nicht?"
„Weil ich es für besser halte, wenn du hier wartest, während ich..."
„Ich soll hier bleiben, während du in einem dir völlig fremden Wald unterwegs bist und dabei möglicherweise die Orientierung verlierst?" protestierte sie, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn entschlossen an. „Dann sitze ich bis an in alle Ewigkeit hier, weil du den Rückweg nicht findest. Oder Cobiarh erwischt mich vorher. Und beides ist keine sehr angenehme Aussicht. Nein, Miro, begreife es endlich: wenn wir etwas tun, dann zu zweit oder gar nicht!"
„Du hast ja viel Vertrauen in meine Fähigkeiten," stellte der junge Mann etwas beleidigt fest, beugte sich ihren Argumenten jedoch, indem er sich an ihre Seite gesellte und dann den kurz zuvor unterbrochenen Marsch wiederaufnahm. „Darüber müssen wir noch einmal reden, wenn wir in Bruchtal sind."
Schweigend setzten sie ihre Wanderung fort, da sich beide nun darauf konzentrierten, das befreiende Plätschern eines Gewässers zu vernehmen. Es dauerte auch nicht lange, bis sie wirklich etwas hörten.
Aus einiger Entfernung drang ein Rauschen an ihre Ohren, das sich nach ein paar Dutzend Schritten durch Unterholz und Bäume als das eines Flusses entpuppte. Wild peitschen vom Regen angeschwollene Fluten durch ein Bett, das links und rechts von steilen, doppelt mannshohen Hängen abgegrenzt wurde.
„Nun müssen wir nur noch eine Stelle finden, an der wir auch an das Wasser herankommen," stellte Miro fest und ließ seinen Blick in beide Richtungen schweifen. Nach kurzem Überlegen entschied er sich dafür, am Ufer entlang nach rechts zu gehen. Dort schienen sich die Seitenwände langsam der Wasserlinie entgegenzuneigen.
Sie machten sich wieder auf den Weg.
Ein paar Minuten lang folgten sie dem Verlauf des Flusses. Schnell bewahrheitete sich Miros Annahme, denn wirklich neigten Fluss und Ufer sich bald einander entgegen. Einige Male waren sie zwar gezwungen, große knorrige Stämme zu umgehen, die dicht am Ufer wuchsen und ihnen den Weg versperrten, doch ansonsten gestaltete sich ihr Weg recht einfach.
Clarys Müdigkeit war inzwischen so groß, dass ihr Blick ausschließlich an ihren Füßen haftete, damit sie nicht aus lauter Erschöpfung eine hervorstehende Wurzel oder eine abschüssige Stelle übersah und womöglich noch kopfüber in Fluss fiel.
So traf es sie völlig unvorbereitet, als sich unvermittelt Miros Hand auf ihren Unterarm legte und dort hineingrub.
„Ihr Götter..."
Miros Stimme klang so schockiert, wie Clary sie noch nie zuvor vernommen hatte. Unwillkürlich musste sie an Cobiarh denken. In der Erwartung, von ihm gefunden worden zu sein, krampfte sich etwas in ihr zusammen. Aufgeschreckt blieb sie stehen und sah ihn an. Er starrte jedoch geradewegs an ihr vorbei auf einen Punkt, der direkt vor ihnen zu liegen schien.
Die junge Frau folgte seinen Augen – und spürte, wie der Anblick ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Keine zwei Steinwürfe von ihrem momentanen Standpunkt entfernt erblickte sie einen dicken Ast, der vom Stamm einer uralten Eiche über das Flussbett ragte. An ihm war ein zweiter, fast ebenso stabiler Ast befestigt und daran...
Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie begriff, dass sie auf die daran gefesselten Handgelenke eines Menschen blickte, der wieder und wieder mit seinen Fingerspitzen gegen einen dicht vor seinen Händen befestigten Dolch stieß, es jedoch nicht zu merken schien. Im Todeskampf begriffen, wand der Hilflose sich hin und her und versuchte immer wieder, noch einmal mit dem Gesicht an die Oberfläche zu gelangen.
Ein letztes Mal gelang es ihm – und neues Grauen durchfuhr Clary, als sie die Augenbinde sah, die sich um sein Gesicht schlang und jeden Befreiungsversuch für ihn selbst aussichtslos machte.
„Wir müssen ihm helfen..." flehte sie Miro an, ohne sich zu besinnen. Wer immer der Mann war oder was er auch getan haben mochte: einer solchen Grausamkeit konnte und wollte Clary nicht tatenlos zusehen. Miro stand noch immer neben ihr, als hätte ihn der Donner gerührt! „Miro, hörst du nicht? Tu' etwas, ehe er ertrinkt!"
Der junge Mann wandte ihr sein Gesicht zu, doch in seinen Augen mischten sich Entsetzen und völlige Fassungslosigkeit.
„Das kann nicht sein," murmelte er und sah wie in Zeitlupe wieder zu dem um sein Leben kämpfenden Menschen zurück. „Wer kann so etwas Schreckliches nur tun?"
Dass Clary durch die Ereignisse seit ihrer Flucht wirklich gereift war, bewies sie, als sie Miro einen Stoß in die Rippen gab, um ihn aus seiner Benommenheit zu reißen. Für Fragen war später noch Zeit, wusste sie.
„Darüber kannst du später nachdenken," fauchte sie daher und stieß Miro erneut, und diesmal ziemlich unsanft, an.
„Du hast Recht!" Endlich schien ihr Begleiter aus seiner Lethargie zu erwachen. Er begann den Rucksack abzunehmen, als der Fluss endgültig über dem Kopf des Unglücklichen vor ihnen zusammenschlug und seine Bewegungen erstarben...
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Beim Anblick der Felsgruppe waren die drei Elben in tiefes, von schlimmen Erinnerungen belastetes Schweigen verfallen. Sie wahrten es auch noch, als sie ihre Pferde schließlich durch den Zugang in den Felskessel hineinlenkten und dann zügelten.
„Estel?"
Elronds halblaut gerufenes Wort verhallte, doch statt der erhofften Antwort seines menschlichen Sohnes vernahm er die Stimme seines Ältesten.
„Ada, sieh mal. Das da sieht wie Estels Pferd aus."
Mit sicherem Blick hatte Elladan das Reittier Aragorns erspäht. Nun stieg er ab und ging zu ihm hinüber. Die kundige Hand des Zwillings strich dem Tier über Hals und Flanken, dann drehte er sich zu seiner Familie zurück und schüttelte den Kopf.
„In den letzten Stunden ist es nicht geritten worden. Estel ist also schon eine Weile hier."
Auch Elrohir stieg nun ab. „Gut möglich. Immerhin kommen wir spät."
Der jüngere Zwilling ließ seine Blicke gleichfalls durch die Umgebung streifen, bis er schließlich die wenigen Habseligkeiten seines menschlichen Bruders an einer entfernten Stelle des Kessels erspähte.
„Er kann aber nicht weit weg sein. Seine Sachen liegen dort drüben. Wer weiß, vielleicht ist er in der Höhle und hört uns nur nicht. ESTEL?"
Hatte Elrohir erwartet, dass Aragorn sich auf seinen lauten Ruf hin zeigte, so wurde er enttäuscht. Der Platz blieb so verlassen wie zuvor.
„Von Legolas ist auch noch nichts zu sehen. Hmm... Seltsam!" Er streichelte seinem Pferd beruhigend über den Hals, dann wandte er sich Elrond zu. „Was meinst du, Ada, wo mag Estel sein..."
Er verstummte augenblicklich, als er die Blässe sah, die das Gesicht des Elbenfürsten in diesem Augenblick überzog.
„Was ist? Was hast du denn? Geht es dir nicht gut? Sag etwas..."
Aufgeschreckt näherten sich die Zwillinge ihrem Vater.
Dessen graue Augen waren starr auf den Höhleneingang gerichtet, dann stieg er – noch immer wortlos – ab und begab sich langsam, fast zögernd, an die bezeichnete Stelle.
Die Brüder folgten ihm. Erst, als sie unmittelbar davor standen, sahen sie, was Elrond bereits vom Pferderücken aus wahrgenommen hatte.
„Das ist ein Grab," sagte Elladan und mit dem Begreifen wurde seine Stimme tonlos. Er ging in die Knie und besah es sich genauer. Nach kurzer Zeit blickte er wieder auf. Sein Gesicht war nun gleichfalls aschfahl. „Es ist frisch, noch keinen Tag alt."
Elrond wurde wie seine Söhne auch nun noch stärker als zuvor von den dunklen Bildern dieses Ortes geplagt, doch er bemühte sich, zu seinem gewohnten Gleichmut zurückzufinden.
Das ist nicht Estel! Er kann es nicht sein! Es ist niemand hier, der ihn hätte begraben können...
Er litt unter der Unsicherheit dieser Gedanken, und obwohl er wusste, dass sie einen wichtigen Punkt berührten, fand er in ihnen nicht die gewünschte Sicherheit.
„Was ist hier nur geschehen?" Elrohirs Frage klang noch am gefasstesten, doch eine Antwort vermochte Elrond seinem jüngeren Sohn nicht zu geben. Sie lag unter dem Steinhügel der Grabstätte verborgen. Um sie zu bekommen, gab es nur einen Weg...
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Ende Kapitel 5
yavanna unyarima: Vielen Dank für die netten Worte. Die Geschichte hat insgesamt 9 Kapitel.
elitenschwein: Schön, dass auch das 4. Kapitel dir gefallen hat. Miros Rolle war zwar nie in dem Ausmaß geplant, aber der Junge erwies sich als so nützlich, dass er sogar hier nochmal auftauchen durfte.
