Schatten

Eine „Der Herr der Ringe" - Story

von

Salara

Feinarbeit: ManuKu

Hallo!

Hier kommt nun also das vorletzte Kapitel der vierten Geschichte. Vieles wird bereits aufgelöst, anderes bleibt noch bis zum letzten Kapitel in der Schwebe, eines allerdings sei an dieser Stelle bereits gesagt: es ist für eine längere Zeit die letzte Geschichte um die Freundschaft zwischen Aragorn und Legolas.

Zwar ist bzw. war noch eine fünfte Geschichte in Planung, doch es zeigte sich, dass das wirkliche Leben uns letztlich doch eingeholt und sie weit nach hinten auf die Liste geschoben hat.

Sollte es irgendwann noch eine fünfte Geschichte geben, wird sie erst dann gepostet, wenn alle Kapitel so wie bei dieser Story hier bereits fertig geschrieben sind und im Rhythmus von 3 bis 4 Tagen eingestellt werden können.

Alle, die trotz des herumzickenden FFN auch diesmal ein paar aufmunternde Worte für uns hatten, möchten wir an dieser Stelle dick knuddeln. Die Antworten stehen wie üblich am Ende des Kapitels.

Auch den „stillen" Lesern sei Dank gesagt! Wozu dienten Geschichten und Bücher, wenn es niemanden gäbe, der sie lesen will?

Und darum nun viel Spaß!

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Kapitel 8: Dramatische Rettungen

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Während seines kurzen Falls hatte Aragorn sich zwar daran erinnert, dass das Wasser bei seinem letzten unfreiwilligen „Bad" eisig gewesen war, doch als er gleich darauf in den Fluten unterging, raubte ihm die Kälte beinahe den wenigen Atem, den seine Lungen noch enthielten. Unwillkürlich wollte er Luft schnappen, unterdrückte diesen Reflex jedoch gerade noch rechtzeitig.

Das war jedoch auch schon alles, wozu er in der Lage war. Die Strömung war stark und sein Gewicht zog ihn schnell in die Tiefe. In grenzenloser Verzweiflung zerrte er an den Fesseln, die seine Hände und Füße zusammenschnürten, doch Cobiarhs Männer hatten ihr Handwerk verstanden. Die Stricke gaben kaum einen Millimeter nach. Schwimmen oder auch nur bloßes Zurücktauchen zur Oberfläche waren ihm angesichts der starken Strömung somit fast unmöglich. Schnell riss ihn der Fluss fort und die Strudel des aufgepeitschten Wassers hielt ihn in der luftlosen Tiefe.

Fast hätte ich mein Zuhause doch noch einmal wiedergesehen, dachte Aragorn in einem Anflug von Wehmut und spürte, wie gleichzeitig auch die tiefe Ruhe, die den ersten beiden Beinahe-Toden vorausgegangen war, ein weiteres Mal Einzug in seine Gedanken hielt. Diesmal gibt es kein Wunder mehr für mich...

Seine Lungen brannten durch den fortgesetzten Sauerstoffmangel erneut wie Feuer, das Blut pulste durch die Adern und dröhnte in seinen Ohren, doch zumindest hatte die Kälte des Wassers die überall in seinem Körper wütenden Schmerzen längst betäubt. Noch während Aragorn die willkommene Schmerzlosigkeit begrüßte, begannen helle Kreise vor seinen Augen zu tanzen.

Entkräftet von der Hetzjagd durch die Nacht, die Behandlung, die er durch Legolas erfahren hatte, und den letzten Kampf gegen das Ertrinken neigten sich seine spärlichen Kraftreserven jetzt erheblich schneller dem Ende entgegen als zuvor.

Der Waldläufer stellte die fruchtlosen Befreiungsversuche schließlich ein. Statt weiter um sein Überleben zu kämpfen, setzte Aragorn nun alles daran, sich in seinen noch verbleibenden Augenblicken wenigstens in die Richtung zu drehen, aus der ihn die Fluten gerade fortspülen wollten.

Wenn Cobiarh den Jungen doch nur verschonen würde... dachte Aragorn wider besseren Wissens und hielt seinen Blick zur Oberfläche gerichtet, die er durch das Wirbeln des aufgepeitschten Wassers fast schon nicht mehr erkennen konnte. Einen Moment später glaubte er zu sehen, wie ein Schatten in den Fluss eintauchte.

Er macht seine ... Drohung wahr und... bringt auch ... Miro ... um ...

Wie schon die beiden anderen Male zuvor begannen die Gedanken des Waldläufers auch jetzt wieder zäh wie Honig zu fließen.

Ewig lang scheinende Augenblicke später gab Aragorn dem überwältigenden Drang endlich nach, Luft zu holen. Wasser füllte seinen Mund, seine Kehle und schließlich auch seine Luftröhre.

Und während die hellen Kreise vor seinen Augen der Dunkelheit Platz machten, verstummten die letzten Gedanken, die er für Miros Rettung an die Valar gesandt hatte. Momente später erstarben Aragorns Bewegungen.

Leblos sank er dem Boden entgegen...

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Von Leblosigkeit konnte auf der kleinen Lichtung am Fluss gar keine Rede sein.

Cobiarh war vor den entgeisterten Augen seiner Leute unvermittelt zusammengesackt und krampfhaft zuckend liegengeblieben. Gleich darauf war ein weiterer der Verfolger von einem Pfeil getroffen zu Boden gegangen. Die Männer des Amtmannes begriffen mit ein paar Sekunden Verspätung, dass sie sich in der direkten Schusslinie eines für sie noch nicht sichtbaren Feindes befanden. Augenblicklich war das Vorhaben, auch Miro in den Fluss zu werfen, vergessen.

Sie ließen ihn los und stoben, die scheuenden Pferde als Deckung benutzend, nach allen Seiten auseinander. Ihre Hoffnung, Deckung vor den tödlichen Geschossen zu finden, war allerdings vergeblich. Elrohir, von gewaltiger Wut gepackt, begegnete ihnen mit der gleichen Erbarmungslosigkeit, mit der sie Aragorn und Mirodas noch Momente zuvor einem grausamen Tod überantworten wollten.

Während Mann um Mann getroffen zu Boden sank, spürte Clary von einer Sekunde zur anderen, dass sich die Griffe um ihre Arme plötzlich gelöst hatten und sie frei war.

Angewidert riss sie sich den Knebel aus dem Mund und rannte, die Gefahr für ihr eigenes Leben missachtend, zu ihrem Geliebten hinüber. Während sie entsetzte Blicke auf die vor ihren Augen von Pfeilen getroffenen Männer warf, begannen ihre Finger bereits damit, die Knoten seiner Fesseln zu lösen.

Elrond hatte inzwischen jene Stelle erreicht, von der aus sein Pflegesohn in die Fluten gestoßen worden war. Darauf vertrauend, dass Elrohir allein Herr der Lage werden würde, sah er in das schäumende Wasser hinunter. Dessen Gewalt musste Aragorn schon ein ganzes Stück weit fortgespült haben. Gefesselt wie er war, würde er nicht aus eigener Kraft wiederauftauchen können; schon gar nicht gegen die starke Strömung.

Elrond begriff, dass Aragorns Leben nun von ihm und seiner Schnelligkeit abhing.

Halte durch, Estel, ich bin gleich bei dir, dachte er, holte noch einmal tief Luft und sprang.

Er musste nicht lange raten, wo er Aragorn zu suchen hatte. Der Elb tauchte einfach mit der Fließrichtung des Wassers in die Tiefe. Es dauerte tatsächlich nicht sehr lange, bis er etwas erspähte, das vage Ähnlichkeit mit einem Körper hatte.

Instinktiv griff Elrond sich die zusammengekrümmte Gestalt, die gerade an den Rändern seines Blickfeldes vorbeitrieb, und begann mit ihr zur Oberfläche zurückzukehren...

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Weit von der Flusslichtung entfernt ritt Elladan mit Legolas auf Bruchtal zu. Der Elbenprinz hatte schon vor einiger Zeit endgültig das Bewusstsein verloren und Elronds Ältester hatte seither alle Mühe, ihn vor sich im Sattel zu halten.

Auch ohne in das schrecklich bleiche und schon viel zu friedliche Gesicht zu sehen, wusste Elladan, dass Thranduils Sohn im Sterben lag, denn mit jeder Minute schien das restliche Sternenlicht in Legolas' Seele ein wenig mehr zu verblassen. Aus dem einstmals hellen Strahlen war inzwischen nur noch ein schwaches letztes Leuchten geworden.

„Lauf doch! Schneller!" Elladan ließ die Zügel ein weiteres Mal auf das bereits aus vollen Kräften galoppierende Tier klatschen. Die Muskeln in den Halsseiten des Tieres wölbten sich noch deutlicher hervor und tatsächlich legte es erneut ein wenig an Tempo zu.

Tief in seiner Seele tat es Elladan schrecklich leid, das Pferd so schinden zu müssen, doch Legolas' Zustand ließ ihm keine andere Wahl. Es stumm um Vergebung für sein Verhalten bittend, ließ er den Zügel wieder und wieder auf die Seiten des Pferdes hinabsausen. Dessen Hufe flogen förmlich über den Waldboden und schienen ihn kaum noch zu berühren.

Elladan wusste, dass er sich dem Tal sehr rasch näherte. Bald schon würde ihn die erste Wachpatrouille anhalten. Er bezweifelte dennoch, dass er schnell genug war. So schnell er das Ross auch antrieb – ihn trennten noch mindestens zwei Stunden erbarmungsloser Hetzjagd von der Phiole mit dem kostbaren Inhalt. Erreichte er sie rechtzeitig, gab es für Legolas ein Weiterleben. Kam er jedoch zu spät, erwartete Thranduils Sohn ein Schicksal, das ungleich schlimmer als der Tod war, den der Prinz sich so herbeisehnte.

Noch im Felskessel hatte Elladan ihm genau das für seine Taten gewünscht, doch inzwischen bedauerte er seine Feindseligkeit aus ganzer Seele. Mit dem Blick des Verstandes, der endlich hinter die Fassade des Offensichtlichen reichte, hatte Elladan schließlich doch noch begriffen, was Elrond ihm im Felskessel durch die Kürze der Zeit nicht völlig verständlich machen konnte: nämlich, dass sich nie zuvor eine Seele so sehr nach Vergessen gesehnt hatte, wie es die von Legolas tat, und doch auch noch nie eine weiter davon entfernt war als die seine.

Legolas' Leidensweg würde in den endlosen Hallen der Toten nicht enden, wie er es wohl erhoffte. Im Gegenteil: dort würde er für alle Ewigkeit weiter leiden, denn Erlösung hielten die Hallen für niemanden bereit, nur endloses Neuerleben von Gewesenem. War Legolas erst in Mandos' Reich, würde er dazu verdammt sein, im Schatten seiner Erinnerungen vergeblich auf ein Ende seiner Qual – das Vergessen – zu hoffen.

Es war dieses Wissen, das Elladan seither zur Eile antrieb.

Was geschehen ist, kann dein Tod nicht ungeschehen machen. Du bist ein Narr, wenn du wirklich darauf hoffst, schalt er den Elbenprinzen stumm und warf einen raschen Seitenblick auf dessen erschreckend grau wirkende Gesichtszüge.

Wenn sie ein Spiegel seiner seelischen Verfassung waren, dann litt Legolas unter Qualen, die Elladan sich nicht einmal vorzustellen wagte. Wie schrecklich verwundet musste seine Seele sein, wenn man ihm das so deutlich ansehen konnte?

Hilfloses Bedauern für den Elbenprinzen plagte Elladans längst besänftigtes Herz.

Die Taten des Bösen in dir waren furchtbar und ich kann dir die Erinnerung an sie auch nicht nehmen, doch ich lasse nicht zu, dass sie nach meinem Bruder nun auch noch dich vernichten. Gib dich nicht auf, Legolas, ich bitte dich. Halt' durch, wie Estel es sicher von dir erwartet hätte.

Stumme Stoßgebete an die Valar und den im Fliehen begriffenen Lebenswillen des Prinzen richtend, raste Elladan in einem verzweifelten Rennen gegen die Zeit auf Bruchtal zu – den Hort seiner Hoffnung.

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Später würde Aragorn diese Tage als den Beginn der schönsten Zeit seines Lebens bezeichnen, doch zunächst einmal fühlte er das genaue Gegenteil. Er sah sich nämlich einem neuerlichen mühsamen Erwachen in eine Welt ausgesetzt, die ihm alle nur erdenklichen Martern bereiten zu wollen schien.

Das Brennen in seinen Lungen, das nicht nachlassen wollende Husten, die eisige Kälte und Nässe der Kleidung, die bis ins Mark drang, und die grimmigen Schmerzen, die in diesem Augenblick wie auf Kommando wieder einsetzten und seinen vielfach verletzten Körper in Besitz nahmen – all das hatte kannte er nur zu gut. Allein die Erinnerung an das, was ihm bevorstand, war verlockend genug, sofort wieder in die Schwärze zurückzukehren, die ihn so gnädig aufgenommen und vor allem Leid abgeschirmt hatte.

Dann streifte ein Laut sein erwachendes Bewusstsein. Er begriff gar nicht, dass es sein eigenes Stöhnen war, das zwischen dem Husten hindurchdrang.

„Schon gut..."

Die Worte, so seltsam vertraut im Klang und dennoch so weit außerhalb seines Begreifens, trösteten ihn. Doch sie verwehten, ehe er ihnen ein Gesicht zuordnen konnte. Gleich darauf streifte etwas seine Stirn. Es war eine Hand, die tropfende Haarsträhnen fortstrich und gleichzeitig seinen nach unten hängenden Kopf festhielt, der von keinem Muskel mehr gehalten zu werden schien.

Schließlich begann Wasser aus Aragorns Mund zu laufen. Er würgte und betete gleichzeitig im Stillen, dass seine Qualen endlich vorbei waren. Auf jede den Valar genehme Art, solange sie nur aufhörten.

„Gut so." Die Stimme hielt sein Bewusstsein fest, während starke Arme ihn festhielten. „Gleich geht es dir besser..."

Und wirklich: Momente später ließen Husten und Würgen nach. Zwar brannte nun auch seine Kehle wie Feuer und auf seiner Zunge lag ein Geschmack, als hätte er auf einem Sattel herumgekaut, doch daneben wuchs auch noch etwas anderes: ein Gedanke, der auf seltsame Art Freude in Aragorn weckte.

Ich lebe.

Noch ehe er sich über diese unerwartete Tatsache freuen konnte, wurde er so vorsichtig auf den Rücken gedreht, dass seine Wunden sich an dieser Bewegung nicht einmal störten. Gleich darauf spürte Aragorn, wie ihn jemand an sich zog, ihn stützte und festhielt.

„Mach die Augen auf, Estel! Sieh mich an. Bitte..."

Wieder war es diese Stimme, und diesmal stellte sich nach einigen Sekunden des ratlosen Überlegens endlich das Begreifen ein. Die Stimme gehörte zu Elrond!

Ada?

Verwirrt hing Aragorn dem Gedanken einige Herzschläge lang nach und kam schließlich zu der Auffassung, dass es das Augenöffnen wert war, falls es tatsächlich mehr als nur ein schöner Traum sein sollte.

Noch ehe er seine Lider zumindest einen Spalt weit öffnen konnte, waren schlagartig alle seine Zweifel wieder da, die während der nächtlichen Auseinandersetzung mit dem Elbenprinzen erwacht waren.

Bitte, ihr Valar, lasst es wirklich Ada sein, damit ich weiß, dass ich ihm wichtig bin und nicht nur die ungeliebte Last, die Legolas mich nannte...

Zunächst sah Aragorn nicht viel mehr als zuvor, doch statt des befürchteten grellen Tageslichts lag angenehme Dämmerung auf seinen Augen. Erst Momente später erkannte er, dass dieses Zwielicht die Form einer Hand besaß, die zwischen seinem Gesicht und der Herbstsonne in der Luft schwebte. Sein suchender Blick hatte Mühe, dahinter das Antlitz des Elbenfürsten zu erkennen, doch schließlich trafen sich beider Blicke.

„Vater..."

Aragorn erschrak angesichts des kratzigen Tonfalls seiner Stimme, doch das wiederholte Herauspressen von eingeatmetem Wasser aus seinen Lungen hatte hörbare Spuren hinterlassen. Jedes Wort fühlte sich an, als schmirgelten Millionen Sandkörner in seiner Kehle herum. Zu schwach, um etwas anderes zu tun, schluckte der Waldläufer krampfhaft dagegen an, während die Benommenheit nur sehr langsam aus seinen Gedanken wich.

„Ganz ruhig, Estel."

Elrond zog ihn weiter an sich heran, so als wolle er seinen jüngsten Sohn nie wieder loslassen. Gleichzeitig legte er sachte seine Wange an Aragorns Stirn. Dieser sah die immense Erleichterung nicht, die für einige Augenblicke ein Eigenleben auf den sonst so beherrschten Zügen des Elben führte. „Ich bin hier. Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit."

Sicherheit... Wie schön das klang! Wie gut es sich anfühlte, sich doch und entgegen allen Erwartungen geborgen zu wissen!

Der junge Mann genoss dieses Gefühl, indem er die Augen wieder schloss und sich einfach treiben ließ, bis ein leiser Stoßseufzer ihn in die Wirklichkeit zurückholte. Müde blinzelte er in die Höhe, hinauf zu Elrond, der ihm inzwischen wieder offen ins Gesicht sah. Nun war nur noch absolute Beherrschung in den weisen Zügen zu erkennen.

„Weißt du, dass du der schönste Anblick Ardas bist?" krächzte Aragorn mühsam, lächelte seinen Pflegevater aber glücklich an.

„Ach, Estel..." Elrond schüttelte kurz den Kopf, so wie man es bei kuriosen Sprüchen kleiner Kinder tat. „Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, dass Elrohir und ich noch rechtzeitig kamen."

Aragorn wollte den Kopf heben und nach seinem Bruder suchen, doch die Kraft reichte noch nicht dafür. So sah er Elrond mit erschöpften Augen an. „Wo ist er? Ist Elladan auch hier?"

Rasch warf der Elb einen Blick in die Umgebung.

Der jüngere Zwilling hatte unterdessen die noch lebenden Männer barsch und mit raschen Handgriffen entwaffnet. Viel zu tun hatte er allerdings nicht mehr, denn die meisten Männer Cobiarhs waren inzwischen tot oder lagen kampfunfähig am Boden. Jetzt trieb Elrohir gerade die letzten zusammen, damit er sie zwecks besserer Kontrolle an Bäume fesseln konnte.

Die Männer, die größtenteils nur oberflächliche Verletzungen aufwiesen, leisteten nicht einmal Widerstand. Entweder waren sie geschockt von dem, was schon ein einzelner Elbenkrieger mit ihnen zu tun imstande war, oder sie hatten gerade noch rechtzeitig das Ausmaß ihres Unrechts begriffen. Was auch immer davon zutraf: dem Elbenfürsten war es egal, solange nur keiner von ihnen mehr Aragorn schaden konnte.

„Elladan ist..." Wieder zögerte Elrond kurz. „...auf dem Weg zurück nach Bruchtal und Elrohir hat noch mit denen zu tun, die dich ertränken wollten! Fast hätten sie damit auch Erfolg gehabt."

Er verstummte, doch seine Stimme klang so seltsam, dass Aragorn seinen Pflegevater alarmiert ansah. Erst jetzt bemerkte der junge Mann, dass dieser ebenso wie er selbst tropfnass war.

„Du bist mir hinterher gesprungen!"

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, doch sie klang fassungslos. Elrond konnte sich den Unglauben in der Stimme seines Pflegesohnes nicht erklären. Etwas war da in Aragorns Tonfall, das ihn unruhig machte. „Es macht den Anschein, nicht wahr?"

Ein dicker Wassertropfen löste sich in diesem Augenblick aus einer der langen Haarsträhnen des Elben und fiel mitten in das Gesicht des Waldläufers. Der wirkte, als erwache er dadurch aus einem sehr langen, bedrückenden Traum, denn ein Strahlen wie Tageslicht zog über seine bleichen, zerschrammten Züge. „Du hast mich gerettet... du hast mich wirklich gerettet..."

Die schlanke Hand Elronds strich seinem Menschensohn liebevoll über die Wange. „So etwas tun Väter nun mal, weißt du."

Seit Legolas' hässlichen Worten hatte Aragorn gegen den Zweifel angekämpft, all die Jahre nichts als eine Last für den Elb und seine Familie gewesen zu sein. Nun, wo er sah, dass er sich umsonst gefürchtet hatte, spürte er erst, wie tief die Unsicherheit bereits in ihn eingedrungen war.

„Danke!" Aragorn hatte nicht nachgedacht; das Wort war fast wie von selbst seinen Lippen entschlüpft.

„Wofür?"

Der Waldläufer schluckte, entschloss sich aber, den Druck loszuwerden, indem er aussprach, was ihn so gequält hatte.

„Dafür, dass du immer für mich da warst und mich ermutigt hast, zu tun, was ich für richtig halte. Vor allem aber, weil du mir das Gefühl gabst, geliebt zu werden."

Elrond sah den sonderbaren Ausdruck im Gesicht seines Pflegesohnes, und ohne, dass er sich dessen gewahr wurde, trat plötzlich ein seltsamer Glanz in seine Augen.

„Daran zweifele niemals, Estel! Der Moment, in dem ich dich fallen sah, war fast so schlimm wie jener, in dem ich dich sterben fühlte; damals, vor einem Jahr... Niemand sollte sein Kind sterben sehen müssen." Elronds Stimme war nun so leise und dunkel, dass Aragorn sich anstrengen musste um sie zu verstehen. „Ich danke den Valar inständig, dass sie mich das nicht noch ein weiteres Mal durchmachen ließen."

„Es tut mir so leid. Ich wusste nicht, dass ich dir damit solchen Kummer..." begann Aragorn sich beklommen zu entschuldigen, doch Elrond legte ihm unerwartet einen Finger auf die Lippen. Der Waldläufer verstummte überrascht.

„Nicht, Estel! Es gibt nichts, was dir leid tun müsste. Die damalige Entscheidung trafen wir gemeinsam. Nicht einmal ich konnte zu jenem Zeitpunkt ahnen, was danach geschah. Und dies hier..."

Der Elb winkte in die Umgebung. Die zu anderen Zeiten so idyllische Flusslichtung bot durch die Körper der Getöteten jetzt einen schrecklichen Anblick.

„...konntest du genauso wenig vorhersehen. Es ging noch einmal gut, denn dein Bruder und ich kamen rechtzeitig. Jetzt zählt nur das, sonst nichts. Das ist mehr, als ich vor einer Stunde noch zu hoffen wagte."

„Aber..."

Im Kopf des jungen Mannes taumelten die Gedanken durcheinander und ließen sich nur schwer in eine sinnvolle Reihenfolge bringen. Irgendetwas daran passte noch nicht. Aragorn kam nur mühsam darauf, was es war. „Das erklärt noch immer nicht, warum du hier bist. Wie konntest du wissen, wo ich bin?"

„Das ist eine ... sehr komplizierte Geschichte, die ich dir später erzähle." Das kurze Zögern Elronds blieb Aragorns von zu vielen Reizen überfluteten Sinnen verborgen. „Lass mich zunächst einen Blick auf deine Verletzungen werfen! Sei jetzt ruhig. Entspann' dich."

Wie so oft schon in seinem Leben hatte er dem fast hypnotischen Klang von Elronds Stimme auch diesmal nichts entgegenzusetzen. So lauschte Aragorn den Worten versunken nach, während er kaum spürte, dass der Elb ihn sanft zu Boden gleiten ließ und dann vorsichtig nach den sichtbaren Wunden an Körper und Gliedmaßen zu tasten begann.

Ich würde zu gern wissen, wie Vater uns gefunden hat. Legolas wird es ihm ja wohl kaum erzählt haben...

Der Gedanke an den Elbenprinzen zerriss das Gespinst der Beruhigung, das Elronds Stimme um ihn gelegt hatte. Aragorn erwachte schlagartig aus seiner Lethargie.

Legolas! Ihn hatte ich über all dem hier doch tatsächlich fast vergessen. Ich muss Vater von ihm erzählen...

Er versuchte sich aufzurichten, doch im nächsten Moment sackte er haltlos wieder zurück. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, weil die Bewegung ganze Schmerzwellen durch verschiedene Bereiche seines geschundenen Körpers sandte.

Gleich darauf schob sich Elronds Gesicht wieder in Aragorns Blickfeld. „Die Pfeile stecken tief in dir und mindestens zwei deiner Rippen werden bei der nächsten Anstrengung an ungünstigen Stellen brechen. Also beweg' dich so wenig wie möglich. Leg dich wieder hin, mein Sohn..."

Der Nachdruck in Elronds Mahnung war stark, doch der Gedanke an das Schicksal seines Freundes gab Aragorn genug Kraft, sich gegen den beruhigenden Klang zur Wehr zu setzen.

„Zuerst muss ich dir etwas Wichtiges sagen."

Erneut wollte er sich aufrichten, doch Elrond war schneller und hielt seinen Sohn behutsam, aber unnachgiebig, am Boden fest. Schließlich ergab Aragorn sich in sein Schicksal und blieb folgsam liegen, doch seine Miene drückte höchste Unruhe aus.

„Es ist etwas Schreckliches geschehen. Legolas. Er ist..."

„Ich weiß. Wir sind ihm begegnet," unterbrach ihn Elrond unerwartet und erstaunlich kurz angebunden. „Er war es, der uns den Weg hierher beschrieben hat."

Aragorn sah, wie im gleichen Moment ein dunkler Schatten über das Gesicht des Elben flog. Trotz seines Erstaunens über Elronds letzten Satz hatte er den Eindruck, als begriffe sein Vater die Dringlichkeit der Worte nicht, denn der Elbenherr mied seinen Blick. Mehr noch: Elrond drehte Aragorns Kopf soweit zur Seite, dass dieser ihn nicht mehr ansehen konnte. Gleich darauf verrieten tastende Fingerspitzen, dass der Elb das Ausmaß der am Hinterkopf zu erkennenden, teilweise bereits verkrusteten Wunden abschätzte.

Irritiert über den scheinbaren Gleichmut drehte sich der Waldläufer aus den schlanken Händen Elronds und stützte sich – wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen – auf den Ellbogen seines unverletzten Armes.

„Vater, du begreifst mich nicht. Legolas musst du helfen. Mein Zustand ist nicht so schlimm, doch sein Schicksal ist ohne dich besiegelt. Für immer. Ich konnte mich ihm nicht lange in den Weg stellen und wollte deshalb zu dir nach Bruchtal, damit du..."

„Du warst auf dem Weg nach Bruchtal?" fiel der Elb seinem Sohn ins Wort.

„Ja." Aragorn nickte und biss gleich darauf die Zähne zusammen, als sein Kopf gegen die gedankenlos ausgeführte Bewegung mit heftigen Schmerzen reagierte. Es dauerte ein paar Momente, bis er seinen Vater wieder ansehen konnte, ohne dass diesen noch drei weitere Elronds umtanzten.

„Von allen Wegen, die ich je gegangen bin, ist das der Längste, Vater. Inzwischen weiß ich nämlich, dass ich ihn schon vor Monaten hätte antreten sollen."

Und noch während Aragorn sprach, spürte er erstaunt die Wahrheit in seinen Worten. „Ja, wirklich... ich will nach Hause, Ada. Schon zu lange bin ich fort. Es hat nur etwas länger gedauert, bis ich das verstand. Und Gondor kann noch eine Weile länger auf mich warten."

„Du wolltest nach Gondor gehen?"

„Ja. Deshalb bat ich auch um dieses Zusammentreffen. Eigentlich wollte ich mich von euch allen verabschieden. Doch jetzt habe ich es mir anders überlegt. Ich will nur noch nach Hause. Bitte..."

Elrond schloss seinen verletzten Sohn zwar nicht in die Arme, doch die Miene des Elben sprach Bände über das Seelenleben des Elbenherrn.

„Du ahnst nicht, wie sehr es mich freut, dass du es dir endlich überlegt hast. Auch Glorfindel wird sich freuen, vor allem, da er mich vor unserer Abreise bat, dich genau dazu zu bringen. Und Elladan wird erst Augen machen. Er sollte mit Prinz Legolas bald in Bruchtal eintreffen..."

Nun war Elrond in einem unbedachten Augenblick doch entschlüpft, was er seinem menschlichen Sohn eigentlich zunächst hatte verschweigen wollen. Seine Worte brachten beider Gedanken dann auch sofort wieder zum Ursprung zurück: Legolas' Charakterveränderung. Schlagartig wurden sie wieder ernst.

„Wenn du Legolas begegnet bist, Vater, hast du sicher auch bemerkt, dass er nicht mehr derselbe ist, oder?" Sorge um den Elbenprinzen riss Aragorn noch einmal aus der wachsenden Benommenheit.

„Ich weiß, was du mir sagen willst, Estel. Der Prinz wurde von einer uralten Bösartigkeit beherrscht. Doch ich kann dich beruhigen: was in ihm war, ist jetzt fort. Ich habe ihn davon befreit und es für immer zerstört."

„Bist du sicher?" Ungebeten tauchten Erinnerungen an die durch Legolas erduldete Behandlung auf. Trotz des Wissens, dass das Wesen des Prinzen im Grund ein anderes war, spürte der Mensch unwillkürlich einen Schauder. „Seit er mir in diesen See gefolgt ist, veränderte sich sein Wesen unablässig weiter. Er könnte sich euch gegenüber doch auch verstellt..."

„Du warst auch in diesem See, Estel?" Erneut unterbrach Elrond den Redefluss seines Jüngsten.

„Ja, aber bei mir hatte das Wasser eine ganz andere Wirkung als bei ihm."

„Erzähle."

Und während Elrond sich weiter ein Bild über den Zustand seines Sohnes verschaffte, begann Aragorn seine Erlebnisse zu schildern, bis er zu seiner Rettung durch Miro und Clary kam. Die beiden waren inzwischen schüchtern näher getreten und hatten Aragorns Worten stumm und in Miros Fall mit neu erwachender Enttäuschung gelauscht. Als Aragorn endete, war Miros Bild des gütigen und scheinbar vollkommenen Elbenprinzen endgültig in sich zusammengefallen.

Das Gesicht des jungen Mannes spiegelte dieses Gefühlschaos wider, als er den Kopf hängen ließ und Clary trostsuchend noch fester in die Arme schloss.

Natürlich sah Elrond dies aus den Augenwinkeln, so wie ihm auch der Ausdruck unterdrückten Schmerzes auf dem Gesicht seines Jüngsten nicht entging. Wissend, welchen Bruch die Freundschaft zwischen Legolas und Aragorn erlitten haben musste und erfüllt von Bedauern über die Enttäuschung Miros, legte er sich seine nächsten Worte sorgfältig zurecht.

„Ich habe den See, mit dessen Wassern all dies hier begann, nie gesehen, doch nach dem, was ihr mir von ihm berichtet habt, ahne ich, dass es ein sehr gefährliches Relikt aus alter Zeit ist. Utumnos Mauern bargen viele namenlose Schrecken, von denen die meisten nie von den Augen eines aufrechten Wesens erblickt wurden. Nach dem Schleifen der dunklen Festung durch die Valar wurden die Schöpfungen Morgoths auf ewig dem Tageslicht entzogen, doch einigen ... Dingen ... mag dennoch ein Entkommen geglückt sein. Dieses Wasser ist wohl eines davon, Estel. Ich denke, es gehörte zu jenen Mitteln, mit denen er aus Angehörigen meines Volkes die ersten Orks erschuf. Deshalb wirkte es wohl auf dich auch nicht so, wie es auf Legolas' Wesen wirkte. Es war gewiss nur für die Erstgeborenen erschaffen worden, nicht aber für Menschen. Hoffen wir, dass Elladan den Prinzen schnell genug nach Bruchtal bringen kann, um ihn zu retten."

„So schlimm steht es um ihn?" flüsterte Aragorn schockiert.

Elrond nickte. „Es musste getilgt werden, was böse war, doch dieses Böse hatte schon nicht mehr viel von seinem Sternenlicht übriggelassen. Das Wenige muss reichen, Legolas am Leben zu halten, bis Elladan mit ihm in Bruchtal ist."

„Kann er ihm denn helfen?" Plötzlich – und für ihn selbst unerwartet – spürte Aragorn einen Stich. Es war Angst; Angst um das Leben desjenigen, dem er noch keine zwei Stunden zuvor mit glühenden Worten Tod und Qual gewünscht hatte. „Mein Bruder hat nicht deine Macht."

„Nein, aber Lady Galadriel hat sie. Sie sandte mir vor einiger Zeit das Licht Earendils, von dem ich weiß, dass es den Prinzen heilen kann. Ich wünschte nur, sie hätte mich damals auch vor dem gewarnt, was ihm ... was euch beiden geschah."

Während Elrond verstummte, wurde Aragorn jäh von Schwindel erfasst. Nun, da sein Gewissen sicher wusste, dass Legolas geholfen wurde, gab es keinen Grund mehr, sich mit aller Gewalt aufrecht zu halten. Vielmehr konnte er sich nun getrost den Heilkräften Elronds überlassen.

Der Elbenherr sah, wie die Anspannung des Menschen endlich nachließ. Er wandte sich daher Miro zu.

„Ich weiß, wie aufrichtig Ihr Prinz Legolas zugetan seid, und spüre Euren Kummer über das Gehörte. Was dem Prinzen widerfuhr, werde ich Euch später genauer erklären. Du jedoch..."

Die grauen Augen des Elbenherrn glitten zu Aragorn zurück.

„...wirst zunächst erst einmal schlafen."

Aragorn wusste, was nun auf ihn zukam und begann zu protestieren.

Ada, du kannst meine Wunden getrost auch so versorgen. In meiner Zeit bei den Waldläufern hatte ich schon Schlimmere. Es ist nicht nötig, mich dafür..." begann Aragorn, doch Elrond schüttelte den Kopf und beendete den schwachen Protest seines Sohnes mit einer entschlossenen Handbewegung.

„Genug, Estel. Du verfügst selbst über genügend Heilkenntnisse und weißt, dass deine Verfassung eine Betäubung notwendig macht. Eine falsche Bewegung, während ich die Pfeilspitzen aus deinem Körper entferne, und die Rippen zersplittern endgültig. Den Schaden, den sie dabei anrichten könnten, muss ich dir doch wohl nicht noch ausführlich erläutern, oder? Es mindert das Risiko, wenn du währenddessen schläfst."

Ohne eine Antwort Aragorns abzuwarten, spähte er kurz zu Elrohir hinüber. Der war inzwischen damit fertig, die überlebenden Männer Cobiarhs zu fesseln, und stand im Begriff, sich an die Seite seines Vaters zu gesellen. Auf Elronds kurzen Zuruf hin verschwand er in den Wald, um nach einer Minute mit einer größeren Tasche wieder aufzutauchen, die er vom Pferd des Elben geholt hatte.

Nach wenigen Schritten war er bei der kleinen Gruppe, stellte sie neben seinen Vater und kniete sich anschließend auf die andere Seite Aragorns.

Während Elrond sofort eine ganze Reihe von Fläschchen, Verbandsmaterialien und Kräuterpäckchen hervorzuholen begann, nahm Elrohir behutsam eine Hand des Menschen in die seine. Mit ernster Miene studierte er die Vielzahl der Verletzungen Aragorns. Schnell ersetzte Betroffenheit den Grimm, der die Züge des Elbenzwillings bis dahin hart und streng hatte wirken lassen.

„Du siehst fast so schlimm aus wie bei unserer letzten Begegnung, kleiner Bruder." Die Stimme des Elben klang unsicher und dunkel; ein Spiegel der in ihm aufbrandenden Gefühle. „Was ist es nur, das dich immer wieder in solche Situationen bringt? Haben wir dir denn nicht beigebracht, wie man auf sich acht gibt?"

Aragorn spürte überrascht, dass es Elrohir sehr mitnahm, ihn so wiederzusehen. Genauso niedergedrückt hatte der Zwilling an jenem lange zurückliegenden Nachmittag ausgesehen, an dem Aragorn vermeintlich gestorben war. Der Waldläufer hatte dieses Bild nie vergessen können.

Mit dem Wunsch, die Besorgnis seines Elbenbruders zu mindern, befreite er seine Hand aus der Elrohirs. Dann legte er sie behutsam an dessen Wange und studierte die Züge, die ihm so wichtig waren.

„Das habt ihr, und ich danke euch aus ganzem Herzen dafür. Das ändert aber nichts daran, dass mein Lebensweg voller Gefahren ist. Vermutlich werde ich noch oft so aussehen wie jetzt. Elladan und du, ihr könnt mich weder ewig beschützen noch meine Kämpfe ausfechten. Ihr habt mich alles gelehrt, was ihr wusstet. Nun ist es an mir, dieses Wissen anzuwenden."

Elrohir streifte den Körper seines menschlichen Bruders erneut mit einem dunklen Blick. „Dann hast du unsere Lehren aber nicht besonders beherzigt, Estel."

Der Mensch sah es in den Augen des Elben verdächtig aufschimmern. Es dauerte einige Momente, bis er schließlich begriff, was wirklich an Elrohir nagte.

„Es ist meine Sterblichkeit, die dich bedrückt, nicht wahr?" Fast drei Jahrtausende trennten die beiden Brüder voneinander, doch es war Aragorn, aus dessen grausilbernen Augen nun die Weisheit der Erkenntnis sprach.

Der Elb erwiderte nichts, nickte nicht einmal, sondern ließ nur unmerklich den Kopf sinken. Mehr Bestätigung brauchte Aragorn trotzdem nicht.

„Elrohir, hör' mir zu."

Ganz sanft strich Aragorn mit einem Daumen über die Wange seines Bruders. Der mehrtausendjährige Elb wirkte plötzlich um so vieles jünger als der Mensch, der kaum die Zwanzig überschritten hatte. Nach einigen Sekunden legte er seine Hand über die Aragorns, während beider Blicke sich endlich trafen. Dann schüttelte der Waldläufer den Kopf.

„Meine Sterblichkeit ist das Einzige, das du nicht bekämpfen kannst, das wusstest du immer. Ich bin ein Mensch und werde meiner Natur entsprechend sterben. Mit ein bisschen Glück beende ich meinen Weg ja als alter Mann im Kreise derer, die mich lieben; höchstwahrscheinlich jedoch tue ich es im Kampf und mit der Waffe in der Hand. Doch welches Ende ich auch immer finden werde: ich will es mit der Gewissheit erwarten können, dass der Schatten des Todes niemals mächtig genug sein wird, um euch das Leben schwer zu machen. Lasst nicht zu, dass er so viel Macht über euch gewinnt, denn dann bekäme er gleich mehrere Leben, wo er doch nur auf meines ein Anrecht hat."

„Du weißt nicht, was du da von uns erwartest, Estel!" Elrohir seufzte vernehmbar, doch endlich erhellte ein flüchtiges Lächeln seine Miene, während er die Hand des Waldläufers vorsichtig zwischen seine Hände nahm. „Jemanden zu lieben heißt nun mal, auch Angst um ihn zu haben. Vater, Elladan und ich bilden da keine Ausnahme. Aber wir werden wohl oder übel wirklich hinnehmen müssen, dass du schon nach so kurzer Zeit zu einem Mann geworden bist."

„Hoffnungsvollerweise zu einem, der widerspruchslos tun wird, was gut für ihn ist." Elrond schob Aragorn eine Hand unter den Kopf und hob ihn soweit an, dass er ihm ein kleines irdenes Fläschchen an die Lippen halten konnte. „Trink das!"

Statt der Aufforderung seines Vaters Folge zu leisten, sah Aragorn Elrond bittend an.

„Nimm Miro und Clary mit nach Bruchtal, Ada. Sie haben nichts mehr außer der Hoffnung, irgendwo in Ruhe ein gemeinsames Leben beginnen zu können. Zudem schulde ich ihnen mein Leben..."

„Schon gut, Estel, beruhige dich. Das lag ohnehin in meiner Absicht. Möglicherweise gelingt es mir auf diese Art, meine Schuld bei deinem jungen Freund abzutragen. Und nun..." Wieder drückte Elrond seinem Pflegesohn das Fläschchen an den Mund. „...trink!"

Eher widerstrebend ließ Aragorn es zu, dass sich eine stark nach Bitterkräutern schmeckende Lösung in seine Kehle ergoss. Nie zuvor meinte er etwas so Widerwärtiges getrunken zu haben. Er schluckte die Flüssigkeit so hastig wie möglich, doch dem unangenehmen Geschmack tat das keinen Abbruch.

„Was..." Mit angewidert verzogenem Gesicht schluckte Aragorn immer wieder gegen den Geschmack an, der mit jedem Atemzug stärker zu werden schien. „...ist das? So schlimm hat es ja ... noch nie ..."

Innerhalb von Sekunden wurden seine Gedanken zäh wie Brei, und noch ehe er wusste, wie ihm geschah, sanken seine Lider bereits herab. Das Letzte, das er wahrnahm, waren die Hände seines Elbenbruders, die seine hielten...

-x-x-x-

Der Vormittag war bereits in den Mittag übergegangen, als die beiden Elben ihre Waffen und die Heilmitteltasche wieder auf den inzwischen herbeigeholten Pferden verstauten.

Elrond hatte in den zurückliegenden beiden Stunden die Pfeilspitzen aus Aragorns Gliedmaßen entfernt, die zahlreichen Wunden versorgt und die angebrochenen Rippen seines Sohnes mit einem stützenden Verband geschützt.

Inzwischen war der Elb sicher, dass Aragorn mit ausreichend Ruhe zumindest körperlich bald wiederhergestellt sein würde. Die seelischen Wunden hingegen würden länger brauchen, um zu heilen; vor allem, wenn sich seine und Legolas' Wege in Bruchtal wieder kreuzen würden. Elrond hoffte, dass Elladan mit dem Prinzen inzwischen Bruchtal erreicht hatte.

Angetrieben vom Wunsch, es ihnen gleich zu tun, fiel es dem Elb schwer, nach außen hin Geduld zu demonstrieren. Außerdem musste das Problem geklärt werden, wie Aragorn risikolos dorthin zu transportieren war.

Angesichts seiner Verletzungen wagte Elrond es nicht, ihn vor sich in den Sattel zu nehmen. Da das Mittel, das er ihm gegeben hatte, den Waldläufer wenigstens noch einen weiteren halben Tag bewusstlos halten würde, kamen Vater und Sohn nach kurzer Diskussion überein, für ihn eine provisorische Trage zu bauen, die zwischen die beiden Pferde gebunden werden konnte.

Miro und Clary hatten unterdessen begriffen, dass ihnen durch die Vorfälle am Fluss die Rückkehr in die Stadt endgültig verwehrt war. Gingen sie jetzt mit den überlebenden Männern Cobiarhs, unterschrieben sie damit ihr eigenes Todesurteil, denn diese würden sich nicht scheuen, ihnen die Schuld für den Tod Cobiarhs in die Schuhe zu schieben, um sich selbst vom Makel begangenen Unrechts reinzuwaschen. Niemand würde den beiden jungen Leuten noch glauben, nicht einmal Clarys eigener Vater. Zudem würde der Bruch des Eheversprechens beide einer voreingenommenen Stadtgerichtsbarkeit und der Rachsucht der Witwen der Umgekommenen aussetzen.

Damit war die Entscheidung für das Paar gefallen. Sie bestiegen gemeinsam eines der herrenlos gewordenen Pferde ihrer vormaligen Verfolger und sahen die Elben dann erwartungsvoll an. Die verstanden wortlos.

Blieb noch eine letzte Frage: Was sollte mit den Gefangenen geschehen, die Elrohir gemacht hatte? Nach kurzem Blickwechsel und einer bestätigenden Geste Elronds wandte Elrohir sich den Männern Cobiarhs zu.

„Wir gewähren euch freie Rückkehr in die Stadt, aus der ihr kamt. Nehmt die Verletzten und Toten mit euch, doch merkt euch meine Worte und beherzigt sie gut. Dies hier ist Elbenland, und wir schützen, was unser ist. Wer es wie ihr wagt, unser Reich in verbrecherischer Absicht zu betreten, wird die Folgen zu tragen haben. Lasst euch das, was hier geschah, eine Warnung sein. Die Menschen, die umzubringen ihr vorhattet, nehmen wir mit uns. Sie stehen von nun an unter unserem Schutz, also versucht kein weiteres Mal, ihrer habhaft zu werden."

Mit raschen Bewegungen durchtrennte Elrohir die Stricke, die die Männer an Bäume gefesselt hatten. Reglos und sehr wachsam verfolgte er, wie sie – mit begehrlichen Seitenblicken auf die von den Elben einbehaltenen Waffen – ihre gefallenen Gefährten ebenso wie die Verwundeten über Pferderücken legten, dann aufstiegen und schließlich schweigend den Rückweg zur Stadt antraten.

Elrohir wartete, bis sein scharfes Gehör das Hufgetrappel nicht mehr vernehmen konnte. Erst danach stieg er selbst auf.

„Was denkst du," fragte er seinen Vater auf Sindarin. „Kommen sie wieder?"

Elrond hatte seinem Sohn freie Hand gelassen. Da Aragorn lebte und dem jungen Paar keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, war er damit einverstanden, dass Elrohir die restlichen Männer Cobiarhs verschont und freigelassen hatte. Dennoch sah er nachdenklich in die Richtung, in der die Reiter verschwunden waren.

Er war inzwischen lange genug in diesem Teil Ardas, um die Unberechenbarkeit von Menschen kennengelernt zu haben. Elrohirs Worte waren zwar wohlgewählt gewesen, doch ob sie auch nachdrücklich genug wirkten, um die Rachsucht einer ganzen Menschenstadt im Zaum zu halten, würde erst die Zukunft zeigen. Im Stillen beschloss er, Glorfindels Männer in den nächsten Jahren ein besonders wachsames Auge auf diese Gegend haben zu lassen. Doch für den Moment war er sicher, dass sie keine neue Gefahr zu erwarten hatten.

So schüttelte er als Antwort nur den Kopf, dann sah er mit einem – wie er hoffte – beruhigenden Gesichtsausdruck zu Miro.

„Ich stehe ein weiteres Mal tief in Eurer Schuld, junger Mirodas. Wir kehren jetzt in das Tal zurück, das meine und meiner Söhne Heimstatt ist. Auch für Euch kann es eine werden. Mein Reich steht Euch offen, so wie meine Tür. Von nun an und so lange Ihr es wünscht."

Miro begann zu strahlen. Endlich würde sein Clary gegebenes Versprechen Wahrheit werden! Doch noch ehe er dem Elbenherrn etwas erwidern konnte, ergriff Clary bereits die Initiative.

Sie lächelte und neigte anmutig den Kopf, während ihre Augen unverwandt auf den beiden Elben ruhten, die sie von Minute zu Minute faszinierender fand.

„Edler Fürst, habt Dank für Eure Güte und Großzügigkeit. Miro und ich nehmen Euer Anerbieten gern an."

Elrond nickte lächelnd, dann griff er mit einer Hand nach den Zügeln seines Pferdes, während er dem tief schlafenden Aragorn einen prüfenden Blick zuwarf.

„Dann ist es jetzt Zeit, aufzubrechen. Bruchtal erwartet uns ... und Euch."

Er ließ die Zügel schnalzen, woraufhin sich sowohl sein Reittier wie auch das seines Sohnes folgsam in Bewegung setzten. Die beiden jungen Leute folgten ihnen.

Nachdem sie das Gebiet des dichteren Unterholzes hinter sich gelassen hatten und wieder weitestgehend gebüschfreier Wald vor ihnen lag, blickte Elrohir seinen Vater an. „Eines dürfte jedenfalls klar geworden sein."

„Was meinst du?" Elrond, der mit dieser Bemerkung nicht viel anfangen konnte und erstaunt über das plötzlich benutzte Sindarin war, zog fragend eine Augenbraue hoch, als er seinen Sohn ansah.

Dessen Miene wirkte beinahe übermütig. Es war angesichts der überstandenen gefahrvollen Situation und der nach wie vor bestehenden Ungewissheit über Legolas' Schicksal eine fast seltsam zu nennende Stimmung.

„Wer in der Ehe dieser zwei jungen Menschen das Sagen haben wird, meine ich. Gefragt hast du den Jungen, geantwortet hat jedoch das Mädchen, und er fügte sich widerspruchslos."

„Nun, mein Sohn..." Gegen seinen Willen musste nun auch Elrond schmunzeln. „Wenn du erst einmal selbst eine Gefährtin hast, wirst du feststellen, dass es dir ganz genau wie ihm gehen wird."

„Als dein Sohn denke ich das nicht," beharrte Elrohir. „Nimm doch nur dich und Nana als Beispiel. Ihre Kraft und Liebe haben dein Licht hell aufleuchten lassen, doch die Entscheidungen trafst stets du."

Der Gedanke an seine in Valinor auf ihn wartende Gemahlin war zwar noch immer mit dem Schmerz der Trennung behaftet, doch durch die vergangenen fünfhundert Jahre schließlich etwas erträglicher geworden. Sie war nicht tot, sondern nur weit fort... hinter dem Meer. So wurde Elronds Schmunzeln zu einem breiten, jedoch nichts erklärenden Lächeln. „Glaubst du?"

Der Zwilling starrte ihn erstaunt und überaus nachdenklich an, während der Wald im goldenen Licht gelegentlich einfallender Herbstsonnenstrahlen grün aufschimmerte, uralt wirkte und wie der Elb wissend schwieg...

-x-x-x-

Wie erwartet war Elladan auf dem Weg mehrmals Wachpatrouillen begegnet, aber es hatte stets nur Sekunden gedauert, bis man ihn erkannte und unbehelligt weiterziehen ließ. Er war dankbar, dass er das Pferd dafür nicht ein einziges Mal zügeln musste.

Die Sonne hatte den Zenit ihrer herbstlichen Himmelslaufbahn noch nicht lange hinter sich gelassen, als lauter werdendes Hufgetrappel dem Schlosspersonal schließlich Elladans Ankunft ankündigte.

Zwar hielt sich zu dieser Zeit niemand im hinteren Schlosshof auf, doch der Lärm war trotzdem nicht unbemerkt geblieben. Nur Augenblicke später öffnete sich das schwere, geschnitzte Portal. Ein in dunkelbraune Seidenroben gehüllter Diener trat ins Freie und sah ruhig zum steinernen Eingangsbogen. Als er erkannte, wer die unangemeldeten Neuankömmlinge waren, die in dieser Sekunde erschienen, hastete er – plötzlich nicht mehr so gelassen wie bisher – die kurze Freitreppe hinab.

„Lord Elladan, verzeiht, aber ich wusste nicht..."

Er verstummte, als sein Blick auf den Elbenprinzen fiel, den Elladan gerade vom Pferderücken zog. Legolas' Sternenlicht war nun fast gänzlich erloschen.

„Was ist mit Prinz Legolas? Soll ich die Heiler..."

„Nicht nötig, ich kümmere mich schon um ihn. Stell' du nur sicher, dass man das Pferd gut versorgt," wies Elladan den Bediensteten knapp an und hob Legolas über seine Schulter. „Wenn der Prinz heute Abend noch am Leben ist, hat er das nicht zuletzt auch dem Tier zu verdanken."

Ohne weitere Erklärungen abzugeben, nahm Elladan die kurze Treppe mit wenigen, raumgreifenden Schritten. Innerhalb von Augenblicken war er im Inneren des Gebäudes verschwunden und der Hof lag nun wieder so friedvoll da wie zuvor. Nur das völlig erschöpfte und verschwitzte Tier legte Zeugnis über die Eile ab, der es unterworfen worden war.

Der Diener verharrte unschlüssig noch einige Momente an Ort und Stelle, dann griff er nach den Zügeln. Er wusste, dass die Wächter, die Legolas aus Düsterwald hierher eskortieren sollten, von Glorfindel in den Mannschaftsquartieren untergebracht worden waren. Sie würden erfahren müssen, dass ihrem Kronprinzen etwas geschehen war. Ebenso wie der Gondoliner Kriegerfürst selbst. Gerade er rechnete seit den Vorkommnissen des letzten Jahres beinahe stündlich mit neuem Ungemach, munkelten seine Männer hinter vorgehaltener Hand.

Der Diener seufzte, als mit Elladans Pferd zu den Stallungen ging.

Zwar wusste der Diener nicht, was dem Prinzen widerfahren war, denn außer einer Schramme über einer Augenbraue hatte er in der Eile keine weiteren Verletzungen bei ihm gesehen, doch das fehlende Elbenlicht gab mehr als genug Grund zu tiefster Besorgnis. Glorfindel würde wirklich nicht sonderlich froh darüber sein, dass seine Befürchtungen offenbar wahr geworden waren...

-x-x-x-

Währenddessen flog Elladan förmlich die Stufen zum oberen Stockwerk empor, in dem er die Gemächer seines Vaters wusste. Ihn beflügelte die instinktive Sicherheit, dass Legolas' Frist beinahe abgelaufen war. Dessen schlanker Körper schien ohnehin kaum noch etwas zu wiegen; fast so, als verschwände mit dem Elbenlicht auch seine Substanz.

Unter den erschrockenen Blicken zweier im Weg stehender Elben durchmaß Elladan den Gang, bis er Elronds Gemächer erreichte. Hastig schob er die Tür mit einer Hand auf und trat ein.

Abertausende Male und zu allen Tages- und Jahreszeiten hatte er schon in diesen Räumen gestanden, doch noch nie hatte er sie in einem solch weichen Licht gesehen. Es schien, als spürte selbst die Natur, dass eine große Seele im Scheiden begriffen war. Wäre nicht bereits Trauer in Elladans Herz gewesen – spätestens jetzt wäre sie erwacht.

Während die Tür leise hinter ihm zufiel, legte er Legolas vorsichtig auf das Bett seines Vaters.

„Halt' durch," bat er den vergehenden Elben leise, während seine Finger Legolas' Lebenszeichen suchten. Es dauerte beängstigend lange, bis er einen Pulsschlag fand. Das Herz des Prinzen versah seinen Dienst zunehmend schwächer und unregelmäßiger. Nur noch Minuten, dann würde es ganz versagen.

„Wo hat Vater das Kästchen hingestellt?" Elladan richtete sich eilends auf und sah sich mit einem Anflug von Panik um. „Wo ist es?"

Seine Blicke fanden es Sekunden später auf einer halbhohen Kommode. Zwei große Schritte genügten, dann hielt Elladan das Objekt aller Hoffnungen in Händen. Es war aus dunklem, poliertem Holz, reich mit zierlichen Schnitzereien verziert und wurde mittels einer filigranen Mithrilspange verschlossen.

Als enthielte das Kästchen die Quelle allen Lebens selbst, öffnete Elladan es mit behutsamen Fingern. Im Inneren ruhte, auf reich gefalteten roten Samt gebettet, nur ein einziger Gegenstand: eine schlanke Glasphiole.

Auf den ersten Blick schien sie nicht einmal etwas zu enthalten, doch sobald Elladans Fingerspitzen das kühle, glatte Glas der Flasche berührten, durchpulste ein Prickeln seine Hand. Gleichzeitig leuchtete es im Flascheninneren hell auf, als wäre das Sonnenlicht eines besonders schönen Sommertages im Inneren gefangen.

Das Licht Earendils!

Wie gebannt hingen seine Augen sekundenlang an dem Leuchten der Phiole, deren Glanz das Schönste war, das Elladan je gesehen zu haben glaubte.

Dann war es plötzlich vorbei.

Das Schimmern im Inneren des Fläschchens verblasste wieder, bis es einmal mehr den Anschein machte, leer zu sein. Lediglich das immer noch spürbare Prickeln in seinen Fingern verriet ihm, dass er keiner optischen Täuschung aufgesessen war.

„Welche Macht in einem so kleinen Gefäß..." murmelte er und strich träumerisch noch einmal über das Glas. Im nächsten Augenblick war der Zauber endgültig verflogen. Sich wieder an Legolas entsinnend, eilte er zum Bett hinüber.

Die Gestalt des blonden Elben wirkte ungemein zerbrechlich; ein Eindruck, der von den Schatten des nahen Todes auf seinen bleichen Zügen noch verstärkt wurde. Für einen Moment meinte Elladan diese Schatten sogar selbst spüren zu können.

„Du bist bereit, den Tod mit offenen Armen zu empfangen. Ich jedoch bin es nicht. Dies ist nicht deine Zeit, auch wenn du das denkst..." Er zögerte unmerklich. „Ich weiß zwar nicht, ob Vater und Elrohir noch rechtzeitig zu Estels Rettung kamen, doch eines ist gewiss. Er wollte nicht, dass du stirbst, Legolas. Er verdammte dich nicht, sondern liebte dich, wie er uns liebte. Auch mir und Elrohir warst du stets ein teurer Freund. Wir werden dir auch um seinetwillen helfen, mit den Folgen deines Handelns fertig zu werden, das schwöre ich bei allen Mächten! Nicht das Sterben ist dein Schicksal, sondern das Leben. Also lebe, Sohn des Thranduil!"

Behutsam, als würde eine unvorsichtige Bewegung die Magie der Phiole zunichte machen, nahm Elladan das Gefäß aus dem Holzkästchen und platzierte es auf der Brust des Elbenprinzen.

„Valar valuvar!" Qu.: Der Wille der Valar geschehe!, flüsterte er, einem spontanen Impuls nachgebend, ehe er zurücktrat.

Für die Dauer eines Herzschlages geschah zunächst nichts. Dann begann das Fläschchen erneut aufzuleuchten. Heller als zuvor erstrahlte das Licht hinter den gläsernen Wänden. Es wuchs und pulsierte wie das Prickeln, das Elladan gespürt hatte. Unerwartet floss es über die Grenzen der Phiolenwände hinaus und breitete sich schließlich, einem Tuch aus Licht gleich, weiter und weiter über Legolas aus, bis dieser ganz davon bedeckt und selbst mit dem scharfen Auge eines Elben nicht mehr zu sehen war. Das Gleißen war so hell, dass Elladan schließlich seine Hand vor die Augen hob und nur noch zwischen den Fingern hindurch einen vorsichtigen Blick auf das Geschehen warf.

Der Kokon aus Licht, der Legolas umhüllte, wurde schließlich schwächer; doch nicht, weil es sich auflöste, sondern, weil es buchstäblich mit dem Körper des Elbenprinzen verschmolz. Elladan, der seinen Blick trotz der enormen Helligkeit nie völlig abgewandt hatte, sah, wie Earendils Leuchten Legolas' Sternenlicht ersetzte, das vom bösen Wasser Morgoths fast gänzlich aus ihm getilgt worden war.

Gerade, als der letzte Funke vom Körper des Elbenprinzen aufgesogen worden war, flog die Zimmertür schwungvoll auf. Elladan musste sich nicht einmal umwenden, um zu wissen, wer hereinkam. Er kannte den Klang der leichten Schritte, hatte ihn in den Jahrtausenden seiner Kampfausbildung Tag für Tag gehört.

„Was, in aller Welt, ist dem Prinzen geschehen?" Glorfindels Stimme klang so besorgt, wie Elladan es erwartet hatte. „Der Diener sagte, er sei so gut wie tot. Doch ich sehe keinen Grund für sein Urteil. Und wenn Legolas hier ist, wo sind dann Elrond und deine Brüder?"

Elladan, der Legolas nicht für einen Moment aus den Augen gelassen hatte, sah, dass Galadriels Phiole nun wirklich leer war. Dafür schimmerte Legolas' Sternenlicht jetzt so hell, wie es vor der unseligen Begegnung mit den Wassern des Höhlensees gestrahlt hatte.

„Das ist eine lange und komplizierte Geschichte," erwiderte Elladan ausweichend und ging dann zum Bett hinüber, um die Phiole von der Brust des blonden Elben zu nehmen und zur Seite zu legen. Er überprüfte zunächst dessen Lebenszeichen, die sich jedoch deutlich verbessert hatten. Für den Moment beruhigt, sah er endlich Glorfindel an.

Der stand mit nur mühsam unterdrückter Anspannung in den Zügen noch immer neben dem Bett. Offensichtlich war er gewillt, sich erst nach einer ausführlicheren Antwort von der Stelle zu bewegen.

Der Zwilling seufzte, als all das Gehörte und Erlebte schmerzlich in ihm aufwallte. „Ich weiß nicht, ob ich jetzt schon die Kraft besitze, das Wenige, das ich kenne, zu erzählen. Später vielleicht, wenn Vater und Elrohir wieder da sind und dir mehr sagen können, als ich es augenblicklich vermag."

Wenn er geglaubt hatte, Glorfindel damit für den Moment zum Schweigen zu bringen, so sah Elronds Ältester sich gründlich getäuscht. Nach wie vor im Zweifel, ob es seinem Herrn und Freund und dessen Sohn gut ging, wuchs das Verlangen nach einer erschöpfenden Antwort von Sekunde zu Sekunde.

„Für den Anfang reicht mir schon das, was du erzählen kannst, Elladan. Also? Ist deinem Vater etwas passiert? Oder Elrohir? Und was ist mit Estel? Jetzt rede doch!"

Elladan sah ein, dass er mit seinem Wunsch nach Stille und Besinnung auf verlorenem Posten stand. Resignierend schüttelte er den Kopf.

Es lässt sich wohl nicht verhindern..., dachte er und musterte den nach wie vor leblos wirkenden Legolas bedauernd. Dabei solltest eigentlich du es sein, der die Geschehnisse erklärt.

Dann sah der Zwilling zu Glorfindel auf. „Vater und Elrohir geht es gut, denke ich."

Er holte sich einen Sessel, nahm darin Platz und bedeutete dem goldhaarigen Elben, es ihm gleich zu tun. Als dieser endlich saß, holte Elladan hörbar Luft.

„Nun gut... Da du nicht nachgeben wirst, kann ich dir, solange wir auf Legolas' Erwachen warten, genauso gut auch jenen Teil der Geschichte erzählen, den ich kenne."

Es dauerte nicht sehr lange, bis alles gesagt war.

Danach herrschte für einige Zeit Stille im Raum, die nur vom Rauschen des Windes in den vor dem Fenster stehenden Bäumen durchbrochen wurde. Mehrere Minuten lang ruhten Glorfindels blaue Augen auf dem bewusstlosen Elbenprinzen, doch ihr Blick reichte weit über dessen Gestalt hinaus, in Fernen, die soweit in der Zeit zurücklagen, dass nur seine Erinnerungen sie noch zu erreichen vermochten.

„Wenn mich meine beiden langen Leben eines gelehrt haben, dann, dass sich nichts Böses bereitwillig dem Vergessen überlässt, solange es noch Leid und Tod hervorbringen kann. Morgoths Abscheulichkeiten sind so zeitlos, wie er es selbst ist. Der Prinz konnte dem keinen Widerstand entgegensetzen. Es gleicht einem Wunder, dass es deinem Vater überhaupt gelang, ihn aus dem Griff des Bösen zu befreien und dem Leben zurückzugeben."

„Er mag ihn befreit haben, doch nicht einmal das Licht Earendils kann ihm ein Leben zurückgeben, das er nicht will."

Voller Trauer deutete Elladan auf den Elbenprinzen, der noch immer keine Anstalten machte, die Augen aufzuschlagen.

„Legolas wollte sterben, als ich mit ihm hierher aufbrach. Sieh ihn dir an, Glorfindel. Sein Licht leuchtet zwar wieder, doch sein Herz will offensichtlich kein Leben, das mit Erinnerungen an seine Taten behaftet ist. Es läge wohl einzig in Estels Macht, den Lebenswunsch in Legolas zu erneuern. Sollten Vater und Elrohir zu spät gekommen sein, um ihn zu retten, wird es nicht nur Estels Seele sein, die gen Westen zieht. Dann werden Legolas und er ein letztes Mal gemeinsam einen Weg gehen. Und so, wie es aussieht, hat er diesen Weg bereits betreten. Vielleicht begleitet Estel ihn schon..."

Er verstummte, weil der Gedanke unerträglich war.

„Zieh' keine voreiligen Schlüsse!"

Die Stimme des Kriegers klang nicht so ruhig, wie er es gern gehört hätte, denn auch sein Herz krampfte sich bei dem Gedanken an Aragorns möglichen Tod zusammen. Doch darüber hinaus hatte er auch gespürt, dass Elladan gerade vollends in die Verzweiflung abrutschte. Es war an seiner Miene zu erkennen.

„Noch nie zuvor ist einem des Erstgeborenen Volkes ein neues Licht geschenkt worden," begann er. „Keiner von uns weiß, wie schnell oder langsam das Licht Earendils die Seele des Prinzen heilen läßt. Dass er nicht zu sich kommt, muss nichts bedeuten. Es kann durchaus noch Tage dauern, bis Legolas wieder erwacht. Außerdem solltest du etwas mehr Vertrauen zu deinem Vater haben. Estel ist mehr als nur sein Pflegekind. Längst ist er auch in Elronds Herz zu seinem Sohn geworden und für seine Kinder gewinnt dein Vater selbst die aussichtslosesten Kämpfe. Das habe ich mehr als einmal erlebt."

Das Erhoffte geschah: seine Worte rüttelten den Zwilling aus seiner Niedergeschlagenheit auf. Für den Moment gefestigt, stand Elladan auf, um noch einmal die immer stärker werdenden Lebenszeichen des Prinzen zu prüfen. Dann sah er den Gondoliner wieder an, der schweigend seine Handlungen verfolgt hatte.

„Vielleicht hast du Recht. Es fällt nur so schwer, auf eine Nachricht zu warten, die man so fürchtet, wie ich die über das Schicksal meines Bruders."

„Das weiß ich," sagte Glorfindel leise und machte nun ebenfalls Anstalten, sich zu erheben.

„Wo willst du hin?" Elladan wirkte enttäuscht. „Ich dachte, du bleibst."

„Zuerst muss ich noch ein paar Dinge regeln. Die Begleiter des Prinzen waren ohnehin nur mit Mühe zurückzuhalten, als die Neuigkeit sie erreichte. Außerdem will ich einen Trupp Männer losschicken, die deine Schwester heimholen sollen."

„Warum? Wo ist Arwen?" Von neuer Unruhe bewegt, war Legolas für den Augenblick vergessen.

„Irgendwo in den Wäldern, denke ich."

Deutlich missmutig zuckte Glorfindel mit den Schultern.

„Wenn du mich fragst, ähnelt sie eurem Vater mehr, als ihr gut tut. Es gibt keine zwei Elben, die eigensinniger, sturer und unberechenbarer sind als dein Vater und deine Schwester! Heute Morgen fand man eine Nachricht, in der sie uns mitteilte, dass man sie schon in Lórien wie eine Kostbarkeit eingesperrt habe, sie das hier nicht auch noch ertragen könne und deshalb bis zum Abend auf einem Ausritt sei! Pah! Als ob man sie hier in einem Verlies festhalten würde..."

Ungeachtet der ernsten Situation konnte Elladan ein zaghaftes Lächeln nicht verbergen. „Willst du sagen, mein kleines Schwesterchen ist den erfahrenen Kriegern Bruchtals entwischt?"

„Ist das ein Wunder? Mit ihren Brüdern hatte sie die zwei besten Lehrmeister in diesem Fach," brummte Glorfindel ärgerlich. „Sie ist nur schwer zu entdecken, wenn sie es nicht will. So war ich entschlossen, Vertrauen in sie zu setzen und ihr diesen einen Tag außerhalb Bruchtals zu gewähren, zumal sie mehr als fähig ist, selbst auf sich acht zu geben. Doch die Ereignisse, von denen du berichtest, ändern die Lage gründlich. Eine Bedrohung wie jene, die dem Prinzen und Estel zum Verhängnis wurde, läßt keinen Raum für ihren Freiheitswunsch."

„Ich verstehe deine Besorgnis und teile sie, doch bis deine Männer Arwens Spur gefunden und sie zurückgebracht haben, ist sie von allein wieder hier. Sende die Krieger aus, wenn meine Schwester bei Sonnenuntergang noch nicht zurück sein sollte. Bis dahin vertrau darauf, dass sie als deine beste Schülerin noch nicht alles vergessen hat, was du sie lehrtest."

„Und was ich sie nach ihrer Rückkehr lehre, wird sie ebenfalls nicht vergessen, das verspreche ich dir, Elladan."

„Da bin ich sicher, Glorfindel. Ich denke, dass auch Vater dir beipflichten wird, wenn er wieder hier ist."

Schlagartig waren beider Gedanken wieder beim Ausgangsthema. Sie wünschten Elronds Ankunft gleichermaßen sehnlich herbei, doch nur die Valar wussten, wann der Elbenfürst wiederkam – und mit welchen Neuigkeiten. So ging Glorfindel, um die Wächter des Prinzen zu unterrichten, während Elladan Legolas weiter Gesellschaft leistete. Die Sorge des Zwillings erhielt jedoch mit jedem Blick auf den Reglosen neue Nahrung, denn er erwachte auch in den nächsten Stunden nicht.

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Ende Kapitel 8

Hanna: Erst mal ganz lieben Dank für deine Mehrfach-Review. Deine Begeisterung hat uns sprichwörtlich umgehauen! Ja, wo nehmen wir unsere Ideen nun her? Aus allem, um ehrlich zu sein. Aus allem, was der Tag und die Medien uns so an Möglichkeiten bieten. Bei ManuKu und mir liegt immer irgendwo ein Notizbuch in Griffnähe, in dem wir Ideen nach Gesehenem aufnotieren, damit sie uns nicht verloren gehen. Übrigens sind da die alten italienischen Sandalenfilme ein echter Bringer (von der Handlung mal abgesehen). Sie bieten eine unglaubliche Palette an Einfällen, die man auf fast jede nur denkbare Art weiterentwickeln kann. Na, und was das angeht, hat Sir Laurence Olivier, der britische Darsteller, einmal gesagt, dass man jede Idee, wenn sie einem denn gefällt oder zu Neuem bringt, ruhig bearbeiten und weiterentwickeln soll. Auf diese Art seien schon große Werke entstanden und es sei überdies legitim. Letztlich macht ein Autor dann auch genau das.

Wie eingangs geschrieben, wird diese Geschichte für die nächsten Monate erst mal die Letzte sein. Zwar reizt es uns, für euch auch noch das Rätsel des Mannes mit den zwei Gesichtern zu lüften (das letzte, noch unerfüllte Bild aus Elronds Vision in „Schuld und Sühne"), doch ob unsere Idee dazu demnächst ausformuliert wird... Wer weiß?

Wie alt wir sind? ManuKu ist 33, ich, Salara, bin 40.

Für deine eigenen Geschichten wünschen wir dir viel Erfolg!

Elanor8: Danke für deine nette Review! Ich hoffe, Cobiarhs Ende ist in deinem Sinne? Bestimmt doch, oder? Aragorn ist (mal wieder) aus dem Wasser gerettet, doch was mit Legolas ist...? Tja, wer weiß. Das erzählt das nächste Kapitel.

Raistlin: Auch dir unser Dankeschön für das nette Lob!

Etliches von dem, was an Gefühlsbeschreibungen Eingang in unsere Geschichten gefunden hat, entspricht eigenem Erleben. Man wird im realen Leben mit so viel Kummer und Unglück konfrontiert, dass man gut daran tut, es auf die eine oder andere Art loszuwerden. Wir tun es auf diese Weise, in Geschichten. Um so schöner, wenn diese spezielle Selbstheilung dann auch Fans findet (..verlegenes Lächeln...)

Deine Idee mit der Thronjägerin klingt wirklich toll. Und wieso soll eine Frau zu so was nicht in der Lage sein? Auch Elbenmänner sind eben dies: Männer! Und du bist die Autorin, also die Schöpferin. Wenn du es willst (und gut begründen kannst), wird sich jeder Leser die Finger danach abschlecken! Willst du es also nicht doch ausformulieren und als Geschichte festhalten?