Schatten

Eine „Der Herr der Ringe" - Story

von

Salara

Feinarbeit: ManuKu


Willkommen zu Kapitel 7!

Diesmal hat es aber wirklich lange gedauert, bis mich wieder ein Kapitel posten ließ.

Wiederum möchte ich für die tolle Ermunterung der Reviews danken. Die Antworten stehen wieder am Schluss.

Und nun weiter mit der Handlung!

Viel Spaß!


-x-x-x-

Kapitel 7: Eine Sekunde zu spät

-x-x-x-

Die Kühle des Morgens ließ Goradh Cobiarhs Stimmung einem neuen Tiefpunkt entgegensinken.

Entgegen der wiederholten Versicherungen seiner Spurenleser hatten sie die Flüchtlinge noch immer nicht eingeholt. Nun waren sie ihnen schon die ganze Nacht über auf der Fährte, ohne dass sich ein Ergebnis abgezeichnet hätte. Dafür fror er, war müde, verkatert und hungrig. Doch was das Unangenehmste war: er spürte seinen verlängerten Rücken viel deutlicher, als es damals nach der wilden Nacht mit den beiden Freudenmädchen und ihren Weidengerten der Fall gewesen war.

Alles zusammengenommen brachte Cobiarh in die schlechteste Laune, die er je in sich gefühlt hatte. Um sie wieder loszuwerden würde es schon mehr brauchen, als nur Clary und ihren Galan einzufangen. An den beiden würde er seine Laune wieder aufbessern, wenn sie erst einmal in seiner Hand waren. Wann auch immer das sein mochte.

Wenn es nach seinen Spurenlesern ging, hätte dies schon vor Stunden der Fall sein müssen, denn immer wieder hörte er von ihnen die gleichen Worte. Bald, Herr, es kann nicht mehr lange dauern...

Cobiarh schnaubte wütend. Auch diesmal würde es nicht anders sein. Gerade wandte sich einer der Männer, die bis eben aufmerksam den Boden untersucht hatten, zu ihm um. Der einfach gekleidete Mann öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Cobiarhs Geduld war am Ende.

„Wenn du mir noch einmal sagst, dass es jetzt nicht mehr lange dauern kann, vergesse ich mich," fauchte er und merkte an der in ihm empor wallenden Hitze, dass er dabei war, vor Wut rot anzulaufen.

Der Fährtenleser blieb wie angewurzelt stehen, sah unsicher zu seinen Kameraden zurück, ehe er in einer Geste der Unterwürfigkeit den Kopf neigte.

„Es ist aber so, Herr! Sie sind uns keine zehn Minuten mehr voraus, dafür verbürge ich mich!"

„Ach ja?" Wütend zerrte er an den Zügeln des Pferdes, das unruhig zu tänzeln begann. „Womit? Mit deinem Leben etwa?"

„Ja, wenn Ihr es wünscht..." versicherte der plötzlich beunruhigte Mann. Er stand lange genug im Dienste des Amtmannes, um zu erkennen, wann dieser es ernst meinte. Er erbleichte sichtbar, während sich die anderen stumm auf ihre Pferde zurückbegaben.

„Dann hoffe ich für dich, dass du dich diesmalnicht irrst! Anderenfalls werde ich dich vielleicht beim Wort nehmen!"

Cobiarh wartete ungeduldig, bis der Unglückliche ebenfalls aufgestiegen war, dann winkte er ihm zu. „Du reitest voran!"

Das Gesicht des Fährtenlesers war finster, als er den Reitertrupp weiter in den Wald hineinführte und insgeheim zu allen ihm bekannten Göttern betete, dass sie ihm beistanden...

-x-x-x-

Auch Elladans Gesicht verhieß nichts Gutes.

Zwei Armspannen trennten ihn von der Spitze des Messers, das Legolas abwehrend in seine Richtung hielt. Der Elbenprinz hatte sich mit dem Rücken gegen die Felsen gelehnt, um seine Kraft so gut wie möglich zu sparen, doch seine Arme zitterten trotzdem schon beträchtlich. Zwar bemühte Legolas sich, ihn nicht aus den Augen zu lassen, doch immer öfter wollten sie ihm zufallen.

Im Grunde hätte Elladan einfach nur darauf warten müssen, bis Legolas endgültig das Bewusstsein verlor oder nicht mehr genug Kraft besaß, das schwere Zwillingsmesser zu halten. Doch die Worte seines Vaters hatten ihm klargemacht, dass er diese Möglichkeit nicht hatte. Er hörte sie noch immer.

„Beeil' dich, mein Sohn, denn seine Zeit läuft rasch ab..."

So gram er Legolas auch angesichts Aragorns Misshandlung war; den Tod des Elbenprinzen wollte Elladan auch nicht auf seine Seele laden. So stand er also immer noch vor dem Problem, ihn zum einen schnell und ohne Kampf zu entwaffnen, ohne zum anderen dabei selbst verletzt zu werden.

Vater hätte es sicher vermocht, ihm die Waffe aus der Hand zu reden, doch mir fehlt die Wortgewandtheit dafür, fluchte er im Stillen, während er eine Möglichkeit nach der anderen durchging und wieder verwarf. Nichts schien erfolgversprechend zu sein und die Anspannung wuchs mit jeder Sekunde.

„Legolas, sei vernünftig..." versuchte Elladan ein letztes Mal sein Glück, doch der Elbenprinz schnaubte nur schwach.

„Ich habe mein Schicksal selbst gewählt..." Seine Worte waren so schwach, dass Elladan sie kaum verstand. „...nun soll es mich auch ereilen... ich habe es verdient..."

So viel mutlose Lebensüberdrüssigkeit war zuviel für das Gemüt des älteren Zwillings. Zutiefst frustriert drehte er sich auf dem Absatz um und trat mehrfach gegen das nächste Hindernis, das sich fand: einen Felsbrocken, der ihm bis ans Knie reichte.

„Du starrköpfiger Narr! So lass dir doch helfen..."

Flüchtig blickte er über die Schulter zu Legolas zurück, doch dessen Antlitz wirkte bereits unirdisch friedlich und er schien ihn nur noch mühsam im Blick behalten zu können.

Elladan konnte spüren, wie Legolas vor seinen Augen dahinschwand, und das trug nicht eben dazu bei, seine Frustration zu mindern. Er konnte doch nicht einfach tatenlos daneben stehen, auch wenn Thranduils Sohn ihm augenblicklich kaum eine andere Wahl ließ.

Wütend trat er erneut gegen den Felsen, obwohl ihm das in keiner Weise weiterhalf. Lediglich sein Fuß protestierte gegen die rüde Behandlung mit mahnenden Schmerzen.

Noch kein bisschen friedlicher gestimmt, versuchte Elladan den aufgekommenen Zorn zurückzudrängen. Im gleichen Moment blitzte eine Idee in Elladan auf.

Das kann funktionieren, dachte der Zwilling und wog in Gedanken rasch das Risiko gegen den Nutzen ab. Wenn ich schnell genug bin, wird Legolas erst erkennen, was ihn getroffen hat, wenn ich ihn bereits fortbringe...

Diese Überlegung hatte nur eine Sekunde gedauert, dann war die Entscheidung gefallen.

Seine – schlagartig überwundene – Wut durch einen weiteren Tritt gegen irgend ein Hindernis vortäuschend, gelangte Elladan dicht an Legolas heran. Nun trennte nur noch eine Armspanne seinen Fuß von der Spitze des in seine Richtung weisenden Zwillingsmessers. Er kalkulierte rasch und genau, dann trat er ein letztes Mal zu.

Noch ehe Legolas begriff, dass diesmal er das erwählte Ziel war, flog ihm das Messer bereits in hohem Bogen aus der Hand. Weit außerhalb seiner Reichweite blieb es liegen. Noch ehe er die andere Klinge aus der Rückenscheide ziehen konnte, langte Elladan bereits über ihn hinweg. Einige Moment später war Legolas auch sie los. Kurz darauf hatte Elladan ihn vollständig entwaffnet.

„Na, bitte! Das wäre erledigt!" Rasch schob Elladan die Waffen aus der Reichweite des Prinzen. „Und nun komm!"

Der hatte vergeblich versucht, seine Waffen zu sich zurückzuholen. Als er sich überlistet begriff, hob er in einer verzweifelt wirkenden Abwehrgeste gehobenen Hände. „Ich werde mich wehren, wenn du mich fortzubringen versuchst, Elladan!"

Sekundenlang fiel Elladans Blick auf die vor kurzem noch zerschnittene, aber inzwischen schon zuheilende Hand.

Was, in Elbereths Namen, ist zwischen Estel und ihm noch alles vorgefallen, von dem wir nichts wissen?

Nur mühsam riss er sich von dem beunruhigenden Anblick los. „Red' nicht so einen Unsinn!"

Kopfschüttelnd wollte Elladan dem Elbenprinzen aufhelfen, doch der wich hastig weiter vor ihm zurück. Es glich der Panik eines in die Ecke gedrängten Tieres.

„Lass mich zufrieden, Elladan! Du verschwendest deine Großmut." Legolas' Stimme zitterte vor Schwäche. „Meine Taten waren abscheulich und ich verdiene selbst, was ich Aragorn antat. Er ist... war dein Bruder! Du müsstest mich töten wollen, doch du stehst hier und willst mir helfen. Hast du es noch nicht verstanden? Ich bin dein Mitgefühl nicht wert! Also erspar' es uns beiden. Wenn du mir wirklich helfen willst, dann drehst du dich jetzt um, reitest fort und kehrst nie mehr wieder!"

Die kleine Ansprache hatte den Elbenprinzen sichtbar erschöpft. Sein zuvor schon bleiches Antlitz war nun aschfahl. Selbst aus den Lippen war jegliche Farbe gewichen. Auch ohne seine Kenntnisse in der Heilkunst vermochte Elladan zu sehen, dass Legolas' Zustand sich rapide weiter verschlechterte. Neuerlicher Unmut flammte in ihm auf.

„Was du getan hast, kann dein Tod nicht ungeschehen machen, Legolas. Aber ich dachte immer, du seiest jemand, der sich den Konsequenzen seines Handels stellt. Sollte ich mich so geirrt haben?"

„Es ist mir egal, was du denkst," flüsterte der Elbenprinz. „Verschone mich mit deiner Moralpredigt. Geh fort und lass mich in Ruhe den Tod erwarten, den meine Ruchlosigkeit verdient."

Diese Worte rührten etwas in der lichten Seele des Zwillings an. Flüchtige Erinnerungen an vergangene Begegnungen mit Legolas schossen ihm durch den Sinn. Eines hatte sich wie ein roter Faden durch alle hindurchgezogen: das Licht des selbstlosen, gütigen Wesens des Elbenprinzen. Gerade die sensiblen Sinne des Erstgeborenen Volkes vermochten durch nichts über den wahren Kern eines Lebewesens hinweggetäuscht zu werden – und Legolas' Natur war immer von überwältigender Reinheit und Stärke gewesen. Elladans Zorn begann endgültig zu erlöschen.

Zwar wusste er nicht im Einzelnen, was in den letzten Stunden alles zwischen Aragorn und Legolas vorgefallen war, doch eines begriff er: Etwas, das abgrundtief böse war, hatte sich der Seele des Elbenprinzen in den letzten Stunden bemächtigt. In dieser Zeit war Legolas nie er selbst gewesen. Auch jetzt war noch nichts von seinem zutiefst gütigen Wesen zu spüren. Da waren nur noch grenzenloser Selbsthass und der Wunsch, zu sterben.

Trauer über die Qualen, die dieser nun ausstehen musste, bewegte das Herz des ältesten Zwillings und seine Stimme war ganz weich, als er zu reden begann.

„Wenn du etwas nichtbist, dann ruchlos. Mein Bruder vergab seine Freundschaft nie leichtfertig, sondern nur an diejenigen, die sie verdienten. Ich werde seine Entscheidung nicht dadurch entehren, dass ich dich sterben lasse. Das hätte er nämlich nicht gewollt, denn du warst sein Freund."

Durch Elladans Vorhaltungen erinnerte Legolas sich plötzlich wieder an die Worte, mit denen Aragorn ihn verflucht hatte. Er schnaubte kurz, denn zu dem gewünschten zynischen Lachen reichte seine Kraft nicht mehr.

„Du weißt nichts darüber, was er in seinen letzten Momenten wollte. Ich jedoch schon – und es waren keine Worte der Vergebung, die seinen Mund verließen. Es waren dunkle Worte. Aragorn hat mich verflucht, Elladan, und der Fluch beginnt sich bereits zu erfüllen, denn ich erinnere mich nun wieder. An jedes Detail. Und ich ertrage das Monster nicht, das ich in diesen wenigen Stunden war. Dein Bruder hat das gewusst und mir ein Weiterleben gewünscht, denn er wusste, dass es nur eine Sache gibt, der ich nicht gewachsen bin: mein eigenes Gewissen."

„Ich kenne Aragorn viel länger und besser, als du es tust, und weiß, dass du dich irrst, ohne dass ich bei euch gewesen sein muss. Er mag dich verflucht haben, denn das entspräche seiner ungestümen Natur. Doch selbst im stärksten Zorn fühlte sein Herz stets noch für die, die er liebte. Und du warst ihm wichtig. Nichts, was du tun könntest, hätte etwas daran geändert. Ich bin mir sicher, dass er dir..."

Elladan schluckte kurz. Es klang alles so unwiderruflich und tat so schrecklich weh.

„Ich weiß, dass er dir in seinen letzten Augenblicken Hilfe gewünscht hat, nicht den Tod oder endlose Seelenpein. Du denkst anders darüber, doch das ist mir in Moment völlig gleichgültig. Er war mein Bruder und ungeachtet meiner Gefühle werde ich so handeln, wie er es getan hätte."

In einer blitzschnellen Bewegung trat er an den noch immer abweisend wirkenden Elbenprinzen heran. Als dieser ungeachtet seiner sitzenden Position wirklich zu einem abwehrenden Schlag ausholen wollte, fing Elladan den wirkungslosen Hieb mühelos ab und benutzte Legolas' ausgestreckten Arm dazu, ihn zu sich emporzuziehen. Dabei fiel Elladans Blick eher zufällig auf die zerschnittene Hand des Prinzen.

Elbereth, was habt ihr euch nur angetan?

Er schluckte schwer, sagte jedoch nichts.

„Lass mich doch in Ruhe..." Noch ein letztes Mal flammte Gegenwehr in Legolas auf, doch die Schwäche seines Körpers ließ seine Bewegungen wirkungslos an Elladan abprallen, bis er inne hielt.

Ohne zu antworten warf der Zwilling ihn sich gleich darauf über die Schulter und stiefelte zu seinem Pferd.

Mit Elladans erstem Schritt begann die Welt sich um Legolas zu drehen. Schneller und schneller zogen Bäume, Büsche, Felsen und Himmel in einem grausamen Reigen an ihm vorbei. Er wollte ein weiteres Mal gegen diese Missachtung seines Entschlusses protestieren, doch die aufsteigende Übelkeit schnürte ihm so die Kehle zu, dass es kaum noch zum Atmen reichte.

Schließlich glaubte Legolas, es nicht mehr ertragen zu können, doch in eben diesem Moment stoppte Elladan. Mühelos beförderte der Zwilling ihn auf den Pferderücken, anschließend stieg er selbst auf und zog Legolas zum Schluss zu sich empor. Schließlich saß der bereits halb bewusstlose Elbenprinz mehr oder weniger aufrecht vor ihm im Sattel. Elladan zog ihn zu sich heran, bis sein Gewicht schwer an ihm lehnte.

„Meine Seele kannst du dennoch nicht am Fortziehen hindern," flüsterte Legolas mit letzter Kraft. „Über die Macht deines Vaters verfügst du nicht..."

„Hier nicht, das ist wahr." Der Zwilling schlang einen Arm als Halt um den Körper des Prinzen. „In Bruchtal gibt es jedoch etwas, das sie mir verleiht."

Mit seiner freien Hand tätschelte er seinem Reittier sanft den Hals. „Lauf. Kehr zurück nach Imladris!"

Elladan nahm die lose zur Seite hängenden Zügel fest in die Hand.

„Von deiner Schnelligkeit hängt jetzt alles ab!"

Das Tier schnaubte leise, dann setzte es sich in Bewegung. In Sekunden hatte es den Felskessel verlassen und war in das grüne Zwielicht des Waldes eingetaucht.

-x-x-x-

In einiger Entfernung von diesem Ort preschten zwei andere Reiter durch die Waldestiefen: Elrond und Elrohir.

Legolas' knappe Wegbeschreibung und die vage erkennbare Spur seines Pferdes auf dem von tagelangem Regen durchweichten Waldboden genügten den beiden Bruchtaler Elben, um in etwa zu wissen, wohin die Hufspur führte. So nahmen sie sich nicht die Zeit, sie im Auge zu behalten, sondern jagten in halsbrecherischem Tempo zwischen den Bäumen hindurch dem Fluss entgegen. Ihre Gedanken waren jedoch bei Aragorn, dessen Schicksal sie trotz aller Schnelligkeit bereits besiegelt fürchteten...

-x-x-x-

Aragorn hatte sich angeboten, sie nach Bruchtal zu führen und Miro war dankbar darauf eingegangen. Nun würde er nicht länger zum Raten der Richtung gezwungen sein. Immerhin musste Estel ja wissen, wo seine Heimat lag. Das glückliche Ende ihrer Flucht schien in greifbare Nähe gerückt zu sein.

Es schien fast zu schön, um wirklich wahr zu sein. Selbst Clary spürte das unwirklich Einfache dieser Situation und so lag seit der Übereinkunft der beiden Männer tiefes Schweigen zwischen ihnen allen.

Miro und Clary hatten sich inzwischen von den hinter ihnen liegenden Anstrengungen erholt. Nachdem sie Aragorn vergeblich etwas von ihren Vorräten angeboten hatten, kauten sie appetitlos auf dem trockenen Brot ihres Proviants herum. Schon in ein paar Minuten wollten sie ihren Marsch durch den Wald wieder aufnehmen. Sie würden die Kraft brauchen, die das Essen ihnen zurückgab, auch wenn der Magen es ablehnte.

Inzwischen war die Sonne hoch genug an den Himmel gestiegen, um ihre goldenen Lichtschleier zwischen den Bäumen hindurch auf die Erde zu werfen. Es hätte ein idyllischer Ort sein können, doch jedes Knacken des Windes in den trocknenden Zweigen der vielen Bäume ließ die beiden Flüchtlinge misstrauische Blicke in die Umgebung werfen.

Nach dem wohl zwanzigsten Mal war beiden der Appetit endgültig vergangen. Beinahe gleichzeitig verstauten sie ihren mageren Proviant wieder in den Rucksäcken, dann erhoben sie sich und sahen sich stumm an. Den Ausdruck in Miros Gesicht konnte man durchaus schon besorgt nennen, als er den Waldläufer schließlich zaghaft an der Schulter berührte.

„Lass uns aufbrechen, Estel, ich bitte dich. Keine Sekunde länger ertragen wir diesen Ort. Er ist nicht sicher. Etwas in mir spürt das. Clary und ich, wir werden erst im Frieden Bruchtals zur Ruhe zurückfinden, wenn wir uns nicht mehr wie Wild auf der Hatz fühlen müssen."

Aragorn, dessen Gedanken sich bis eben ununterbrochen mit den Geschehnissen der letzten Stunden beschäftigt hatten, löste seinen Blick von den nun wütender als je zuvor tosenden Fluten des Flusses. Nachdenklich sah er die beiden jungen Menschen an. Die Blässe in beiden Mienen kündete von der tiefgehenden Erschöpfung, die ihre atemlose Flucht und der Kampf um sein Leben hinterlassen hatte. Sie brauchten nichts so dringend wie eine lange Rast. Der Ausdruck auf den noch viel zu jugendlichen Gesichtern machte ihm jedoch klar, dass sie entschlossen waren, auch die letzten Reserven aus sich herauszuholen, um sich endlich sicher fühlen zu können.

Er erhob sich. „Dann lasst uns gehen. Je eher wir Bruchtal erreichen, desto eher könnt ihr euch ausruhen." Und desto eher kann Legolas Hilfe erhalten, fügte er in Gedanken hinzu, noch immer bedrückt über den Verlust ihrer Freundschaft.

Die drei wollten sich zum Gehen wenden, als das geübte Ohr Aragorns ein Geräusch vernahm.

Mit dem Wissen um mögliche Verfolger seiner beiden Begleiter und besessen von dem spontanen Gedanken, dass der Elbenprinz womöglich noch einmal zurückkehrte, um sich über den Ausgang seines 'kleinen Spiels' zu informieren, mahnte er Miro und Clary mit einer raschen Geste zur Schweigsamkeit. Dann lauschte er alarmiert.

Nicht allzu weit entfernt wurde das Unterholz des Waldes gewaltsam und in großer Eile durchbrochen. Für die geschulten Sinne des Waldläufers gab es schon nach Sekunden keinen Zweifel mehr daran, dass Reiter sich ihnen näherten. Sie waren schon so nahe bei ihnen, dass ihm nicht einmal mehr genug Zeit blieb, zum genaueren Spähen auf den nächsten Baum zu klettern. Leider wuchs das Gestrüpp in diesem Teil des Waldes so wild und blickabschirmend, dass Aragorn die Näherkommenden erst sehen würde, wenn diese sich ihnen bis auf wenige Pferdelängen genähert haben würden.

Das waren denkbar schlechte Vorraussetzungen, falls seine schlimmsten Erwartungen sich erfüllten. Nach dem Verlauf der letzten vierundzwanzig Stunden hatte Aragorn kaum noch Zweifel daran, dass genau das geschehen würde.

Er brummte verärgert – und erinnerte sich schmerzhafter denn je daran, dass Legolas ihn völlig unbewaffnet zurückgelassen hatte. Hastig flog sein Blick zu Miro, der gerade einen Arm schützend um seine Geliebte legte. In Clarys Gesicht zeigten sich die ersten Anzeichen tiefer Besorgnis. Aragorn unterdrückte ein Seufzen, denn die junge Frau tat ihm leid. Seine nächsten Worte würden sie in ernste Panik versetzen.

„Wir bekommen Gesellschaft," sagte er so ruhig wie möglich. „Ich weiß nicht, wer es ist, aber angesichts eurer und meiner Lage möchte ich vorbereitet sein. Hast du eine Waffe bei dir, Miro?"

Wie erwartet versteifte die junge Frau sich bei seinen Worten sofort, während ihre ängstlich aufgerissenen Augen hektisch durch die Umgebung blickten. Miro indessen nickte, zog seinen Rucksack vom Rücken und begann darin zu kramen. Nach einigen Momenten zog er ein schmales, in einen Lappen eingewickeltes Bündel hervor.

„Da! Das ist alles, was ich habe."

Aragorn nahm das Dargereichte und schlug den Stoff zurück, dann stahl sich ein Wiedererkennen in seine Miene. Er lächelte. In seinen Händen hielt er jenen Dolch, den er Miro gegeben hatte, als sie nach dem Verlassen Ardanehs von zwei Spitzbuben angegriffen worden waren.

„Du hast ihn immer noch?"

„Ich würde mich nie von ihm trennen." Er zuckte mit den Schultern. „Außer in einer Situation wie dieser. Nimm du ihn. Du kannst mit Waffen besser umgehen als ich."

Einen Moment lang tauschten die beiden Männer einen Blick stummen Übereinkommens aus, dann sah Miro sich suchend um. Schließlich nahm er ein recht stabil aussehendes Stück Holz auf, wohl ein vom Wind abgebrochener Ast. Er schwang ihn ein paar Mal versuchsweise durch die Luft, dann nickte er zufrieden.

„Nicht so gefährlich wie der Dolch, aber er hinterlässt sicher auch ganz hübsche Beulen, wenn ich treffe."

Aragorn hatte keine Zeit mehr, ihn an die Existenz solcher Dinge wie Pfeil und Bogen zu erinnern, denn in diesem Augenblick waren die Reiter heran. Sie preschten geräuschvoll durch das Dickicht, das den größten Teil des Flussufers bewuchs, zügelten aber ihre Tiere, sobald sie die drei Menschen erblickten.

Während sie innerhalb weniger Sekunden von mehr und mehr Männern umringt wurden, packte Aragorn den Griff des Dolches fester. Gleichzeitig nahm er eine antrainierte Verteidigungshaltung ein, denn die feindseligen Gesichter der Fremden sprachen eine ebenso deutliche Sprache wie die Waffen, die bei ihrem Anblick gezogen wurden. Der Waldläufer sah Kurzschwerter in den meisten Händen glänzen, doch er beobachtete auch, wie ein Mann bereits nach dem Bogen auf seinem Rücken griff.

Selbst ein unerfahrener Städter wie Miro erkannte auf den ersten Blick, dass ihre Chancen gleich Null standen. Sie waren nur zu dritt und mit einem einzigen, plötzlich winzig wirkenden Dolch bewaffnet, während ihnen mehr als ein Dutzend bis an die Zähne bewaffneter und ziemlich grimmig aussehender Männer gegenüberstanden. Der Kampf, der noch nicht einmal begonnen hatte, war schon so gut wie vorbei.

Hastig wich Mirodas einen Schritt zurück, um sich gleich darauf daran zu erinnern, dass es kein Zurückweichen für sie gab. Der in ihrem Rücken befindliche Fluss kesselte sie wirkungsvoll ein. Schwer wie Blei waren seine Füße, als er sich mit finsterem Gesicht neben Aragorn stellte und mit eher mäßigem Erfolg ruhig zu wirken versuchte.

Der Waldläufer streifte ihn mit einem abschätzenden Blick, um dann Clary anzusehen, die sich instinktiv hinter die beiden Männer zurückgezogen hatte. Mehr denn je sah sie wie ein Reh in der Todesfalle aus.

„Du bist erstaunlich weit gekommen. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Dabei hättest du wissen müssen, dass du mir nicht entkommen kannst."

Der Sprecher dieser Worte hatte sein Pferd einen Schritt nach vorn machen lassen. Nun zügelte er es und sein hasserfüllter Blick ruhte eine Weile auf Clarys Gesicht. Dass er sich der Aufmerksamkeit der beiden anderen dennoch genau bewusst war, sah Aragorn daran, dass der Stadtamtmann kurz zwischen den beiden Männern hin und her blickte, ehe er Clary erneut anstarrte.

„Also, du Hure, welcher ist es? Wer von den beiden hat dich geschwängert?"

Die erbleichte sichtlich, als sie nach einem Moment der Ratlosigkeit endlich begriff, was die Worte hervorgerufen haben mußte.

Die Stadtwache am Tor muss ihm von meinen Worten berichtet haben!

„Herr Cobiarh, es ist nicht so, wie Ihr denkt..." begann sie ihre Lüge richtig zu stellen und verstummte dann. Was auch immer sie sagte, würde umsonst sein. Sie sah es Cobiarh an. Er wollte Rache für seine vermeintlich verletzte Ehre.

Ihre mehr gehauchten als ausgesprochenen Worte waren für Aragorn jedoch genug gewesen. Er nahm den selbstsicher anmutenden Amtmann genauer in Augenschein, mit dem die junge Frau gegen ihren Willen vermählt werden sollte.

Spontane Abneigung, die bis in den tiefsten Grund seiner Seele reichte, durchfloss Aragorn. Zwar hatte er schon feistere Gestalten und wuchtigere Doppelkinne als die Cobiarhs gesehen, doch grausamere Züge hatte nur einer besessen; einer, der seit einem Jahr tot war. Gomar.

Gepackt von unliebsamen Erinnerungen, holte Aragorn tief Luft. Wenn dieser Cobiarh nur halb so rachsüchtig war, wie sein Antlitz es vermuten ließ, stand ihnen Schlimmes bevor. Furcht, genährt von den Bildern seiner Gefangenschaft bei den Südländern, wollte sich Aragorns bemächtigen, doch um ihrer aller Willen drängte er sie zurück. Er durfte nicht daran denken, nicht für den Bruchteil einer Sekunde, sonst würde die mit diesem gedanklichen Rückblick verbundene Pein ihn lähmen – und das wäre ihr aller Verderben. Nein, er musste sich etwas einfallen lassen, etwas, das den beiden jungen Leuten das Leben rettete.

Das Erste, das ihm einfiel, war, den Ärger des Mannes auf sich selbst zu lenken und Miro und Clary damit dessen unmittelbarer Aufmerksamkeit zu entziehen. Das war zwar nicht unbedingt das Klügste, was er je getan hatte, aber zumindest doch ein Anfang! Die beiden würden so zwar nicht fliehen können, doch vielleicht am Leben bleiben. Und er wusste sich seiner Haut schon zu erwehren.

Kurzentschlossen trat Aragorn einen Schritt vor. Mit mehr Selbstsicherheit in der Stimme, als er sie angesichts ihrer Unterlegenheit wirklich verspürte, sagte er: „Ihr jagt ein Mädchen aus verletzter Eitelkeit vor Euch her, das Eure Enkelin sein könnte, und wagt es auch noch, sie Hure zu schimpfen. Doch es sind Rachsucht und Verdorbenheit, die Euer Tun lenken. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie ich Euch nennen würde, wären wir allein?"

Er hörte, wie Miro bei seinen Worten unwillkürlich die Luft einsog, doch sein Blick wich keinen Augenblick vom Stadtamtmann.

Der sah aus, als hätte ihn eine besonders große Faust mitten ins Gesicht getroffen, als er wie in Zeitlupe zu Aragorn hinübersah. Sekundenlang maßen sich beider Blicke.

„Ich sage dir ganz unverhohlen, wie ich dich nenne, du schmutziges Nichts: Tot nenne ich dich!" Es bedurfte keiner Mühe, zu sehen, dass Cobiarh in dem Waldläufer gerade einen neuen Feind für sich erkoren hatte, denn Wut funkelte in seinen Augen.

Aragorn begriff schaudernd, dass seine Strategie für den Moment erfolgreich gewesen war. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte er wieder die Stimmen seiner Brüder, die ihn oft für seine Unüberlegtheit getadelt hatten. Sie würden mit hoher Wahrscheinlichkeit nie erfahren, wie unüberlegt überlegtes Handeln bei ihm aussehen konnte.

Die Fassade äußerer Gelassenheit aufrechterhaltend, lächelte er geringschätzig. „Nur ein Feigling, der sich hinter den Kitteln seiner Gefolgsleute versteckt, wagt es, so mit einem Waldläufer zu reden. Steig von deinem armen Tier herunter und beweise mir in einem Zweikampf, dass du mehr als nur ein fetter Maulheld bist."

„Estel, hör' auf." In Miros Stimme lagen gleichermaßen Entsetzen wie Zorn und Aragorn konnte, auch ohne hinsehen zu müssen, förmlich spüren, dass der junge Mann ihn am liebsten geschüttelt hätte. „Du redest dich um Kopf und Kragen und uns gleich mit..."

„Sei still," zischte Aragorn leise zurück, ohne den Amtmann aus den Augen zu lassen. Der winkte gerade einen seiner Männer zu sich heran und raunte ihm hinter vorgehaltener Hand etwas zu. „Ich weiß, was ich tue."

„Ich auch, und ich bin Manns genug, selbst für meine Taten einzustehen. Es war meine Entscheidung, mit Clary zu fliehen, nicht die deine. Du hast mit all dem nichts zu tun, also überlass' mir meine Kämpfe und kümmere dich um die deinen!"

Ohne Aragorn eine Chance zur Antwort zu lassen, machte Miro mutig einen Schritt auf Cobiarh zu. „Euer Zorn gilt mir, Amtmann, nicht dem Waldläufer. Ich war es, der Eure Braut entführt hat, nicht er. Er drohte zu ertrinken, als ich ihn fand, und ist an allem unbeteiligt. Lasst ihn gehen!"

Aragorn sah resignierend, wie sein Plan in Trümmer ging. „Miro, du Dummkopf!" Seine Worte wurden vom Rauschen des Flusses so übertönt, dass nur die beiden jungen Leute sie verstanden. „Ich wollte euch retten..."

„Ich weiß und ich bin dir dankbar dafür." Miro zuckte – plötzlich sehr gelassen – mit den Schultern. „Aber ich kenne Cobiarh besser als du. Uns konnte von Anfang an nichts retten außer einem Wunder."

Unterdessen war bei den Reitern Stille eingetreten. Die Aufmerksamkeit des Amtmannes war nun völlig auf Miro gerichtet.

„Noch ein Todgeweihter, der reden kann," höhnte der korpulente Mann schließlich, dann warf er Clary ein maliziöses Lächeln zu. „Eine interessante Gesellschaft, die du dir da gesucht hast! Ich bin neugierig, zu erfahren, ob die beiden ihr großes Mundwerk auch noch haben, wenn sie ihrem Ende entgegensehen."

Auf sein Zeichen hin stieg ein Großteil der Leute ab. Sie begannen sofort damit, die Dreiergruppe mit drohend vorgestreckten Waffen im Halbkreis zu umringen und immer weiter zurückzutreiben, bis der Flusslauf ihrem Rückzug schließlich ein Ende machte.

„Packt sie," tönte Cobiarhs Stimme erfolgsgewiss. „Aber denkt daran, ich will sie lebend. Alle!"

Einige Augenblicke lang wirkten Cobiarhs Schergen zögerlich, doch schließlich begannen sie Aragorn und Miro von zwei Seiten gleichzeitig anzugreifen. In einer offensichtlich zuvor genau überlegten Taktik trieben sie die beiden verzweifelt kämpfenden Männer soweit auseinander, dass zwei der Angreifer zu Clary durchkommen und sie nach kurzer und erfolgloser Gegenwehr packen und fortschleppen konnten. Weder Miro noch Aragorn schafften es, der sich heftig wehrenden und nicht sehr damenhafte Beschimpfungen äußernden jungen Frau zu Hilfe zu eilen, denn sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich ihre Gegner vom Leib zu halten.

Für Miro war der Kampf jedoch nach kurzer Zeit bereits beendet, denn es dauerte nicht lange, bis die scharfen Metallschwerter seinen Ast zerstörten und man ihn überwältigte.

Aragorn hingegen leistete erbitterten Widerstand. Er schaffte es, zwei der Angreifenden niederzustechen, bevor diese begriffen, dass der noch sehr jung aussehende Waldläufer gefährlicher war, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte.

Dank der Ausbildung Glorfindels gelang es Aragorn trotz seiner heftig schmerzenden Rippen und der eher mangelhaften Bewaffnung, sich die restlichen Männer auf Armesweite vom Leib zu halten. Angesichts seines Geschicks und der Schnelligkeit seiner Bewegungen schafften die Männer es lediglich, ihm etliche kleinere Schnittwunden zuzufügen. Selbst nach mehreren Minuten sah es nicht so aus, als würden sie ihn in der nächsten Zeit besiegen.

Cobiarh hatte das Geschehen aus sicherer Entfernung aufmerksam und mit wachsendem Unmut verfolgt. Ihm dauerte das alles zu lange. Wenn es nach ihm ging, hätte dieser Kampf längst zu seiner Zufriedenheit beendet sein müssen. Wütend darüber, dass es nicht so war, streifte er Miro und Clary mit einem finsteren Blick.

Clary wand sich tretend im Griff zweier Männer, während drei anderen gerade damit beschäftigt waren, den heftig um sich schlagenden und tretenden Mirodas zu Boden zu zwingen, um ihn fesseln zu können.

Wenn diese beiden ihm schon so viele Probleme bereiteten, würde der Waldläufer zu einem fast unüberwindbaren Hindernis werden. Dem musste schnell ein Riegel vorgeschoben werden.

Cobiarh winkte einen der abseits gebliebenen Männer zu sich heran.

„Du bist der beste Bogenschütze, wurde mir berichtet. Dann zeig jetzt, was du kannst. Mach den Waldläufer kampfunfähig. Entwaffne ihn, aber töte ihn nicht."

Der Mann nickte, dann stieg er vom Pferd und nahm Pfeil und Bogen zur Hand. Er ging ein paar Schritte zur Seite, konzentrierte sich auf das Kampfgetümmel vor ihm, visierte sein Ziel an – und ließ im rechten Moment den Pfeil fliegen.

Aragorn hatte gerade nach einem seiner Gegner stechen wollen, als heißer Schmerz ihn durchfuhr.

Unwillkürlich schrie er auf, doch instinktiv hielt er den Dolch weiter fest umklammert. Dann starrte er die Quelle der Empfindung, seinen blutenden Oberarm, an. Es dauerte eine Sekunde, bis sein Verstand registrierte, dass ein Pfeil im weichen Gewebe feststeckte.

Weder hatte er die Zeit, ihn zu entfernen, noch nach dem Schützen zu suchen, denn seine Widersacher nutzten diese Ablenkung, um erneut auf ihn einzustürmen. Rasch wechselte der Dolch in Aragorns andere Hand.

Diesmal trafen die Männer auf etwas weniger Widerstand, denn zum einen war dies nicht Aragorns eigentliche Kampfhand und zum anderen behinderten ihn die schmerzhafte Pfeilwunde und seine zu neuem Leben erwachten Kopfschmerzen deutlich in der Koordinationsfähigkeit. Dennoch hieb und trat er nach seinen Gegnern, so gut es seine schwindenden Kraftreserven und das wütende Pochen in seinem verletzten Arm zuließen.

Der Bogenschütze indessen vermied es, Cobiarh anzuschauen. Er wusste auch so, dass dieser nicht eben erfreut über den mangelnden Erfolg seines Schusses war. Mit unwilligem Kopfschütteln zog er daher rasch einen zweiten Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken, legte erneut an, visierte genau und ließ ihn dann von der Sehne schnellen.

Diesmal traf das Geschoss den rechten Oberschenkel Aragorns.

Der Treffer entriss dem Waldläufer zuerst nur ein atemloses, dumpfes Stöhnen, während er gleichzeitig den Halt verlor. Unter dem unerwartet aufflammenden zweiten Schmerz knickte Aragorn gegen seinen Willen zur Seite weg. Aus Reflex ließ er den Dolch los, um den zu erwartenden Aufprall mit den Händen abzufangen.

Vergeblich.

Als er gleich darauf zu Boden ging, wurde der im Oberarm steckende Pfeil so weit hineingetrieben, dass er auf der anderen Seite hindurchkam, während der Schaft des im Bein steckenden Geschosses abbrach.

Aragorns Schrei hallte von den Bäumen wider und sein Gesicht wurde zu einer Grimasse der Qual. Die verstärkte sich noch, als gleich darauf ein halbes Dutzend ergrimmter Männer auf ihn einstürzten. Sie pressten ihn auf die Erde und drehten ihm dann die Arme grob auf den Rücken, was auch den zweiten Pfeilschaft zum Abbrechen brachte. Gleich darauf legten sich neuerlich Stricke um seine Handgelenke, direkt über die Male der vorherigen Fesseln.

Er bäumte sich gegen den Griff seiner Peiniger auf, doch es nützte nichts. Aragorn war besiegt.

„Wir haben ihn, Herr!"

Der Sprecher keuchte. Wie seine Kameraden hatte er vollauf damit zu tun, den sich immer noch wie wild gebärdenden Waldläufer festzuhalten.

„Gut. Das hat ja auch lange genug gedauert!" Cobiarhs Stimme spiegelte dennoch seine Zufriedenheit wider. „Bringt ihn her!"

Vier Paar Hände zogen Aragorn auf die Füße und schleiften ihn zum Amtmann hinüber. Der Waldläufer humpelte mehr, als dass er lief, und das rechte Bein vermochte sein Gewicht kaum zu tragen. Dennoch setzte er sich immer noch gegen die Männer zur Wehr, so gut er es in diesem Zustand konnte.

Cobiarh sah ihm entgegen und sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

„Ihr Waldläufer macht nichts als Ärger. Immer steht ihr auf der falschen Seite meiner Interessen. Dass du keine Ausnahme bist, spürte ich sofort, als ich dich sah. Ich habe dich jedoch unterschätzt." Sein Blick ging kurz hinüber zu den beiden von Aragorn getöteten Begleitern. „Du hast mich zwei meiner besten Männer gekostet. Das ist ein hoher Preis, um mein Eigentum zurückzubekommen."

Aragorn öffnete den Mund, um ihm eine passende Antwort zu geben, doch Clary kam ihm unerwartet zuvor.

„Ich bin nicht Euer Eigentum, Amtmann!" Sie funkelte Cobiarh finster an und ihre Miene war pure Verachtung. „Ich werde es auch nie sein. Eher sterbe ich!"

„Nicht so eilig, meine Liebe. Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Du wirst mit mir zurückkehren, und wenn dein Bastard geboren ist, lasse ich euch beide hinrichten. Öffentlich. Euer Tod wird meine Ehre wiederherstellen und der Stadtbevölkerung klarmachen, dass niemand Goradh Cobiarh ungestraft zum Narren hält!" Noch immer saß der Amtmann auf seinem Pferd. Von dieser erhöhten Position aus wirkte er wie die Personifizierung der Rache, als er die gefangenen Männer mit einem unheilvollen Ausdruck in den Augen musterte. „Zunächst aber kümmere ich mich um diese zwei hier."

Die Angst um das Schicksal des Geliebten ließ Clary augenblicklich jeden Stolz vergessen. „Macht mit mir, was Euch beliebt, aber verschont das Leben der beiden, Amtmann. Ich flehe Euch an..."

„Clary, nicht. Erniedrige dich nicht noch vor ihm!"

Miro versuchte vergeblich, sie zum Schweigen zu bringen, und auch Aragorns Bitten, dem Amtmann nicht diese Genugtuung zu gewähren, blieben erfolglos. Clary beachtete die beiden gar nicht und fuhr fort, Cobiarh um Gnade für sie anzuflehen. Dieser weidete sich an den Seelenqualen der jungen Leute, doch schließlich wurde es ihm zu viel.

„Bringt das Weib zum Schweigen. Ich ertrage ihr Gezeter nicht."

Zufrieden sah er, wie einer der Männer, die Clary festhielten, sie knebelte.

„Das ist schon besser. Und nun zu euch zweien..."

Während der gesamten Nacht hatte Cobiarh über eine besonders ausgefallene Strafe nachgedacht. Doch nun, wo die Hetzjagd endlich beendet war, verwarf er jeden zuvor gefaßten Plan, denn die für ihn ungewohnten Anstrengungen forderten immer stärker ihren Tribut. Er war todmüde, hungrig, fühlte sich schmutzig und war wund vom langen Reiten. Hinzu kam, dass der Kater der zurückliegenden Feier ihm inzwischen Kopfschmerzen bescherte. Der Amtmann wollte nichts mehr als nach Hause und in sein Bett. Nicht zuletzt deshalb war er inzwischen bereit, kurzen Prozess mit den Gefangenen zu machen, indem er sie seinem Bogenschützen als lebende Zielscheiben überließ. Zwei gut platzierte Pfeile würden den beiden schnell das Lebenslicht ausblasen. Zu Hause konnte er sein angeschlagenes Selbstwertgefühl von den sanften Händen der rothaarigen Hure pflegen lassen.

Sich gewaltsam von dieser angenehmen Aussicht losreißend, winkte er den letzten zwei noch abseits wartenden Leuten zu. „Bringt mir ein Schwert!"

Als man es ihm hinhielt, nahm er es, stieg vom Pferd, ging zu den beiden gebundenen Männern hinüber und sah Miro an.

„Du warst es, der mir Clary weggenommen hat, weil du ihretwegen den Kopf verlorst. Ich werde das Angefangene vollenden und ihn dir auch in Wirklichkeit nehmen."

Seine Aufmerksamkeit wandte sich nun Aragorn zu, der zu Cobiarhs Ärger jedoch nicht im Mindesten furchtsam wirkte.

„Da du an seiner Seite gekämpft hast, sollst du sein Schicksal teilen, auch wenn der Mord an meinen Männern eigentlich ein härteres Urteil verdient hätte. Und deshalb fange ich auch mit dir an."

Er nickte den Männern zu, die trotz seiner zahlreichen Verletzungen noch immer alle Kräfte aufbringen mussten, um ihn festzuhalten.

„Beugt ihn, damit ich ihm den Kopf abschlagen kann!"

Inzwischen war in Aragorn eine so zügellose Wut emporgestiegen, dass er bleich geworden war. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden wollte ihn jemand umbringen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Angesichts dieser Tatsache übernahm seine ungestüme Natur wieder einmal ungebeten die Herrschaft über seinen Verstand. Vernunft und Beherrschung vergessend, zog er abschätzig die Mundwinkel hinunter. „Du bist Abschaum!"

Die Worte durchschnitten den Gedankenfluss Cobiarhs, der gerade zum Schlag ausholen wollte, wie ein kristallenes Messer. Er ließ das Schwert sinken und starrte den Waldläufer an.

„WAS hast du gesagt?"

„Du bist offenbar nicht nur fett und feige, sondern auch taub!"

Cobiarhs Augen drohten fast aus ihren Höhlen zu fallen, so weit riss er sie vor echter Fassungslosigkeit auf. Noch niemand hatte so mit ihm zu sprechen gewagt. Sekundenlang sah er Aragorn an, dann holte er aus und ließ seine Faust mit Macht in das Gesicht des Waldläufers sausen. Nur die festen Griffe der Männer verhinderten, dass dieser nicht rücklings zu Boden prallte.

„Wie kannst du es wagen..." begann Cobiarh, doch Aragorns abgehaktes Lachen unterbrach seine Worte.

„Seht ihn an, Männer! Seht euren ach so mutigen Anführer an. Er wagt es nur deshalb, mich zu schlagen, weil ihr mich festhaltet. Euch aber hat er kämpfen..."

Er nickte zu den beiden Getöteten hinüber.

„...und sterben lassen. Was meint ihr, ob er euren Kameraden auch nur eine Träne nachweint?" Blut lief aus Aragorns Mund, doch das schmälerte die Eindringlichkeit seiner Worte nicht.

Cobiarh war unterdessen ebenso blass geworden wie Aragorn.

„Schweig," zischte er, als er sah, dass ein paar seine Leute nachdenkliche Blicke wechselten. „Hüte deine Zunge, sonst schneide ich sie ab, ehe dein Kopf ihr folgt!"

Auch Aragorn war nicht entgangen, dass er mit ein wenig mehr Nachdruck vielleicht Zweifel unter den Männern des Amtmannes säen konnte. Das war die einzige Hoffnung, die Clary, Miro und er noch hatten.

„Er läßt diese zwei jungen Leute jagen, die fast noch Kinder sind, und das nur aus Wollust," fuhr er fort, Cobiarh nicht beachtend. „Seht euch Clary an! Sie ist so jung, dass sie die Tochter von vielen von euch sein könnte. Was, wenn es so wäre? Würdet ihr noch immer auf seiner Seite stehen?"

Cobiarh spürte unterdessen, dass die Skepsis der Männer größer zu werden begann. Wenn er den Waldläufer nicht zum Schweigen brachte, konnte die Situation schnell bedrohlich für ihn werden; andererseits würde es ihm auch nicht helfen, wenn er ihn einfach erstach. In diesem Fall würden Aragorns Worte bleiben und ihm mehr schaden, als der lebende Waldläufer es je vermocht hätte. Um das zu verhindern, musste er die Unterstützung der Männer wiedergewinnen.

Er beugte sich so dicht an Aragorn heran, dass seine Lippen fast dessen Ohr berührten, und flüsterte: „Das sind schöne Worte, Waldläufer, doch sie sind vergeblich. Pass auf..."

Dann wandte er sich seinen Männern zu und rief laut und im Brustton der Überzeugung: „Erinnert euch, was ich sagte, als ich ihm sein Urteil verkündete. Ich sagte, dass der Mord an meinen Männern eigentlich ein härteres Urteil verdient hätte. Redet so jemand, dem die anderen gleichgültig sind?"

Gemurmel kam auf. Cobiarh war klug genug, um zu sehen, dass er die richtige Strategie gewählt hatte.

„Ihr kennt mich, und ich sage euch, dass ich immer für euch da sein werde, wie ihr hier für mich da wart. Mehr noch: Ich stehe zu meinem Wort. Jeder, der hier ist, erhält nach unserer Rückkehr die anfangs versprochene Belohnung. Na, wie lautet nun eure Meinung?"

Zustimmung wurde laut.

„Was sagt ihr?" Siegesgewiss ließ der Amtmann seinen Blick über die Männer schweifen. „Wollen wir uns die falschen Worte eines dahergelaufenen Fremden weiterhin anhören?"

Als wäre die Frage ein Kommando zum Handeln gewesen, hagelte es unter ablehnenden Rufen nun Tritte und Schläge für die beiden Gefangenen, die sich dessen nicht erwehren konnten.

Ungeachtet seiner von den Schlägen weiter angefachten Schmerzen und der Pfeile, die noch immer in seinen Gliedmaßen steckten, bäumte Aragorn sich heftiger denn je auf. Es blieb vergeblich. Die Griffe der Männer waren eisern und würden sich erst lösen, wenn es um ihn geschehen sein würde. Zuhören oder gar glauben würden sie ihm nicht mehr. Cobiarh hatte sich geschickter gezeigt, als sein dümmlich wirkendes Äußeres auf den ersten Blick glauben ließ. Aragorn spürte instinktiv, dass ihm gerade die letzte Möglichkeit, sich und die beiden anderen irgendwie zu befreien, genommen worden war.

Eingedenk seiner wiedergewonnenen Rolle als akzeptierter Anführer sah Cobiarh seine Männer gespielt fragend an. Es war ein geschickter Zug, sie jetzt zumindest theoretisch an der Entscheidung zu beteiligen – auch wenn er, Cobiarh, das nicht einen Moment lang wirklich in Erwägung zog. Auf diese Art war ihre rückhaltlose Unterstützung ihm endgültig gewiss.

„Was wollen wir mit den beiden machen?"

Seine Augen glitten in stummer Nachdenklichkeit über Aragorns Figur und blieben an dessen noch immer vom Wasser feuchten Kleidung hängen. Hatte dieses Jüngelchen, mit dem Clary durchgebrannt war, nicht etwas davon erwähnt, dass der Waldläufer fast ertrunken wäre, als sie ihn fanden? Das brachte Cobiarh auf eine Idee.

„Ihr wisst, dass ich schon immer der Meinung war, dass man den von den Göttern vorgesehenen Ablauf der Dinge nicht verändern darf," wandte er sich seinen Leuten erneut zu. „Einzig aus diesem Grund habe ich euch und mich der Strapaze ausgesetzt, hinter meiner untreuen Braut herzujagen und sie und ihren Liebhaber einzufangen. Sie war dazu bestimmt, die meine zu sein, und das ist sie nun. Er jedoch..."

Der Amtmann wies auf Aragorn.

„...sollte den Tod in den Fluten dieses Flusses finden. Wir haben es alle aus dem Munde des Jungen hier gehört."

Miro, der den Worten Cobiarhs mit wachsender Unruhe gelauscht hatte, fühlte sich plötzlich von einer Woge der Angst erfasst, als der Finger des Amtmannes zu ihm weiter wanderte. Natürlich erinnerte Miro sich an sein vergebliches Bitten, Aragorn gehen zu lassen. Doch warum spielte der Amtmann nun darauf an? Was hatte er im Sinn? Dem jungen Mann begann Übles zu schwanen.

„Das Eingreifen der zwei rettete dem Waldläufer das Leben. Doch ist das im Sinne der Götter? Sie wollten offenkundig, dass er im Fluss ertrinkt. Mit welchem Recht maßen wir es uns an, ihre Pläne durchkreuzen zu wollen?"

Angestachelt von dem ungewohnten Gefühl, an den Entscheidungen des Stadtamtmannes beteiligt zu werden, begannen die Männer Aragorns Tod zu fordern. Der Tumult gipfelte schließlich in lautstarken Forderungen, gleich beide Gefangene zu ertränken.

Cobiarh ließ seine Untergebenen gewähren. Mit sichtbarer Befriedigung beobachtete er, wie die Stimmung immer weiter in seinem Sinne umschlug. Schließlich gestattete Cobiarh sich ein Lächeln in Aragorns Richtung. Ich habe gewonnen, sagte dieses Lächeln.

Und Aragorn wusste das auch. Dennoch blieben seine Züge steinern und ließen nichts von den überwältigenden Furcht erkennen, die seine Wut längst verdrängt hatte. Doch er konnte spüren, dass sie unaufhaltsam weiterwuchs und an seiner Beherrschung fraß. Es kostete Aragorn große Mühe, seine stoische Fassade aufrechtzuerhalten, um Mirodas einen – wenn auch sehr zweifelhaften – Halt zu bieten.

Dem sah man die Angst inzwischen an. Je bedrohlicher sich ihre Lage entwickelt hatte, desto deutlicher hatte sie Einzug auf seine Züge gehalten. Nun, wo er in den nächsten Augenblicken kaltblütig ertränkt werden sollte, wirkte er trotz des sichtbaren, dunklen Bartansatzes wieder wie der Halbwüchsige, als den Aragorn ihn kennengelernt hatte, und nicht wie der Mann, zu dem er inzwischen geworden war. Hektisch blickte er zwischen Aragorn und dem Amtmann hin und her, bis sein Blick schließlich auf Clarys schmaler Gestalt hängenblieb.

Die junge Frau wusste längst, dass es für Miro, Aragorn und sie vorbei war, und die Erkenntnis ließ dicke Tränen ihre Wangen hinablaufen. Nichts würde sie nun noch retten – außer einem Wunder, doch die waren nichts als eine Erfindung, um Hoffnungslose zu trösten. Todgeweihten wie ihnen blieb nur die Grausamkeit des Augenblicks.

Unfähig, ihrem Geliebten wenigstens noch ein Wort des Abschieds sagen zu können, schluchzte sie krampfhaft gegen den Knebel an, der jeden Laut in ihre Kehle sperrte. Mehr, als all ihre Liebe in einen einzigen Blick zu legen, blieb ihr nicht, und so tat sie es denn, wissend, dass das nicht genug war, um ihm deutlich zu machen, wie tief sie bis zum letzten Atemzug für ihn fühlen würde.

Cobiarh war der stumme Blickwechsel der beiden jungen Leute nicht entgangen. Neuerlich verletzt über die seiner Meinung nach noch immer viel zu offene Verhöhnung seiner Person, schob er sich ins Sichtfeld der beiden. Sein Blick bohrte sich in den Clarys.

„Ich hoffe, du hast dir sein Gesicht gut eingeprägt, Weib, denn das ist alles, was dir von ihm bleiben wird. Das – und der Bastard in deinem Leib."

Er sah zu den beiden Männern hinüber.

„Da ihr wie Freunde gemeinsam gegen mich gekämpft habt, sollt ihr auch wie solche sterben, denn Freunde soll man doch nicht trennen, nicht wahr?"

Der Amtmann sah sich kurz in der Umgebung um, dann deutete er auf eine etwas höher gelegene Bruchkante, die steil in den reißenden Fluss hineinragte. Es war die gleich, auf der auch jener Baum stand, an den Legolas ihn erst unlängst dem Tod überantwortet hatte.

„Schafft sie dorthin. Es wird Zeit, dass der Fluss wiederbekommt, was ihm gehört."

Unter lautem Rufen schleppten die Männer des Amtmannes ihre sich verzweifelt wehrenden Gefangenen zum Flussufer hinüber. Als man sie zum Stehen bleiben zwang und dann ihre Füße fesselte, trennte kaum eine Handbreit Boden die beiden Unglücklichen noch vom Wasser.

Einem Reflex folgend stemmten sich beide in die entgegengesetzte Richtung, doch Aragorns Blick ging trotzdem unwillkürlich zu den aufgepeitschten Fluten hinab, die weiß gischtend an die Seitenwände brandeten. Sie rissen alles mit, was nicht aus Stein und für die Ewigkeit gedacht war. In wenigen Augenblicken würden sie auch Miro und ihn davontragen – und diesmal würde es kein Entrinnen in letzter Sekunde mehr geben.

Bitte, helft uns, ihr Valar, dachte er verzweifelt und wusste doch, dass sein stummes Flehen vergeblich bleiben würde.

„Nein..." Das eine, erstickt klingende Wort sprach Bände über seinen Seelenzustand, doch er schämte sich keinen Augenblick dafür, seine Angst vor dem Kommenden so offen gezeigt zu haben. Zu deutlich hatte Aragorn in den zurückliegenden vierundzwanzig Stunden erfahren, was ihn gleich einmal mehr erwartete. Dieses Wissen ließ keinen Platz für gespielten Heldenmut.

Der Amtmann hatte den leisen Ausruf jedoch vernommen und beschloss spontan, seinem Triumph die Krone aufzusetzen, indem er diesen ärgerlichen Waldläufer eigenhändig in die Fluten stieß.

„Den hier übernehme ich selbst," sagte er, drückte dem nächstbesten Mann das Schwert in die hand, trat näher und packte Aragorns auf den Rücken gefesselten Hände mit der einen und den Kragen seiner Tunika mit der anderen Hand. Unterdessen wichen seine Leute folgsam zurück.

Der Widerstand, den der Waldläufer erneut aufflammen ließ, als sich die Griffe an seinen Armen für Momente lockerten, prallte an der unerwarteten Körperkraft Cobiarhs ab. Der machte sich indessen ein Vergnügen daraus, seinem Gefangenen immer wieder spielerische Stöße zu versetzen, die ihn gefährlich dicht an den Abgrund heranbrachten.

„Sag Lebwohl zur Welt," knurrte Cobiarh Aragorn ins Ohr, um ihn ein letztes Mal auf die Bruchkante des Ufers zuzuschubsen...

-x-x-x-

Getrieben von der übergroßen Furcht um Aragorns Schicksal hatten Elrond und sein jüngerer Sohn ihre Pferde zu höchster Geschwindigkeit angespornt. Wiederholt waren ihnen tiefwachsende Zweige in die Gesichter geprallt und hatten ihre Spuren auf den makellosen elbischen Antlitzen hinterlassen, doch Vater und Sohn hatten sich noch nicht einmal die Zeit genommen, nach den schwach brennenden Wunden zu tasten. Die Zeit lief. Sie lief gegen sie, vor allem aber gegen Aragorn. Das spürten beide, und so schonten sie weder sich noch die Tiere.

Die Strecke, für die der Elbenprinz fast eine Stunde benötigt hatte, legten Elrond und Elrohir in nur der Hälfte der Zeit zurück.

Als sie sich schließlich dem Flusslauf näherten, auf den die Spuren von Legolas' Rappen anfänglich zugeführt hatten, zügelten sie ihre Tiere schließlich und ließen sie in ein etwas gemäßigteres Tempo zurückfallen. Jetzt kam es darauf an, so wenig kostbare Zeit wie möglich mit Suchen zu verschwenden und Aragorn rasch und gezielt ausfindig zu machen. Und das konnten sie am besten, indem sie den Spuren, die der Rappe des Prinzen auf dem durchnässten Waldboden hinterlassen hatte, folgten.

Sie sahen den Fluss noch nicht durch die langsam lichter werdenden Bäume schimmern, doch dafür drang etwas an Elronds Ohr, das ihn spontan sein Tier zügeln und warnend die Hand heben ließ. Dann lauschte er.

„Was..." Geschwind verhielt auch der jüngere Zwilling den Schritt seines Pferdes, doch er verstummte auf ein Handzeichen seines Vaters hin. Gleich vernahm auch er etwas.

Von nicht allzu weit her drangen Stimmen zu ihnen durch, aufgeregtes Gemurmel, das von anfeuernden Rufen unterbrochen wurde. Die Stimmen gehörten samt und sonders Männern und sie klangen nicht sonderlich freundlich, hörte jetzt auch Elrohir.

„Was jetzt?" Der Zwilling sah seinen Vater ungeduldig an. „Wir haben keine Zeit, um uns mit wütenden Menschen auseinanderzusetzen."

Elrond wollte etwas erwidern, erstarrte jedoch plötzlich und lauschte erneut dem schwach vernehmbaren Stimmengewirr.

„Estel ist unter ihnen," sagte er schließlich, während sein Blick zu Elrohir glitt. „Ich bin mir sicher, seine Stimme gehört zu haben. Es klang, als wäre er in Schwierigkeiten."

Das Gesicht des Zwillings erhellte sich für die Dauer einer Sekunde, da er seinen menschlichen Bruder somit noch unter den Lebenden wusste, doch sein Seufzen und das gleich darauf wieder ernst werdende Antlitz verrieten seinen aufkommenden Ärger. „Wann war er das mal nicht, Ada?"

Elrond antwortete nicht, sondern war bereits dabei, abzusteigen. Also tat Elrohir es ihm gleich.

Beide hatten Schwert und Dolch an einem Waffengurt um die Hüfte geschnallt, und Elrohir trug zusätzlich noch einen wohlgefüllten Köcher und einen Langbogen über der Schulter. Solchermaßen für den wahrscheinlichen Fall eines Kampfes gerüstet, warfen sie die Zügel ihrer Pferde über den nächsten Busch, dann hasteten sie mit der Schnelligkeit und Lautlosigkeit des Erstgeborenen Volkes auf die Quelle des Aufruhrs zu.

Nur knapp fünfhundert Meter trennten die beiden Elben vom Fluss und so hatten sie ihn, von der erregten Menschengruppe unbemerkt, schnell erreicht. Von brusthoch gewachsenem Gestrüpp halb verdeckt, spähten sie vorsichtig über die sich ihnen bietende Szenerie. Was sie sahen, ließ beiden fast das Herz stehen bleiben.

Nur wenige Armeslängen vor sich sahen sie, wie ein hochgewachsener und ebenso dicklicher Mann gerade dabei war, den an Händen und Füßen gefesselten und aus einer Vielzahl von Wunden blutenden Aragorn über einen Hang ins hörbar tosende Wasser zu werfen. Unmittelbar daneben erblickte Elrond einen auf dieselbe Art gefesselten jungen Mann, der ihm nur allzu vertraut war: Miro.

Der Elbenfürst verschob sein Erstaunen über die Anwesenheit Miros auf später, denn man hatte ihm offensichtlich ein ähnliches Schicksal wie Aragorn zugedacht. Wie diese wurde auch er bereits auf die Fluten zugeschoben. Doch anders als Aragorn starrte er nicht auf das Wasser, sondern über seine Schulter zurück in Richtung einer sich verzweifelt hin und her windenden, tränenüberströmten, geknebelten jungen Frau.

Es war nur der Erfahrung ihrer mehrtausendjährigen Leben zu verdanken, dass weder Elrond noch Elrohir lange überlegten oder sich von einer Schocksekunde lähmen ließen, sondern sofort reagierten.

Noch während Elrond Umhang und Waffengurt abstreifte, lediglich einen Dolch behielt und dann losrannte, riss Elrohir sich den Bogen von der Schulter und einen ersten Pfeil aus dem Köcher. Ihn anlegen, das Ziel anvisieren und fliegen lassen, dauerte nur zwei Sekunden, doch selbst die erwiesen sich als zu lange.

Noch ehe das Geschoss sich von hinten in den Hals des fetten Menschen bohrte, hatte der Aragorn den entscheidenden Stoß geben können.

Entsetzt sah Elrohir, wie sein menschlicher Bruder in ebenjenem Augenblick fiel, als der Pfeil seinen Peiniger fällte. Aragorn verschwand sofort aus Elrohirs Blickfeld, während auf der Lichtung am Fluss das Chaos losbrach...

-x-x-x-

Aragorn spürte noch den Atem Cobiarhs an seinem Ohr, als der ihn energisch auf den Abhang zu und im nächsten Moment darüber hinweg in die Tiefe stieß. Dieser Augenblick schien sich für Aragorn ewig zu dehnen, doch gleichzeitig passierte alles so schnell, dass er keine Zeit zum Reagieren hatte.

Er vermeinte noch im Fallen einen seltsam gurgelnden Laut aus Cobiarhs Kehle kommen zu hören, doch das entsetzliche Tosen kam so schnell auf ihn zu, dass er darüber alles andere sofort wieder vergaß.

Ich hasse Wasser, dachte Aragorn und fühlte den Gedanken im allertiefsten Winkel seines Herzens wahr werden. Dann – einen Lidschlag später und noch ehe er ein letztes Mal tief Luft holen konnte – schlugen die Fluten über ihm zusammen...

-x-x-x-

Ende Kapitel 7

yavanna unyarima: Schön, dass es gelungen zu sein scheint, die Spannung über mehrere Kapitel hinweg aufrecht zu erhalten. Gerade das war einer der Hauptsorgenpunkte, ging es doch weite Strecken der Kapitel um Nebencharaktere, die für die Leser ja erst eingeführt wurden und mit Tolkiens Geschöpfen nur durch ManuKu und mich zu tun bekamen.

elitenschwein: Hey, du studierst? Darf man fragen, welche Richtung(en)? Um so schöner finden wir es natürlich, dass du dir jedesmal die Zeit zum reviewen nimmst. Die Idee, Vilya einzubauen, entstand während eines Telefonats, in dem ManuKu und ich uns über den 3. Kinofilm unterhielten; genauer gesagt über die Szene in den Anfurten, als man zum ersten und einzigen Mal die Ringe an den Händen ihrer Träger sah (nimmt man Galadriels Präsentation für Frodo mal aus). Die Ringe mussten dem Träger doch eine geradezu gewaltige Machtfülle verleihen. Aus unserem spekulieren und nachlesen wurde schließlich die Idee geboren, Vilya endlich mal ins Licht einer Geschichte zu rücken. Schön, dass die Umsetzung gelungen zu sein scheint.