Schatten

Eine „Der Herr der Ringe" - Story

von

Salara

Feinarbeit: ManuKu


Willkommen zum letzten Kapitel dieser Geschichte!

Es ist vollbracht: sie ist vollständig gepostet, und das– wie von mir gehofft – noch vor Weihnachten!

Ich hoffe, sie hat euch so viel Spaß beim Lesen bereitet, wie sie es uns während des Schreibens bereitete? Dann wäre ManuKus und mein Ziel nämlich erreicht...

Wie schon zur Einführung des vorigen Kapitels geschrieben, wird Schatten für eine Weile erst mal die letzte Geschichte sein. Zum einen sind ManuKus und meine HdR-Akkus leer und müssen durch die Extended DVD-Version von „Return of the King" erst wieder aufgeladen werden und zum anderen drängen andere, lange vernachlässigte Geschichten darauf, auch endlich ein Ende zu bekommen. Und ihnen das zu gewähren, ist doch nur fair, oder? (...entschuldigend lächelnd...)

Das heißt aber nicht, dass der letzte noch offene Faden aus Elronds Vision in „Schuld und Sühne", der Mann mit den zwei Gesichtern, vergessen ist. Diese Idee nagt nach wie vor an uns, und mit etwas Kreativ-Unterstützung durch die ROTK-Extended-DVD wird sicher im nächsten Jahr eine weitere Geschichte entstehen. Also bleibt uns treu, okay?

Damit bedanken wir uns ganz herzlich für eure Treue während dieser langen Zeit, für eure Ermutigung, eure Begeisterung und vor allem dafür, dass ihr uns mit euren Reviews immer wieder aus den schwarzen Löchern der Autoren-Depression gerissen habt.

Die Antworten auf die Reviews zum vorigen Kapitel finden sich wie üblich am Schluß der Geschichte.

ManuKu und ich wünschen euch allen damit eine wunderschöne, ruhige Adventszeit, einen fleißigen Weihnachtsmann, einen guten Rutsch ins neue Jahr ... und ein wenig Geduld mit uns.

ManuKu und Salara

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Kapitel 9: Enden und Anfänge

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Die früh einsetzende herbstliche Dämmerung beendete einen Tag, an dem die heimwärts ziehenden Elben und ihre menschlichen Begleiter nach Tagen des Dauerregens endlich wieder mit Sonnenschein belohnt worden waren. In das großartige Panorama eines atemberaubend schönen Abendhimmels fiel auch Aragorns langsames, phasenweises Erwachen.

Der Waldläufer kam nur ganz langsam aus dem Griff der aufgezwungenen Bewusstlosigkeit frei. Seine Augen öffneten sich zu schmalen Schlitzen, konnten die Eindrücke, die an ihnen vorbeihuschten, zunächst aber nicht festhalten. Er wollte etwas sagen, auf sich aufmerksam machen, konnte aber keine Worte finden. So ließ er sich – eingehüllt in wohltuende Schmerzlosigkeit – einfach schweigend treiben.

Er sah formlose Schatten von Baumwipfeln vorüberziehen, zwischen denen Fetzen von Himmel hingen, hatte das Gefühl, über Wasser zu gleiten und dennoch festen Halt um sich zu spüren, und war irgendwann sicher, das Schnauben von Pferden zu vernehmen. Zwischendurch dämmerte er immer wieder ein, um beim nächsten Mal stets von einem noch dunkleren Blau über sich und schließlich sogar dem Anblick eines einsamen Sterns empfangen zu werden, der jedoch gleich wieder hinter seinen zufallenden Lidern verschwanden.

Unmittelbar darauf holte ihn eine Berührung aus der Schwärze. Behutsame Finger lagen auf seiner Halsschlagader, lösten sich jedoch gleich darauf, um sich auf seine Stirn zu legen.

Mühsam spähte Aragorn empor.

Ein vager Umriss schwebte seitlich über ihm, der mit einiger Phantasie schließlich zu einem Gesicht wurde.

Ada..."

Mehr als das eine heisere Wort gab seine ausgetrocknete Kehle nicht her, doch es genügte, um seine bislang im Rhythmus des Pferdetempos schwankende Welt Augenblicke später zum Stillstand zu bringen.

„Estel..." Das sanfte Lächeln in der Stimme Elronds war zu ahnen. „Wie fühlst du dich?"

„Schmerzfrei." Er lauschte kurz in sich hinein. „Mir geht es gut... schätze ich."

„Nein, das tut es nicht, doch das ist jetzt nicht wichtig."

Die Hand verschwand von seiner Stirn, schob sich nach einigen Sekunden stattdessen unter seinen Kopf und hob ihn an. Dann wurde die Öffnung eines Wasserschlauches an seine Lippen gepresst.

„Trink. Aber langsam."

Der Waldläufer zögerte unwillkürlich, als ein Bild durch seinen Sinn blitzte. Wie lange war es her, dass er von Legolas gezwungen worden war, vergiftetes Höhlenwasser zu trinken? Einen Tag? Zwei? Machtvoll krampfte sich sein Magen angesichts der schlimmen Erinnerung zusammen, und ohne, dass er es verhindern konnte, drehte sich sein Kopf zur Seite.

„Hab' keine Furcht, mein Sohn. Es ist nur Wasser. Vertrau mir." Elronds Stimme klang besänftigend, jedoch ohne den zwingenden Nachdruck, dem der Mensch im Normalfall nichts entgegenzusetzen hatte. Er begriff, dass sein Vater ihm die Wahl ließ.

Zutiefst dankbar dafür, fragte sich Aragorn für den Bruchteil einer Sekunde, ob der Elb irgendwann nach seiner Rettung aus dem reißenden Fluss in seinen Gedanken gelesen hatte. Dann verwarf er diese Vorstellung wieder. Galadriel hatte diese Macht, nicht jedoch ihr Schwiegersohn. Jedenfalls soweit Aragorn wusste.

Solchermaßen beruhigt begann er nun bereitwillig zu trinken. Das Wasser war wohltuend kühl. Es tat seiner Kehle gut und half ihm, etwas wacher zu werden. Nach mehreren Zügen wandte er den Kopf ab.

„Nicht mehr."

Die Trinkflasche verschwand und die Hand bettete seinen Kopf wieder zurück. Dafür schob sich Elronds Antlitz nun wieder zu ihm hinab. Gleich darauf gesellte sich von der anderen Seite ein zweiter Kopf dazu. Elrohir.

„Schön, dass du endlich wieder bei uns bist, kleiner Bruder. Wir dachten schon, du würdest bis morgen früh durchschlafen." Die Erleichterung in der Stimme des Zwillings war unüberhörbar.

„Wo sind wir?" Aragorn hasste es, sich so hilflos wie in diesem Augenblick zu fühlen. Seine Waldläuferinstinkte verlangten nach einer Auskunft, einem Orientierungspunkt, um sich wirklich sicher fühlen zu können.

„Wenn du dich aufrichten könntest, würdest du Bruchtal schon sehen können," gab Elrond ihm ruhig Auskunft.

Die Worte weckten den Wunsch, sie wahr werden zu lassen. Plötzlich wollte Aragorn nichts sehnlicher, als einen ersten Blick auf sein Zuhause werfen. Unter Zuhilfenahme allen Willens versuchte er sich wenigstens ein paar Zentimeter in die Höhe zu schieben, doch nicht einmal sein unverletzter Arm wollte ihm gehorchen und sich neben seinem Körper abstützen.

„Was...?" Irritiert versuchte er es ein zweites Mal – mit demselben negativen Erfolg. „Was ist mit mir? Warum kann ich mich nicht bewegen?"

„Das kommt von dem Mittel, das ich benutzte," erklärte sein Vater ihm, während sowohl seine wie auch Elrohir Umrisse aus Aragorns Blickfeld verschwanden. Gleich darauf begann seine Trage wieder leicht zu schaukeln, als die Pferde sich erneut in Bewegung setzten. „Es hemmt die Schmerzen und verhindert, dass du deine Muskeln bewegen kannst. Keine Sorge, bis morgen hat die Wirkung nachgelassen."

Nicht glücklich über diese Tatsache, doch ohne die Macht, sie zu ändern, ergab Aragorn sich in sein Schicksal. Er betrachtete schweigend den Sternenhimmel, der sich gerade wie ein diamantenes Tuch über ihm ausbreitete, und ohne, dass er es verhindern konnte, forderten die Strapazen der letzten sechsunddreißig Stunden ihren Tribut. Er schlief tief und fest wieder ein.

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Unterdessen war es auch in den Räumen des Bruchtaler Schlosses dunkel geworden. Die Diener hatten zwar die vielen Kerzen in den Leuchtern entzündet und sogar Feuer in einigen Kaminen entfacht, doch Elladan hatte all das nur am Rande registriert.

Er saß seit seiner Ankunft bei Legolas. Zuerst in den Gemächern seines Vaters, dann in einem ihrer Gästezimmer, nachdem er sicher war, dass ein Transport dem Prinzen trotz seines schwachen Zustandes nicht schaden würde. Dort hatte er zusammen mit dem am frühen Nachmittag zurückgekehrten Glorfindel darauf gewartet, dass Legolas endlich die Augen aufschlug.

Umsonst.

Der Prinz blieb, wie er war: am Leben, atmend, stabil... aber bewusstlos.

Einzig die Sorge um das Wohlergehen Arwens hatte sich mittlerweile zu aller Beruhigung aufgelöst. Elronds Tochter war mit den ersten Schleiern des Abends in den hinteren Burghof geritten, sichtbar glücklich vom Pferd gesprungen und nicht einmal vor Glorfindel zurückgeschreckt, der wie das personifizierte Unheil mit in die Seiten gestemmten Armen auf dem Treppenabsatz auf sie gewartet hatte. Er hielt ihr eine Standpauke, bis sie vor ihrem Zimmer angekommen war.

Inzwischen saßen sie zu dritt an Legolas' Seite, vereint im Schweigen und der Sorge um ihn und das Wohl der noch nicht zurückgekehrten Familienmitglieder.

Als Glorfindel insgeheim bereits darüber nachzudenken begann, einen Suchtrupp zusammenzustellen und ihn auf Verdacht Elrond und den anderen entgegenzuschicken, öffnete sich die Tür des Raumes und ein Elb trat ein.

„Soeben wird die Rückkehr Lord Elronds gemeldet. Er nähert sich bereits dem Schloss."

Fast gleichzeitig erhoben sich Glorfindel und Elladan. Sie tauschten einen raschen, beredten Blick, dann sah Elladan seine Schwester bittend an.

„Arwen, ich bitte dich, bleib an Legolas' Seite. Mich verlangt es danach, Vater und Elrohir zu sehen und zu erfahren, was mit Estel ist."

Arwen, die durch die in Lórien verbrachten zwanzig Jahre kein so enges Verhältnis zu Aragorn hatte aufbauen können, Legolas jedoch seit einer lange zurückliegenden Begegnung als Freund sehr schätzte, nickte bereitwillig.

„Natürlich, geh nur! Und auch Ihr, mein Lord Glorfindel, dürft versichert sein, mich noch hier anzutreffen, solltet Ihr in diesen Raum zurückkehren." Sie schenkte dem goldhaarigen Gondoliner eines ihrer bezaubernsten Lächeln. „Ich verspreche auch, mich bei Euch abzumelden, ehe ich diesen Raum verlasse."

Glorfindel sandte ihr einen verärgerten Blick, dann nickte er widerstrebend, ehe er sich dem in der Tür auf ihn wartenden Elladan anschloss.

Sie waren bereits auf der Treppe, als Glorfindel den Zwilling schließlich von der Seite her ansah.

„Arwen Abendstern war eindeutig zu lange bei eurer Großmutter, Elladan. Ich könnte schwören, die Stimme Lady Galadriels in den Worten deiner Schwester gehört zu haben!" Glorfindel schüttelte frustriert den Kopf. „Nur die Herrin des Goldenen Waldes klingt ebenso zuvorkommend wie spöttisch."

Elladans Antwortlachen war nur halbherzig, denn sie erreichten in diesem Augenblick das Portal, durch das sie ins Freie traten und den Ankommenden entgegensahen.

Flankiert von einigen Wächtern des innersten Wachringes ritt die kleine Gruppe soeben vor das Gebäude, um dann ihre Pferde zu zügeln.

Die beiden wartenden Elben hatten keine Mühe, die Trage zu erkennen, die zwischen Elronds und Elrohirs Pferd befestigt war. Da beide Tiere ihre Reiter trugen, konnte dies nur eines heißen: in der Trage musste Aragorn liegen!

Hastig eilten Elladan und Glorfindel die Stufen hinab, bis sie neben Elrond stehen blieben.

Ada, ist das Estel? Wie geht es ihm? Ist er...?"

Elrond, der unterdessen bereits abgestiegen war, unterbrach die Fragenkaskade seines Ältesten mit einer kurzen Geste.

„Deinem Bruder geht es... Nun, gut wäre über- und schlecht untertrieben. Er lebt, ist zwar schlimm, aber nicht lebensbedrohlich verletzt, wird die nächsten Tage in seinem Bett zubringen und..."

Er ging kurz vorn um sein Pferd herum, um einen Blick in die Trage zu werfen.

„...schläft in Moment wieder."

Die beiden Elben waren ihm gefolgt, und auch Elrohir hatte sich inzwischen zu ihnen gesellt. Aller Blicke lagen auf Aragorns regloser Gestalt. Die Miene Elladans war so ernst, dass es trotz der Schatten der nächtlichen Dunkelheit auf seinen Zügen nicht zu übersehen war. Rasch musterte er die vielen sichtbaren Verbände, die Elrond seinem menschlichen Sohn hatte anlegen müssen.

„Ist das alles das Werk dessen, was in Legolas war?"

„Nein."

Elrond schüttelte den Kopf und schob Glorfindel und seine Söhne zur Seite, damit die gerade hinzutretenden Krieger an die Trage kamen. Sie lösten sie von den Sätteln und verschwanden mit ihr ins Gebäude.

„Das meiste davon fügten ihm jene Menschen zu, vor denen er diese zwei dort..."

Er deutete auf Miro, der seiner müden Begleiterin gerade vom Pferd hinunterhalf.

„...zu beschützen versuchte."

Glorfindel stutzte, als er das Gesicht des jungen Mannes sah. „Ich kenne ihn. Er war doch schon im letzten Jahr bei uns, zusammen mit diesem Assat und Prinz Legolas."

„Richtig, mein Freund." Elrond nickte. „Einmal mehr hat der junge Mirodas das Leben Estels gerettet. Ohne ihn und seine Gefährtin wären Elrohir und ich niemals rechtzeitig genug gekommen, um Estel vor dem Ertrinken zu bewahren. Das Mindeste, das ich im Gegenzug für seine Dienste tun konnte, war, beiden den Schutz Bruchtals anzubieten."

„Ich werde dafür sorgen, dass man ihnen ein Quartier zeigt."

Aufrichtig froh darüber, dass mit Aragorns Heimkehr nun offenbar alles wieder in die gewohnten Bahnen zurückfand, machte Glorfindel Anstalten, auf die beiden jungen Menschen zuzugehen, die unsicher ein Stück abseits stehengeblieben waren und mit ehrfurchtsvollen Blicken die Schönheit des Elbentals betrachteten. Elronds Hand hielt ihn zurück.

„Nein, ich möchte sie in meiner Nähe haben. Zwar tragen sie keine sichtbaren Wunden, doch die auf ihren Seelen sind dafür um so tiefer. Vor allem bei dem Jungen. Er hat Prinz Legolas sehr verehrt und ist verstört über das, was dieser Estel unter dem Einfluss des Bösen antat. Es wird Zeit und Geduld brauchen, bis er seinen Schock überwunden hat."

Der Elbenherr sah den Gondoliner bittend an. „Ich weiß, dass das eigentlich nicht deine Aufgabe ist, aber für dieses eine Mal bitte ich dich, dich um sie zu kümmern. Führe sie an meiner Statt ins Gästezimmer, während ich nach Estel, vor allem aber nach dem Befinden von Prinz Legolas sehen werde."

Während Glorfindel nach einem wortlosen Bestätigungsnicken zu Clary und Miro hinüberging, wandte er sich Elladan zu. „Wie steht es um den Prinzen?"

Elronds Ältester sah sorgenvoll an der Fassade des Schlosses zu jenen Fenstern hinauf, hinter denen er Legolas wusste.

„Nicht gut, fürchte ich."

Mit knappen Worten schilderte er, was seit ihrer Trennung geschehen war, und schloss dann mit den Worten: „Er wacht einfach nicht auf, Ada. Sein Sternenlicht ist wiederhergestellt, sein Lebenswille hingegen scheint mir erloschen. Schon im Felskessel wollte er nichts weiter als sterben, und mir scheint, als hält er an diesem Entschluss selbst in bewusstlosem Zustand noch fest. In Moment ist Arwen bei ihm, doch auch sie schafft es nicht, zu ihm durchzudringen."

Elrond hatte eine solche Komplikation gefürchtet, jedoch bis zu diesem Moment insgeheim gehofft, dass sie ausbleiben würde. Nunmehr eines Besseren belehrt, rieb er sich müde die Augen.

„Ich werde nach dem Prinzen sehen, doch ich glaube, dass selbst meine Künste in diesem Fall vergebens sein werden."

Mit einer Handbewegung forderte er die Zwillinge auf, ihm vorauszugehen, und nach einem letzten ratsuchenden Blick auf die Sterne folgte er ihnen ins Schloss.

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Eine knappe Stunde später war sicher, dass auch Elrond nichts weiter für Legolas tun konnte. Zwar war die Essenz des Prinzen nun wieder elbisch, doch sie steckte in einem Körper, der langsam, aber sicher, erneut zu einer leblosen Hülle wurde.

Elladan bot sich an, in dieser Nacht an Legolas' Seite zu bleiben, doch Elrond übernahm diese Aufgabe selbst. Seinen Ältesten bat er stattdessen, sich um seinen menschlichen Bruder zu kümmern, bis dieser erwachte. Wenn es überhaupt noch eine Hoffnung für Thranduils Sohn gab, dann lag sie jetzt bei Aragorn – und seiner Bereitschaft, zu verzeihen...

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Erste zarte Lichtstrahlen krochen vom Horizont durch die Fenster in Aragorns Zimmer, als dieser das nächste Mal erwachte.

Sobald sich sein Blick fokussiert hatte, erkannte er erste vertraute Dinge: die Tür seines Zimmers, daneben das Schränkchen, in dem er zwischen den Übungsstunden mit Glorfindel für gewöhnlich seine Waffen aufbewahrt hatte...

„Ich bin zu Hause?" Verwunderung und Erleichterung schwangen gleichermaßen in seinen Worten, während er sich für diesen einen Augenblick wieder so wohltuend geborgen fühlte, wie es zuletzt in seiner Kindheit der Fall gewesen war.

„Ja, und es ist schön, dass du wieder da bist!"

Die Stimme kam von der anderen Seite des Raumes, doch noch bevor seine inzwischen wieder funktionierenden Reflexe Aragorns Kopf herumschnellen ließen, hatte sein Verstand sie schon zugeordnet. So kam es, dass ein Lächeln auf seinem Gesicht lag, als die Bewegung endlich beendet war.

„Elladan..."

Die im dämmerigen Zwielicht liegenden Umrisse der brüderlichen Gestalt begannen sich zu bewegen, kamen näher und erhielten schließlich Form und Farbe, als der Zwilling sich neben ihn auf den Bettrand setzte.

„Willkommen, kleiner Bruder! Es wurde aber auch langsam Zeit, dass du aufwachst."

Aragorn schnaubte kurz, als er sich spontan an den abstoßenden Geschmack der Bitterkräutermixtur erinnerte. „Das liegt einzig an dem Mittel, das Ada mir gab. Ohne diesen Trank hätte ich nicht wie ein Toter geschlafen."

Inzwischen hatten sich Aragorns Augen an die schlechten Lichtverhältnisse angepasst. So sah er mühelos, wie Elladan den Blick kummervoll für einen Moment abwandte, ehe er Aragorn wieder ansah.

Etwas daran irritierte den Waldläufer; etwas, das er nicht genau zuordnen konnte. „Was ist? Was habe ich gesagt?"

Zu seiner Überraschung holte Elladan hörbar Luft, ehe er schließlich antwortete. „Es war nichts, was du sagtest. Nun, eigentlich doch. Im Prinzip hast du es genau getroffen..."

Nun verstand Aragorn wirklich kein Wort mehr. Zufrieden registrierend, dass ihm seine Bewegungsfreiheit wiedergegeben war, stützte er sich auf seinem gesunden Arm in eine halb sitzende Position auf „Würdest du dich bitte etwas genauer ausdrücken, Elladan? WAS IST LOS?"

„Ich wünschte, die Umstände würden uns eine andere Wahl lassen. Aber so, wie es aussieht, bist du der Einzige, der noch helfen kann. Alles andere haben wir schon versucht. Ohne Erfolg."

Noch immer um keinen Deut klüger, jedoch alarmiert von der Traurigkeit in der Stimme des Zwillings, setzte Aragorn sich endgültig auf. Seine von einem straffen Verband geschützten Rippen protestierten zwar spürbar gegen diese Belastung, doch der Waldläufer biss einen Schmerzenslaut zurück, um Elladan stattdessen intensiv zu mustern. „Rede deutlich, Bruder! Um was geht es? Wobei kann nur ich noch helfen?"

Aragorn spürte, wie der Elb allen Mut zusammennahm, ehe er wieder zu reden begann.

Ada ist der Ansicht, dass..." Ein Seufzer. „...dass nur du es vermagst, Legolas am Leben zu erhalten."

Das nach seiner Meinung Letzte, das Aragorn direkt nach seinem Erwachen würde hören wollen, war heraus.

Den Worten folgte zunächst ein Schweigen, das so dicht war, dass Elladan es fast meinte greifen zu können. Er hatte zu keinem Zeitpunkt des Satzes Aragorns Miene aus den Augen gelassen, doch der Waldläufer hatte inzwischen gelernt, seine Gefühle nach außen hin perfekt zu verbergen. So blieben dessen Züge undeutbar, als er nach Augenblicken der Sammlung schließlich unmerklich nickte.

„Was ist mit ihm?"

„Er..." Nochmals ein Seufzer, herzenstiefer als der vorherige. „Er ist wieder er, und doch auch nicht. Er könnte leben, doch sein Herz will sterben. Das denken wir zumindest. Anders ist es nicht mehr zu erklären, dass er trotz Adas Bemühungen einfach nicht erwacht."

Wieder war zunächst Stille die Antwort, doch Elladan hütete sich, weiter in seinen menschlichen Bruder zu dringen. Den Dienst, um den er Aragorn bitten musste, war groß; sollte er doch ausgerechnet denjenigen retten, der ihn unter dem Einfluss einer bösen Macht grausam hatte töten wollen. Zwar hatten Elrond und seine Söhne sich mit keiner Silbe über diesen Punkt ausgetauscht, doch das war auch nicht nötig. Keiner von ihnen würde im Vergleichsfalle wohl zu einem solchen Grad an Vergebung imstande sein. In Aragorn hingegen ruhte die dafür nötige Kraft. Dessen waren sie sich sicher.

In diesem drehten sich indes die Gedanken wie Feuerräder. Zwar hatte Aragorn dem Freund sein Verhalten bereits am Fluss vergeben, doch das änderte nichts daran, dass die Bilder des Erlittenen nach wie vor da waren. Es würde lange dauern, bis sie verblassten, begriff der Mensch. Bei Legolas wahrscheinlich noch länger als bei ihm. Elben trugen durch ihre Lebensspanne schwerer an Schuld und Kummer, als Menschen es taten. Vor allem dann, wenn sie – so wie in Legolas' Fall – nicht Herr ihrer Entscheidungen waren. Nun war er es offensichtlich wieder, und wie vorhergesehen erwies sich die Last auf seiner Seele als zu schwer für ihn allein.

Obgleich auch sie für Aragorn fast zu schwer zum Ertragen war, fiel dessen Entscheidung rasch. Es waren Momente wie diese, die den Wert einer Freundschaft zeigten. Die seine mit Legolas war noch immer da. Nicht einmal das erlittene Ausmaß an Gewalt hatte sie auslöschen können. Nun galt es auch den Elben davon zu überzeugen – wo auch immer sein Geist bereits war.

„Hilf mir, Bruder. Ich fürchte allein schaffe ich es nicht, aufzustehen."

Zum ersten Mal, seit er in Elronds Haus lebte, vermeinte Aragorn so etwas wie Bewunderung auf den Zügen des Zwillings zu erblicken, als dieser ihm wortlos einen Arm unter den Achseln durchschlang und auf diese Weise gleich darauf aus dem Bett half.

Schwer mit seinem unverletzten Arm auf den Elbenzwilling gestützt, humpelte Aragorn auf einem gesunden und einem verletzten Bein los. Insgeheim war er dankbar, dass ihm die Belastung die Möglichkeit gab, seine Furcht vor dem Kommenden hinter der Maske des Schmerzes zu verbergen...

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Elrond musste sie bereits gehört haben, denn als die Tür zu Legolas' Zimmer vor Aragorn und Elladan aufschwang, wirkte die Miene des Elbenherrn gefasst. Er war ihnen entgegengekommen, übernahm Aragorn wortlos aus den Händen des Zwillings und half dem Menschen, sich auf einen seitlich neben dem Bett stehenden Sessel niederzulassen.

„Wie fühlst du dich jetzt?"

Aragorn wusste, dass sein Pflegevater ehrlich um seine Gesundheit besorgt war; dennoch hatte er diese spezielle Frage für seinen Geschmack in den zurückliegenden Tagen einfach zu oft gehört.

„Hmm... Ich kann mich wieder bewegen. Das ist doch schon mal ein Anfang. Außerdem sehe ich nicht mehr alles drei- und vierfach, wie noch..." Er warf einen flüchtigen Blick auf den vor den Fenstern heraufdämmernden Tag. „...gestern am Fluss."

Die grauen Augen des Elben huschten blitzschnell und taxierend über die Züge des Menschen.

„Elladan hat dir gesagt, worum wir dich trotz deines Zustandes bitten müssen?"

„Das hat er." Die Stimme Aragorns war ebenso unbewegt wie die des Elben und verriet nichts über seinen inneren Aufruhr.

Elrond kannte seinen menschlichen Pflegesohn jedoch besser, als jeder andere es tat, und so entging es ihm nicht. „Wenn du dich nicht kräftig genug dafür fühlst, kann ich bei dir bleiben und..."

„Nein!" Fast ein wenig zu schroff klingend, ließ dieses eine Wort Aragorns den begonnenen Satz in der Kehle des Elben ersterben. Das Verstehen, das gleich darauf mit Elronds zögerndem Nicken deutlich wurde, ließ den Menschen jedoch erleichtert aufatmen. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine aus seiner Angst geborene Verstimmung zwischen ihm und seiner Familie. Um Verzeihung bittend, legte er Elrond eine Hand auf den Unterarm.

„Bitte, Ada. Das ist etwas, das wir, Legolas und ich, allein durchstehen müssen."

Zu seiner völligen Überraschung strich Elrond ihm übers Haar, so wie er es früher stets getan hatte, wenn er dem Kind Aragorn für etwas hatte Mut machen wollen.

„Ich wusste, dass du so etwas sagen würdest, mein Sohn, und ich kann nicht behaupten, dass ich es leicht nehme. Aber ich weiß, dass es so sein muss. Nur auf diese Art kann Zukünftiges so geschehen, wie es vorgesehen ist. Das betrifft Legolas ebenso wie dich."

Bevor Aragorn etwas zu erwidern wusste, beugte Elrond sich unvermittelt zu ihm herab und küsste ihn auf die Stirn, dann drehte er sich um und ging zur Tür. Dort stand noch immer Elladan, der zutiefst berührt Zeuge der Vorgänge geworden war. Mit einem letzten Blick, der beinahe wie ein endgültiger Abschied anmutete, schloss der Elbenherr die Tür schließlich lautlos.

Nun war Aragorn allein. Allein mit seinen Ängsten, seinen Erinnerungen und dem Anblick des Elbenprinzen, der auf eigentümliche Weise fast so aussah, als gehörte er nicht mehr in diese Welt.

Womit sollte er beginnen? Was konnte er dem Bewusstlosen sagen, um ihn an einem Platz zu halten, den sein Herz offenkundig für sich verloren glaubte? Legolas lief dem Tod schneller hinterher, als bedeutungslose Worte ihn zurückholen konnten.

Aragorn tat das Einzige, von dem er wusste, dass es Legolas' Geist berühren konnte: er begann seine geheimsten Gedanken offenzulegen...

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Legolas trieb durch einen unendlichen, zeitlosen Raum aus Schwärze und Lautlosigkeit, den etwas in ihm bereits kannte und mit einen Begriff versah: dem des Sterbens.

Einmal war da ein Licht gewesen, ein helles Gleißen, das nur für ihn geschienen hatte. Er war darauf zugeschwebt, doch es war vergangen, ehe er es erreicht hatte. Dennoch: wenn er sich an das Schimmern entsann, spürte er instinktiv, dass es noch da war, wenn auch nicht mehr so stark wie zuvor.

Inzwischen schwebte er zwischen Bildern hindurch, von denen manche so schmerzlich waren, dass er seinen Geist am liebsten vor ihnen verschlossen hätte. Doch er tat es nicht, weil er es nicht konnte. Im Gegenteil: er wusste, dass er es verdient hatte, sie anzusehen und durch sie zu leiden.

Hin und wieder, wenn die Qual zu groß wurde, wandte er sich ab und lauschte fernen wispernden Worten, die mal wie ein süßes, tröstendes, bittendes Lied und dann wieder wie ein sorgenvolles, dunkles Grollen klangen. Sie waren so schön und doch so schmerzlich, fühlten sich vertraut und verloren zugleich an, und weckten den Wunsch, sich in Arme zu schmiegen. Irgendjemandes Arme, solange sie ihn nur bargen, wiegten, trösteten und vergessen ließen, was er doch niemals vergessen konnte.

Plötzlich wurde dieses Stimmenwispern lauter. Nun klang es nicht mehr wie eine Melodie, sondern wie etwas anderes. Was auch immer es war: es forderte, dass man lauschte.

Und er tat es.

Unvermittelt wurde es zu einer Stimme, die er kannte. Die er liebte. Die er nie mehr hören zu können geglaubt hatte. Vor der er sich fürchtete und mehr als alles andere schämte.

Aragorns Stimme.

Für den Bruchteil eines Augenblicks freute sich etwas in ihm, dass er noch lebte, dann fiel dem Elb schlagartig alles wieder ein, was ihn die schwarze Leere schon fast hatte vergessen lassen. Beschämt über seine Untaten wollte Legolas sich wieder abwenden, dem fordernden Klang der Stimme entfliehen und war doch gefangen, von dem, was er hörte.

...denn vermutlich werde ich es außer dir auch nie jemand anderem erzählen. Weißt du, Legolas, so schön meine Kindheit auch war, so sehr mich Vater und die Zwillinge auch behüteten und liebten; ich war trotzdem einsam. Außer ihnen und einigen wenigen sahen mich alle mit diesem Blick an, der mich zu einem Außenseiter machte. Es fühlte sich immer wie etwas Schlechtes an. Ich war anders und gehörte nicht hierher. Das ließ man mich spüren, indem man dem Kind Aragorn das verwehrte, was es sich am meisten wünschte: einen Freund. Weißt du, wie das ist? Nein, wie solltest du auch! Dieses Gefühl zerreißt dich. An jedem Tag, den du dich umsonst sehnst. Bis du dich daran gewöhnt hast und abstumpfst, bis du gelernt hast, dieses Unerreichbare nicht mehr zu vermissen...

Während die Worte verklangen, spürte Legolas etwas in sich; ein beinahe schmerzhaftes Ziehen, das ständig stärker wurde. Aragorn sprach mit ihm, um ihn zurückzuholen, begriff der Elbenprinz. Aber er wollte nicht zurück; nicht nach allem, was er getan hatte. Doch gegen seinen Willen trieb es ihn unverändert auf Aragorns Stimme zu. Legolas wusste, was das hieß. Das hieß, zurück in dieses Leben, das er nicht verdient hatte. Zurück in die Schuld.

Inzwischen sprach Aragorn weiter und ließ ihm keine andere Wahl als zuzuhören.

Dann begegnete ich dir. Damals im Wald, erinnerst du dich? Ich habe dir das nie gesagt, doch du warst anders. Von Anfang an. In deiner Gegenwart fühlte ich mich nie minderwertig. Zu keinem Zeitpunkt. Als die Zwerge dich wegschleppten, betteltest du um mein Leben, obwohl du mich nicht einmal kanntest und bereits wusstest, was dir bei ihnen bevorstand. Nie zuvor hatte jemand, der nicht zu meiner Familie gehörte, so deutlich gezeigt, dass ich wichtig für ihn war. Wirklich wichtig. Das war schön und furchteinflößend zugleich. Etwas, nach dem ich mich so lange gesehnt hatte, war endlich geschehen. Ich hatte einen Freund gefunden.

Es war dieser Moment, in dem Legolas' Bewusstsein vollständig in die Wirklichkeit zurückzukehren beschloss, denn das nächste Wort vernahm sein Gehör bereits ganz deutlich aus unmittelbarer Nähe.

„Dich."

Noch immer waren seine Augen geschlossen. Da er noch nicht wieder Herr seiner Reflexe war, konnte er nichts anderes tun, als weiter zuzuhören. Und was er dann vernahm, krampfte ihm die Kehle zusammen.

„Und soll ich dir etwas sagen?"

Plötzlich klang Aragorns Stimme ziemlich angestrengt. Zitternd.

„Ich will diesen Freund nicht verlieren. Obwohl... Wir waren dicht davor. Im Felskessel und danach. Vor allem danach. Was du zu mir sagtest tat weh. Gleichzeitig passte es aber auch zu den Zweifeln, die über die Jahre hinweg still und verborgen in mir gewachsen waren. Ich weiß, dass aus dir das Böse sprach, doch in all den Schmähungen lag auch Wahrheit verborgen. Dieses Etwas in dir... es hat gespürt, wie es mich treffen kann, und das auch weidlich getan. Der Fluch und all das, was ich im Gegenzug zu dir sagte... Es galt nicht dir. Das könnte ich gar nicht. Es galt diesem Etwas, das mich quälte, weil es mich durchschaut hatte."

Legolas hörte, dass der Waldläufer mühsam Luft holte. Noch immer machte er den Anschein der Bewusstlosigkeit, doch hinter den geschlossenen Lidern sammelte sich bereits Feuchtigkeit. Er wollte nicht länger reglos zuhören und hatte doch keine andere Wahl. Wie unter Zwang lauschte er weiter.

„Ich wünschte, ich könnte zurücknehmen, was ich sagte, es dich vergessen lassen. Was weder Gewalt noch Gift oder dieses elende Wasser schafften, bewirken nun diese im Zorn gesagten Worte. Sie treiben dich fort, und nichts kann dich mehr halten. Elbereth, es ist meine Schuld, dass du nicht mehr leben willst. Das wollte ich nicht. Es tut mir leid, Legolas."

Der Elbenprinz war zutiefst erschüttert. Nach all den durchlittenen Grausamkeiten war Aragorn derjenige, der sich schuldig fühlte. Dabei hätte er allen Grund gehabt, ihn zu hassen. Doch was tat Elronds Jüngster? Er bot dem, der ihn so gequält hatte, sogar die Hand eines Freundes. Wie tief musste die Kraft einer Seele reichen, um zu so etwas fähig zu sein?

In diesem Moment wünschte Legolas sich nichts mehr, als den Kampf beenden zu können, den der Mensch seinetwegen mit sich selbst führte. Doch da er noch immer zu keiner Bewegung fähig war, war der Elb gezwungen, weiterhin reglos zu lauschen. Aragorns Gefühle waren inzwischen mühelos an seiner Stimme erkennbar, denn sie war so heiser, wie es nur von unterdrücktem Schmerz kam.

„Ich würde alles tun, damit du deine Meinung änderst. Aber ich weiß nicht, was ich noch machen soll..."

Der Elbenprinz konnte hören, dass Aragorn mehrmals schluckte, ehe er fortfuhr.

„Wie soll ich verhindern, dass du gehst? Ich will dich nämlich nicht loslassen, hörst du? Ich kann es nicht."

Und dann viel leiser: „Ich will mich nicht noch einmal so einsam fühlen müssen wie in dem Moment, als ich glaubte, dich endgültig an das Böse verloren zu haben. Ich vertraue Ada und den Zwillingen, wenn sie mir sagen, dass dein Sternenlicht nun wieder da ist. Das heißt, dass du noch irgendwo da drinnen steckst. Lass' mich jetzt nicht im Stich! Bitte..."

Die Worte waren mehr, als der Elbenprinz ertragen konnte. Er begriff nicht, wie Aragorn noch so freundschaftlich für ihn empfinden konnte, nach allem, was er ihm angetan hatte.

Plötzlich löste sich die Starre, die ihn bisher gefangen gehalten hatte. Mit einem seufzerähnlichen Atemzug schlug er seine Augen auf, doch die morgendliche Helle wurde von den Tränen gedämpft, die in seinen Augen schwammen und ihm die Sicht nahmen. Legolas war es recht. Er ertrug den Gedanken noch immer nicht, im Gesicht des Menschen jene Vergebung zu finden, die er sich selbst nicht gewähren konnte.

„Legolas, du bist erwacht! Endlich."

Aragorn registrierte das so herbeigesehnte Erwachen des Freundes mit einer Mischung aus Freude und Erleichterung. Gleich darauf wich sein aufkommendes Lächeln Beklommenheit, als der Elb zunächst schweigend an die Decke starrte, dann einen Arm hob und ihn sich über die Augen legte, um alles um sich herum, vor allem aber den Anblick Aragorns, auszusperren.

„Bitte, Aragorn, geh' fort. Ich habe deine Sorge nicht verdient."

Der Waldläufer hatte eine solche oder ähnliche Reaktion zwar erwartet, doch er verspürte trotzdem einen Stich tief in sich. Überrascht stellte er fest, dass es Angst war. Angst, dass der Elbenprinz sich wieder in sich selbst zurückziehen könnte.

„Warum sagst du so etwas?"

„Weil es stimmt. Ich bin ein Monster. Wie..." Legolas' Stimme klang so unsicher, als müsste sie sich erst wieder an ihre Funktion erinnern. „...kannst du nach allem noch etwas anderes als Hass für mich fühlen?"

Plötzlich wurde Aragorn ganz ruhig.

Der erste Schritt des Weges war zwar getan, doch das schwerste Stück lag noch vor ihnen. Und das begann jetzt.

„Du hast gehört, was ich sagte?"

„Ja," kam die gepresste Antwort. „Das meiste davon jedenfalls. Und ich verstehe nicht, wie du mich noch deinen Freund nennen kannst! Nach allem, was ich tat. Ich will es ja glauben, kann es aber nicht..."

„Glaub' es ruhig, denn es ist die Wahrheit," lautete die schlichte Erwiderung. „Was du... was das Böse in dir tat, war schlimm, aber es ist vorbei. Ich habe überlebt."

„Ohne mich hättest du gar nicht erst um dein Leben kämpfen müssen."

Der Waldläufer seufzte. Das Gespräch gestaltete sich schwieriger als erwartet. „Ohne dich wären viele Dinge nicht geschehen, Legolas. Zum Beispiel wäre ein junger Mann jetzt nicht mehr am Leben und seine Braut die Gefangene eines grausamen Mannes. Es waren nicht zuletzt auch deine Taten, die es Vater und Elrohir ermöglichten, die beiden zu retten. Und was mich betrifft, so habe ich dir bereits am Fluss vergeben."

Eine Träne lief an der Wange des Elben hinab, doch er wischte sie mit einer raschen Bewegung fort. „Ich hätte ganz etwas anderes als Vergebung verdient."

„WAS hättest du deiner Meinung nach denn verdient?" seufzte Aragorn. „Verachtung? Oder den Hass, auf den du zu warten scheinst? Womöglich sogar Strafe?"

„Den Tod hätte ich verdient," flüsterte der Prinz, noch immer jeden Blick meidend. „Kein Wesen, das tat, was ich tat, verdient das Leben! Warum habt ihr mich nicht einfach sterben lassen? Mittelerde wäre ohne mich bestimmt sicherer."

Aragorn erkannte, dass das Gespräch eine ungünstige Wendung nahm. Er musste schnell etwas tun, um den Elb aus seinem Schock herauszuholen, in dem er sich seit dem Wiedererwachen befand. So schaltete er von Sorge auf Angriffstaktik um.

„Du sagtest, du hättest meine Worte gehört, doch ich stelle fest, dass du gelogen hast. Schon wieder."

Legolas schwieg, auch wenn er insgeheim nicht wusste, wovon der andere sprach. Er glaubte weitaus mehr verdient zu haben als nur verbale Anklagen. Aragorn fuhr unterdessen fort, und verschärfte seinen Ton nochmals.

„Vielleicht hat Ada sich ja geirrt und es ist noch etwas von diesem bösen Geschöpf in dir. Der Legolas, den ich noch immer meinen Freund nenne, hätte sich nämlich nicht wimmernd wie ein Kind zusammengerollt, sondern den Konsequenzen seiner Handlungen gestellt. Doch das ... das Wesen, das hier vor mir liegt, dieses sich selbst bemitleidende, schwache Häufchen Todeswunsch, lügt. Es hat mir nicht zugehört und schon gar nicht begriffen, um was es hier geht!"

Endlich erzielten die Worte eine Wirkung. Der Elbenprinz zog den Arm vom Gesicht und wandte dann den Kopf zur Seite, um ihn verletzt anzufunkeln.

„Und um was geht es hier, Mensch, das dieses sich selbst bemitleidende, schwache Häufchen Todeswunsch nicht begreift?"

Aragorn zuckte wie beiläufig mit den Schultern. „Um uns geht es, Legolas. Um die Dinge, die uns zu Freunden machten, und um jene, die uns entzweien werden, wenn wir es nicht verhindern."

„Was gibt es da noch zu verhindern?" Der Elb schnaubte desillusioniert. „Sie haben uns längst entzweit; und zwar in dem Moment, in dem ich dich wie ein Tier zu jagen begann."

„Na bitte, endlich sind wir am Ziel."

Sich jedes Zeichen von Schmerz verbeißend, beugte Aragorn sich – so weit es ging – zu Legolas vor, der sich gerade aufgesetzt hatte und ihn finster, doch auch mit einem guten Maß an Schuld in den Zügen anstarrte.

„Es geht doch schon die ganze Zeit darum, was ich tat."

„Nein." Aragorn schüttelte den Kopf. „Bisher ging es darum, einem der sanftmütigsten Elben, die ich kenne, seinen Todeswunsch zu nehmen. Jetzt, wo ich sicher bin, dass er nicht mehr länger sterben will, geht es darum, ihm klarzumachen, wer er ist."

„Und? Wer bin ich, deiner Meinung nach?"

„Mein Freund."

„Ich begreife es nicht. Leidest du an Gedächtnisschwäche, Estel?"

Endlich brach der Damm, der Legolas' Gefühle eingesperrt hatte.

„Soll ich dir beschreiben, was geschah? Ich kann mich nämlich an alles genau entsinnen. Es ist wie eingebrannt. Ich sehe es, wenn ich die Augen schließe, höre dich betteln, wenn es still ist... Selbst jetzt kann ich dich noch hören, erinnere mich, wie sich etwas in mir an dem Anblick geweidet hat. Dein Fluch, Aragorn... Er hat sich erfüllt."

Er seufzte. Alle Energie war verraucht. „Solch ein Untier kannst du unmöglich deinen Freund nennen."

„Und doch tue ich es. Das Untier, wie du sagst, würde weitermachen, wo es aufgehört hat. Du hingegen quälst dich. Das tut nur jemand, der aufrichtige Gefühle hat. Wie eben ein Freund."

„Schöner Freund..." schnaubte Legolas. „Du hast eine seltsame Vorstellung von Freundschaft, Aragorn."

Der hatte Mühe, nicht mit den Augen zu rollen, da die Unterhaltung sich im Kreis zu drehen begann. So griff er zu einer anderen Taktik.

„Dann sag mir eines: gab es zwischen dem Tag, an dem wir uns kennen lernten, und jenem, an dem ich in diesen verfluchten See stieg, jemals eine Sekunde, in der du mir wehtun wolltest? Nicht nur mit Worten, sondern körperlich und mit Freude, wie es das Böse in dir tat. Wolltest du mich jemals aus Spaß oder zu deinem Vergnügen quälen?"

„Nein, niemals, aber..."

Aragorn ließ ihn gar nicht erst ausreden, sondern fuhr ungerührt fort. „Wolltest du mich je zuvor jagen oder irgendetwas von dem tun, das ... das gestern geschah?"

„Nein," kam prompt die leise Antwort. „Nie."

„Und was war im letzten Jahr, als mein Vater mich ohne euer Wissen in den Scheintod versetzte, um so die Südländer auf eine falsche Spur zu locken? Wie war es da, Legolas? Sei ehrlich zu dir. Ich erinnere dich dabei an unseren Spaziergang in Lórien."

„Das war etwas ganz..."

Aragorn sah, dass die Anspannung langsam aus dem Elben wich. Er war auf dem richtigen Weg und so ließ er ihn auch diesmal gar nicht erst ausreden.

„Was? Etwas Anderes? Das war es nicht! Im Gegenteil. Es ging damals wie heute um die gleiche Sache, nämlich um unsere Sorge umeinander, um unsere Freundschaft und um die Bereitschaft, füreinander einzustehen. Selbst Monate nach den Ereignissen warst du noch wütend auf mich. Aber hättest du mir deswegen bewusst wehgetan?"

„Ja, das habe ich, wenn du dich recht erinnerst..." Ein zerknirschter Blick streifte Aragorn, der sich spontan wieder daran entsann, wie Legolas ihn mit einigem Schwung schmerzhaft gegen einen Baumstamm geworfen hatte.

„Aber du hast es unbewusst getan, nicht aus Vorsatz, also zählt es nicht," unterbrach Aragorn ihn.

Da Legolas trotzdem den Kopf hängen ließ, beschloss er, anders an die Sache heranzugehen.

„Dann sag mir: Wie würdest du handeln, wenn jetzt, in diesem Moment, mein Leben erneut in Gefahr wäre? Würdest du dich abwenden? Es sogar genießen?"

„Nein, natürlich nicht." Legolas' Blick, für einen kurzen Moment entrüstet, schnellte aus Reflex in die Höhe, um sich gleich darauf wieder zu senken. Hände verknoteten sich in seinem Schoß miteinander.

„Glaubst du, ich würde das tun, läge die Sache anders herum?" bohrte Aragorn weiter, der den Freund genau beobachtete.

„Niemals. Du bist ja sogar jetzt noch für mich da, obwohl ich..." Der Elb verstummte, weil er schließlich begriff, worauf Aragorn hinausgewollt hatte.

„Siehst du. Endlich verstehst du," nickte dieser und verzog gleich darauf schmerzerfüllt das Gesicht. Die angebrochenen Rippen nahmen seine leicht vorgebeugte Haltung inzwischen übel und machten ihm das deutlich.

Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er sich überaus behutsam gegen die Rückenlehne des Sessels zurücksinken, ehe er fortfuhr.

„Nichts hat sich geändert, Legolas. Nichts Wesentliches jedenfalls. Du würdest dich jetzt sofort und ohne zu zögern für mich in Gefahr begeben, bestünde die Notwendigkeit, und ich würde umgekehrt das gleiche tun. Weißt du, was das heißt?"

Zögernd hob Legolas seine Augen wieder, doch endlich war etwas von jenem lebensmüden Ausdruck daraus verschwunden. Zwar lag noch immer ein Schatten darin, doch er war nicht mehr so tief wie zuvor und kündete davon, dass die Seele des Prinzen zu heilen begann. Noch lächelte er nicht, doch seine Miene war endlich ruhig, als er Aragorn unsicher ansah.

„Ich wage es nicht auszusprechen..."

Erschöpft von dem emotionalen Kampf, den sie miteinander durchgestanden hatten, schüttelte Aragorn den Kopf.

„Dann sage ich es eben. Wir sind immer noch Freunde. Unsere Freundschaft hat die letzten zwei Tage überlebt. Wir sind von nun an wahrscheinlich aufmerksamer, weil wir wissen, wie dunkel unsere Seelen sein können. Deine ebenso wie meine oder wie die jedes anderen Wesens auf Ardas Antlitz. Das macht niemanden schlechter. Es macht uns nur bewusster, was wir aneinander haben, und aufmerksamer, wenn es darum geht, es nicht zu verlieren."

„Aber es ist auch nicht mehr wie früher." Legolas hatte zielsicher den einzigen Punkt gefunden, der beiden noch wehtun konnte.

„Das nicht." Aragorn spürte, wie sein Kopf erneut zu hämmern begann. „Wir werden nicht mehr so unbeschwert sein wie bisher und dieser Verlust tut auch mir leid. Lass uns Zeit, Legolas. Uns beiden. Das wird ... wieder... mit der Zeit... wenn wir vergessen haben..."

Die Kräfte des Menschen waren endgültig aufgebraucht und seine Gedanken begannen sich ungeordnet durcheinander zu bewegen, hin und her getrieben von den mannigfachen Schmerzen, die überall in Aragorns Körper bohrten.

Dem Elben blieb das natürlich nicht verborgen. Alarmiert sprang er vom Bett auf, um an Aragorns Seite zu hasten.

„Was hast du?"

Erst jetzt, da seine Aufmerksamkeit nicht mehr einzig und allein auf die Vergangenheit gerichtet war, nahm Legolas den Verband wahr, den Aragorn unter der vorn offenen Tunika um die Rippen trug. Auf den zweiten Blick sah er weitere Verbände, die sich durch den dünnen Stoff der Kleidung des Waldläufers an einem Arm bzw. einem Bein abzeichneten. Schuldbewusst registrierte er die Male, die die Fesseln an Aragorns Handgelenken hinterlassen hatten und schließlich fiel sein Blick auf eine vom dunklen Lockenhaar Aragorns halb verborgene, inzwischen verschorfende Wunde an dessen Kopf. Er erbleichte sichtlich, als er sich des schlechten Zustands des Menschen voll bewusst wurde.

„War..." Er schluckte. „War ich das etwa alles?"

„Nein." Auch Aragorns Züge waren nun blass und die Ringe unter den Augen traten deutlich hervor. „Einiges davon stammt von den Schergen dieses Amtmannes, der Miro und mich umbringen wollte."

„Miro?" Legolas entsann sich an den Jungen, der ein paar Monate in Düsterwald gelebt hatte. „Welche Rolle spielt er bei dieser Sache?"

Die Sicht Aragorns begann zu verschwimmen, als er stöhnend zu dem Elben empor blinzelte. „Das ist eine lange Geschichte, die er dir selbst erzählen soll. Er ist hier in Bruchtal, wenn Ada sein Wort gehalten hat. Sprich mit ihm und dem Mädchen. Sie waren es, die mich aus dem Fluss befreit haben, weißt du..."

Aragorn brach ab, als eine Welle von Übelkeit ihn zu übermannen drohte. Doch bevor er zur Seite kippen konnte, griff Legolas vorsichtig zu, um den Freund festzuhalten. Erleichtert bemerkte er, dass Aragorn nicht vor der Berührung zurückschreckte.

„Lehn dich zurück, Estel. Ich werde deinen Vater suchen, damit er dir helfen kann..."

„Nein." Noch ehe Legolas loslaufen konnte, schnellte Aragorns Hand vor und packte kraftlos den Arm des Prinzen. „Bring mich einfach in mein Zimmer. Ich muss nur schlafen, dann wird das schon wieder..."

Der Elbenprinz war zwar anderer Ansicht, doch er brachte nicht den Mut auf, seinem Freund zu widersprechen. So zog er sich den unversehrten Arm des Menschen über seine Schulter, hievte ihn so empor und begann mit ihm langsam zur Zimmertür hinüberzugehen. Angesichts des schweren Humpelns und des zunehmend unsicheren Ganges Aragorns und in Anbetracht der Tatsache, dass er seine gewohnte Kraft fast wieder zur Verfügung hatte, trug er schließlich fast das ganze Körpergewicht des Menschen.

Sie hatten kaum den Gang betreten, als eine vertraute Stimme Legolas unvermittelt stehen bleiben ließ.

„Wartet, ich helfe Euch."

Elrond hatte es nicht fertiggebracht, sich allzu weit vom Zimmer fortzubewegen. Um notfalls schnell zur Stelle sein zu können, falls sein Pflegesohn ihn doch noch brauchen sollte, hatte er zunehmend ungeduldiger darauf gewartet, dass etwas geschah.

Sich nunmehr in seiner Erwartung bestätigt sehend, half er Legolas, Aragorn in sein Zimmer zurückzuschaffen und ins Bett zu legen. Routiniert und mit einer sichtbaren Portion Besorgnis verschaffte er sich einen raschen Überblick über Aragorns Zustand, prüfte die Verbände, um schließlich zu einigen auf dem Nachtschränkchen stehenden Fläschchen zu greifen. Er mixte deren Inhalt in einem Becher zusammen, gab etwas Wasser aus einer Karaffe hinzu und hob ihn schließlich an die Lippen seines Sohnes.

„Komm, Estel, es wird Zeit für dich, auszuruhen."

Der Waldläufer trank das Gebräu, ohne auch nur das leiseste Zögern zu zeigen. Momente später glätteten sich seine schmerzverzerrten Züge. Es war unschwer zu erkennen: Aragorn war eingeschlafen.

Legolas hatte während dieser ganzen Zeit reglos an der Tür gestanden und die Handlungen des älteren Elben mitangesehen. Erst, als dieser sicher war, dass sein Pflegesohn nunmehr außer Gefahr war, wandte er sich zu Legolas um.

„Es erleichtert mich, Euch wieder bei Bewusstsein und wohlauf zu sehen, mein Prinz."

„Wach bin ich dank Aragorn. Wohlauf auch wieder, dank Euch, wie ich annehme. Doch noch immer liegt viel auf meiner Seele."

„Ich nehme an, Ihr seid zumindest mit meinem Sohn ins Reine gekommen?"

„Soweit es möglich war, ja." Legolas nickte und hielt den prüfenden grauen Augen Elronds unter Aufbietung allen Willens stand. „Es war nicht leicht für uns, doch Euer Sohn hat mir verziehen."

„Und Ihr?" Die Miene Elronds ließ nicht erkennen, was er dachte. „Habt Ihr Euch auch verziehen?"

Legolas spähte zu seinem Freund hinüber. „Ich werde es. Nicht sofort. Aber irgendwann. Nachdem ich mir verziehen habe, dass meinetwegen alles zunichte gemacht wurde, wofür Euer Sohn und Ihr im letzten Jahr so sehr gelitten habt."

Elrond runzelte verständnislos die Stirn. „Wie meint Ihr das?"

Der Prinz winkte einmal in die Runde. „Ich meine dies hier. Dies alles. Bruchtal. Estel wollte tot für die Welt bleiben, um Euch und die, die er liebte, damit zu schützen. Nun jedoch ist er hier und vermutlich wird sich die Nachricht bald wie ein Lauffeuer herumgesprochen haben. Alles war umsonst durch meine Schuld..."

Der ältere Elb ließ den jüngeren nicht ausreden. „Nicht alles in Arda habt Ihr getan, junger Prinz. Dass Estel hier ist, war seine eigene Entscheidung, nicht die meine oder das Ergebnis der letzten Tage."

Jetzt war es Legolas, der nichts mehr verstand. „Es war seine Entscheidung?"

Elrond nickte. „Es war die Richtige. Schließlich hat er seinen Irrtum doch noch eingesehen. Und ich bin froh darüber."

„Ich auch," bestätigte Legolas leise. „Vor allem angesichts seiner Verfassung. Wie geht es ihm wirklich, mein Lord?"

Elronds Blick streifte seinen menschlichen Sohn. „Nicht sonderlich gut in Moment. Zwei angebrochene Rippen, Pfeilschusswunden in Arm und Bein, mehrere Kopfverletzungen, darunter eine ziemlich tiefe, die so ungünstig liegt, dass ich sie nicht einmal bandagieren kann, ohne Estels Kopf völlig einzuwickeln. Hinzu kommen Schürfwunden überall und extreme Erschöpfung. All das hat ihn an den Rand seiner Kraft gebracht. Aber er wird sich wieder erholen. Mit genügend Schlaf und Schonung ist er in spätestens zwei Wochen wieder auf den Beinen. Wenn ich ihn solange in seinem Bett festhalten kann, heißt das. Für die nächsten zwölf Stunden schläft er jedenfalls so tief, dass ich es wagen kann, ihn allein zu lassen. Das gibt uns genug Zeit zum Reden, denke ich."

Legolas nickte beklommen, hatte er doch so etwas vorhergesehen. Nach einem letzten Blick auf den ruhenden Menschen folgte er Elrond zu dessen Gemächern.

Als der Elbenherr die Tür öffnete und den Prinzen vor sich hineinwinkte, erblickte dieser dort überraschend die Zwillinge. Ihr Vertrauen in Aragorns Fähigkeiten musste enorm sein. Obgleich Legolas vor noch gar nicht allzu langer Zeit bereits auf dem Weg in die westlichen Hallen gewesen war, schienen sie tatsächlich sein Erscheinen erwartet zu haben.

Beide erhoben sich, als sie ihn erblickten, doch neben der Erleichterung, ihn wieder wach zu sehen, lag noch etwas anderes in ihren Mienen; etwas, das dem Prinzen eine unangenehme Unterhaltung ankündigte.

Aragorn hatte ihm bereits vergeben. Er erwartete nicht, dass dessen Elbenfamilie es ihm leicht machte, doch wenn er ehrlich genug war, würden sie es vielleicht auch tun.

Sich gewaltsam zusammennehmend, trat er vor Elrond in den Raum.

Der schloss leise die Tür hinter sich und blieb dann stehen. „Lasst uns über das sprechen, was in den letzten sechsunddreißig Stunden geschah, Legolas..."

-x-x-x-

Die Sonne stand am Scheitelpunkt ihrer herbstlichen Tagesbahn, als Legolas mit schleppenden Schritten das Bruchtaler Schloss verließ, um in den hinteren Gärten Augenblicke des Friedens zu finden.

Wie nicht anders zu erwarten, war es eine schonungslose Unterredung geworden, an deren Ende jedoch die erhoffte Vergebung stand. Dankbar dafür, doch geistig völlig erschöpft, hatte Legolas sich entschlossen, in der Natur die so dringend benötigte Ruhe zu suchen.

Der Herbst, der in diesem Jahr ungewöhnlich lange zu dauern schien, meinte es auch an diesem Tag gut, denn die Temperaturen waren durchaus als angenehm zu bezeichnen. Ein flüsternder, sanfter Wind raschelte durch die bunt gefärbten Blätter und ließ sie wie verführerische Arme winken, wobei jeder auf eine andere Baumkronenzuflucht zu deuten schien.

Bereits im Begriff, sich in eine davon zu flüchten, blieb Legolas überrascht stehen, als er in einigen Schritten Entfernung ein junges Paar erblickte, das einander in den Armen hielt.

Die Frau kannte er nicht, doch das Gesicht des Mannes, das sich ihm in diesem Augenblick zuwandte, war ihm vertraut. Nicht vertraut hingegen war ihm das deutlich sichtbare Zögern, mit dem Miro seinem Blick Momente später auswich.

Die Ruhe, nach der er sich so sehnte, schienen ihm die Valar solange verwehren zu wollen, bis er wirklich restlos alles geklärt hatte. Warum sonst sollten sie ihm ausgerechnet jetzt den, wie er inzwischen von Elrond wusste, anderen Leidtragenden in den Weg stellen?

Legolas seufzte innerlich, ehe er sich wieder in Bewegung setzte und langsam auf die beiden Menschen zuging. Die blieben, wo sie waren, doch die Blicke, die sie ihm entgegenschickten, schienen ihm in seiner Einbildung Bände zu sprechen. So glaubte er eine unsichtbare Wand zwischen sich und den Menschen zu spüren, als er schließlich in einer Armeslänge Entfernung von ihnen stehen blieb.

„Mirodas." In einer höflichen Begrüßungsgeste neigte der Elb sein Haupt vor dem jungen Mann, der sich – unsicherer denn je angesichts dieser Respektbezeugung – nach einigen Schocksekunden schließlich ebenso höflich verneigte.

„Prinz Legolas, ich hörte schon, dass Ihr hier seid, dachte nur nicht, Euch so schnell zu begegnen." Aufgewühlt griff Miro nach Clarys Hand. Er hatte ihre Anwesenheit für einige Momente völlig vergessen, wurde sich dessen nun jedoch schlagartig wieder bewusst. „Darf ich Euch Clary Nigiath vorstellen?"

Der Elb sah die junge Frau an, die ihn ihrerseits befangen, aber nichtsdestotrotz intensiv, musterte. Noch vor wenigen Tagen hätte Clary niemandem geglaubt, dass sie heute mit einem Elben sprach, der noch dazu von königlicher Abstammung war. Es war jedoch der Funke Unsicherheit, den sie in seinem gesamten Wesen entdeckte, der sie alle Furcht verlieren ließ, die sie bis zu diesem Zeitpunkt noch vor Elben gehabt haben mochte. Offenkundig hatten Elben dieselben Ängste und Probleme wie die Menschen. Das zu wissen, beruhigte sie.

„Lady Clary, es freut mich, Euch kennenzulernen." Ebenso höflich wie zuvor verbeugte Legolas sich auch vor ihr, und ebenso wie Miro erwiderte auch sie diese Geste in anmutiger Weise.

„Miro erzählte mir von Euch, Hoheit..." begann sie zaghaft, verstummte jedoch, als sie sah, wie Legolas bei ihren Worten den Blick senkte. „Verzeiht, falls ich Euch irgendwie zu nahe trat."

„Nein, das seid Ihr nicht." Der Elb zwang sich, seine Hände ruhig vor dem Körper zu falten, obgleich er sie am liebsten verlegen geknetet hätte. „Im Gegenteil. Eure Worte geben mir die Gelegenheit, auch mit Mirodas und Euch ins Reine zu kommen. Estel sagte mir, dass er euch beiden sein Leben verdankt."

„Das... das ist richtig." Man sah, wie unangenehm Miro dieses Thema war – und wie schwer er die richtigen Worte fand, um zu sagen, was gesagt werden musste. „Es war ein glücklicher Zufall, dass wir zur rechten Zeit kamen."

„Ein Zufall, für den ich den Valar ewig dankbar sein werde, hat er doch den schlimmsten denkbaren Fall verhindert." Auch Legolas kämpfte um den passenden Beginn für seine Entschuldigung. „Lord Elrond sagte mir, dass er euch erklärt hätte, wie es zu dem kommen konnte, was ... durch mich geschah."

„Das hat er." Miro nickte verhalten. „Und es tut mir leid, dass Euch ein so schreckliches Schicksal widerfuhr, mein Prinz."

Legolas, der mit Abweisung oder Schlimmerem gerechnet hatte, starrte den jungen Mann unsicher an. Zum zweiten Mal entschuldigte sich jemand bei ihm, der eigentlich auf der anderen Seite einer solchen Rede stehen sollte. Er unterdrückte ein Kopfschütteln im letzten Augenblick. Erst Aragorn, jetzt Miro. War das eine besondere Wesensart bei Menschen, dass sie sich für Dinge schuldig fühlten, für die sie gar nichts konnten? Oder waren sie einfach nur schneller zum Verzeihen bereit als das Erstgeborene Volk? Er beschloss, bei nächster Gelegenheit Lord Elrond danach zu fragen.

„Nein, nein, ich bin es, dem etwas leid tun muss." Der Elb sah die beiden jungen Leute offen und ehrlich an. „Und es tut mir unsagbar leid, auch dich durch mein Verhalten verletzt zu haben, Mirodas. Ich wollte niemandem wehtun, und doch habe ich Dinge getan, die..."

„Nicht, bitte."

Es war Clarys schmale Hand, die urplötzlich auf seinem Unterarm lag, aber hastig zurückgezogen wurde, als sie auf Legolas' erstaunten Blick hin sich verlegen ihrer Handlung bewusst wurde.

„Estels Pflegevater hat uns erklärt, dass Ihr das Opfer einer Macht wurdet, gegen die niemand eine Chance gehabt hätte. Er sagte, Ihr wäret nicht Ihr gewesen. Etwas Anderes, Uraltes, Böses hätte Eure Hand geführt. Jetzt sehe ich Euch vor mir, höre Eure Worte und weiß, dass er Recht hat."

„Lady Clary, mit allem Respekt: Ihr kennt mich doch gar nicht." Jetzt konnte Legolas ein Kopfschütteln nicht mehr unterdrücken, doch statt irritiert über seine Reaktion zu sein, lächelte ihn die junge Frau scheu an.

„Das muss ich auch nicht, Hoheit. Ich bin vielleicht nicht gebildet oder aus vornehmem Hause, doch ich merke, wenn sich jemand verstellt. Böse Leute entschuldigen sich nicht, sondern machen stets weiter, als sei nichts geschehen. Böse Leute sind nicht verlegen wie Ihr, sondern selbstbewusst genug, demjenigen, dem sie wehgetan haben, auch noch ungeniert ins Gesicht zu lachen. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Solch ein böser Mensch war es ja auch, der uns jagte. Wenn Estels Vater und Bruder nicht gekommen wären, wären mein Miro und Euer Freund jetzt tot und ich Cobiarhs Gefangene. Mit Verlaub, Ihr mögt eine Menge sein, Hoheit, doch Ihr seid mit Gewissheit nicht böse."

„Ihr wisst nichts über mich. Glaubt mir, ich habe vieles in meinem Leben getan, auf das ich nicht stolz bin," wandte der Elb ein, doch Clary neigte skeptisch den Kopf zur Seite.

„Und in Moment glaubt Ihr keinem, der Euch sagt, dass Ihr unschuldig an allem seid."

„Weil es nicht so ist." Langsam wurde Legolas dieser Diskussion müde.

Clary hingegen nicht. „Wenn es nicht so ist, dann fragt euch, Hoheit, ob wirklich Ihr es wart, der die Hand gegen Estel hob, oder das, was in euch war. Könntet Ihr so etwas aus freiem Willen tun? Findet diese Antwort, dann wisst Ihr auch, wie schuldig oder unschuldig Ihr seid."

Noch nie in Legolas' langem Leben hatte ihn etwas so verblüfft wie die Worte der jungen Frau eben. Er sah sie mit wachsender Faszination an.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Lady Clary," gestand er schließlich hilflos. „Woher nehmt Ihr diese Einsichten?"

Flüchtig huschte ein trauriges Lächeln über Clarys junges Gesicht. „Ich hatte eine sehr kluge Amme, Hoheit. Da ich keine Mutter hatte, die mich alles über das Leben lehren konnte, gab sie an mich weiter, was sie wusste."

„Und Ihr wart eine gelehrige Schülerin." Der Elb lächelte sie an. „In Euch steckt ein Grad an Weisheit, um den so manch Gelehrter Ardas Euch beneiden sollte. Ich werde über das, was Ihr sagtet, nachdenken und danke Euch für Eure Aufrichtigkeit."

Dann wanderte sein Blick zu Miro hinüber, der dem Wortwechsel ruhig zugehört hatte.

„Dich kann man nur beneiden, Mirodas. Du hast dir eine Gefährtin gewählt, auf die jeder mit Recht stolz wäre. Sie ist wunderschön, klug und sehr beherzt, wie man sehen konnte. Du bist ein glücklicher Mann."

„Ja." Miro sah seine Gefährtin liebevoll und stolz zugleich an. „Das bin ich wirklich. Sogar so sehr, dass wir uns entschlossen haben, hier in Bruchtal Mann und Frau zu werden, sobald Estel kräftig genug ist, an der Zeremonie teilzunehmen."

„Ich freue mich für euch beide und denke, dass Lord Elrond sicher mehr als bereit ist, euren Bund zu besiegeln. Dann wünsche ich Euch für die Zukunft das Beste, das Arda geben kann. Wenn es jemand verdient hat, glücklich zu werden, dann du, Mirodas. Ich..."

Legolas zögerte kurz.

„Ich weiß nicht, ob es dir noch etwas bedeutet nach all dem, aber du und deine Braut, ihr seid jederzeit gern gesehene Gäste in meinem Reich. Und das meine ich ehrlich."

Der Elb wollte noch etwas sagen, verschluckte die Worte dann aber. Er glaubte ohnehin schon zuviel gesagt zu haben, denn in diesem Moment wechselten die beiden jungen Leute einen langen beredten Blick. Er glaubte den Inhalt dieses wortlosen Austausches mit Gewissheit zu kennen und wollte sich bereits enttäuscht von ihnen abwenden, als Miros nächster Satz ihn innehalten ließ.

„Wir danken Euch, mein Prinz. Clary und ich... Wir hätten es gern, wenn auch Ihr als Gast an der Zeremonie teilnähmt."

Ungläubig sah dieser zwischen den beiden jungen Menschen hin und her. „Ist das wirklich dein... ich meine, euer Ernst? Trotz allem, was war?"

„Wir würden uns freuen," bestätigte nun Clary die Worte ihres Bräutigams lächelnd und hakte sich bei diesem unter.

„Und wir kommen auch gern als Besucher nach Düsterwald, um unseren Kindern Euer Reich zu zeigen. Vielleicht habt Ihr Euch bis dahin selbst verziehen, mein Prinz. Clary und ich, wir haben es jedenfalls bereits getan."

Da war er wieder, dieser Satz, den er so ähnlich schon einmal an diesem Tag von Elrond gehört hatte. Einmal mehr fand Legolas sich sprachlos wieder, doch diesmal erwiderte er nichts. Wissend, dass er die beiden sich nun verliebt küssenden Menschen nur noch störte, wandte er sich nach einem letzten langen Blick ab und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Leise wehte ein Satz hinter ihm her.

„Ist es nicht ein bisschen vorschnell, jetzt schon von Kindern zu sprechen?"

„Wer hat denn damit angefangen? Ich erinnere mich da an einen gewissen Moment..."

Der Elb lächelte unwillkürlich, als die Worte schließlich verklangen. Irgendwie war das Wissen tröstlich für ihn, dass zumindest die zwei einer schönen Zukunft entgegensahen.

-x-x-x-

Sechs Tage gingen ins Land, bis Aragorn sich nicht mehr halten ließ und Elrond es ihm gestattete, das Bett und damit auch das Zimmer endlich zu verlassen. Zwar würde es noch eine Weile dauern, bis auch die Pfeilwunden endgültig verheilt waren, doch sie waren längst nicht mehr so schmerzhaft wie noch am Beginn seines Genesungsprozesses.

So nutzte Aragorn diesen ersten Tag außerhalb seines Zimmers gleich dazu, einen Streifzug in die nähere Umgebung Bruchtals zu machen.

Überfürsorglich, wie sie waren, hatten die Zwillinge sich ihm anschließen wollen, doch Aragorn hatte sie gebeten, für dieses Mal davon abzusehen. Was er jetzt am nötigsten brauchte, waren Einsamkeit und Ruhe, um sich über einiges klar zu werden. Zum Beispiel über die Frage, was nun aus seinen Plänen wurde, nach Gondor zu gehen, oder über sein Verhältnis zu Legolas. Gerade das machte ihm größere Sorgen, als er zugeben mochte.

Trotz der Aussprache am Tag nach ihrer Ankunft war der Elbenprinz seither meist still und in sich gekehrt, wenn er sich mit Elladan und Elrohir zusammen in Aragorns Zimmer eingefunden hatte. Auch die meist von den Zwillingen initialisierten leichtherzigen Wortgeplänkel vermochten ihn nicht für lange aus seiner Geistesabwesenheit zu reißen. Er war selten mit ganzem Herzen dabei, und wenn er lachte, dann erreichte dieses Lachen seine Augen nur kurz. Sie alle waren hilflose Zeugen seines inneren Konflikts, doch er ließ niemanden an sich heran. Nicht einmal Elrond, den Aragorn schließlich besorgt um Hilfe gebeten hatte, vermochte zu ihm durchzudringen.

Am liebsten hätte der Waldläufer den Freund in seine Seele blicken lassen, um ihm zu beweisen, dass er ihm längst verziehen hatte, doch eine solche Macht stand nur Galadriel zur Verfügung und Lórien war weit. Es galt, einen anderen Weg zu ersinnen, um Legolas von seinen Selbstvorwürfen zu befreien, und eben dazu war Aragorn nun in die Ruhe geflohen. Doch bisher hatte er noch keine Lösung für dieses Problem gefunden.

Es war einer der wohl letzten schönen Herbsttage dieses Jahres. Der Himmel war den ganzen Tag über wolkenlos blau gewesen und die Sonnenstrahlen gossen inzwischen nachmittägliches Lichtgold über die Natur.

Aragorn ließ seine Blicke gedankenverloren in diesem Idyll schweifen, während er langsam zwischen den aufrechten Stämmen junger Birken hindurchspazierte. Ihre Blätter waren inzwischen zum größten Teil auf den grasbedeckten Waldboden gefallen und hatten einen bunten Teppich erschaffen. Jeder Schritt, den er machte, ließ sie rascheln und dieses Geräusch schaffte schließlich, was alle Anstrengungen nicht bewirkt hatten: es brachte Aragorns Gedanken endlich zur Ruhe.

Ohne, dass er sich dessen bewusst war, begann er irgendwann zu singen. Leise Worte formten sich zu einem Lied, das von längst vergangenen Zeiten erzählte; von einer Geschichte, die so bittersüß war, wie die Seele des Menschen sich in diesem Augenblick fühlte.

Noch während er sich in der Geschichte von Lúthien und Beren verlor, fiel sein Blick unvermittelt auf die Gestalt einer Frau.

Ebenso gedankenverloren wie er selbst wandelte sie in ein paar Schritten Abstand zwischen den Birken hindurch. Ihr langes, dunkles Haar lag wie ein Schleier um ihre Gestalt, die zartgliedrig war wie die einer Porzellanfigur, und ihr Gang glich einem Dahingleiten. Etwas Märchenhaftes, beinahe Unirdisches schien von ihr auszugehen, wie sie sich der sie beobachtenden Augen nicht bewusst war.

Im Begriff, ein rotgelb geflecktes Blatt vom Gras aufzuheben, wandte sie Aragorn ihr Profil zu.

Dem stockte angesichts der Schönheit der Frau förmlich der Atem. Etwas an ihr kam ihm vage vertraut vor, doch Aragorn hatte in diesem Augenblick keinen Gedanken frei, sich zu fragen, woher er die Frau... die Elbin, wie er nun sah... kennen konnte. Ohne, dass er wusste, was er tat, ging er ihr ein paar Schritte entgegen.

„Tinúviel! Tinúviel!"

Warum die Worte des Liedes sich so plötzlich auf seine Zunge gestohlen hatten, wurde ihm klar, als sie sich vollends zu ihm umwandte. Sie war wirklich bezaubernd; der schönste Anblick, den Aragorn je erblickt zu haben meinte.

„Wer seid Ihr? Und warum ruft Ihr mich bei diesem Namen?" Mit fragendem Lächeln sah sie ihn an, und weder Angst noch Abweisung spiegelten sich in den blauen Tiefen ihrer Augen.

„Weil ich glaubte, Ihr wäret wirklich Lúthien Tinúviel, von der ich sang. Aber wenn Ihr nicht sie seid, dann seid Ihr ihr Ebenbild."

Die Antwort schien der Elbenmaid zu gefallen, denn sie kam nun auf Aragorn zu. Plötzlich rückten Gondor und Legolas ganz weit in den Hintergrund, während sich für Elronds Pflegesohn die Welt in diesem Augenblick für immer änderte...

-x-x-x-

Eine weitere Woche später sah Bruchtal einer Hochzeit entgegen.

Dieses Ereignis, das eigentlich nichts Außergewöhnliches war, erlangte durch die Tatsache Besonderheit, dass nicht Elben sich vom Herrn des Tales miteinander verbinden ließen, sondern zwei junge Menschen, die kaum jemand außer Elronds Familie, Glorfindel und Legolas kannte. Umso mehr verwunderte es daher allgemein, welcher Aufwand getrieben wurde, um ihnen ein Fest auszurichten.

Der Tag, den man für die Bindungszeremonie ausgewählt hatte, war so klar und schön, dass das Rauschen des Bruinen, das Wispern des Windes in den Bäumen und das Zwitschern der Vögel fast wie eine Melodie klangen.

Die große Halle des Schlosses war festlich mit Blumengebinden geschmückt, eine Tafel war aufgebaut und mit kostbarem Geschirr, Gläsern und Besteck gedeckt worden und ungeachtet des durch die geschwungenen Fenster hereinströmenden Tageslichts brannten bereits Kerzen in den vielen Leuchtern und Feuer in den Kaminen des Saales.

Leises Gemurmel durchzog den Raum, in dem sich die Gäste versammelt hatten. Zwischen ihren Gesprächen blickten die Anwesenden immer wieder zur Stirnseite. Dort, zwischen zwei Fenstern, die direkt auf den schönsten der Bruchtaler Wasserfälle hinausgingen, stand geduldig wartend der Herr über Imladris.

Elrond trug eine weinrote Festrobe und den schmalen goldenen Stirnreif, den er sonst nur zu den feierlichsten Anlässen aufsetzte. Auch die anderen Anwesenden hatten sich kostbar gekleidet. Die Zwillinge waren in cremefarbene seidene Gewänder gehüllt und Legolas in eine Tunika aus grünem, reich mit goldenen Ornamenten bestickten, Samt und schwarze Hosen.

Selbst Aragorn hatte für diesen Anlass seine abgetragene, alltägliche Lederkluft mit den edlen Kleidungsstücken vertauscht, die er vor seiner Zeit bei den Waldläufern zu den elbischen Festtagen stets getragen hatte.

Als Glorfindel den Kopf durch eine der vielen in den Saal führenden Türen hereinsteckte und nickte, hob Elrond eine Hand. Augenblicklich kam Ruhe in die Runde und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf das betreffende Portal.

„Ein Bund soll heute geschlossen werden, der zwei Liebende miteinander vereint." Die Stimme des Elbenfürsten hing wie der Klang einer dunklen Glocke in der Luft. „Wie es die Tradition gebietet, sollen die Braut und der Bräutigam hier einander gegeben werden. Wer gibt die Braut ihrem Manne?"

„Ich."

Arwen trat ein. Ihr mit Silber durchwirktes blaues Kleid funkelte im Glanz der Kerzen. Sie war entzückt gewesen, in Abwesenheit von Clarys Eltern die Rolle zu übernehmen, die sonst der Mutter der Braut zukam. Nun geleitete sie das Mädchen neben sich in die Halle hinein, auf Elrond zu, bis sie schließlich in zwei Schritten Entfernung vor ihm stehen blieben.

„Wer gibt den Bräutigam an seine Frau?"

„Ich."

Glorfindel hatte – wenn auch nicht übermäßig begeistert – den Platz eingenommen, den sonst Miros Vater ausgefüllt hätte. Er begleitete den jungen Menschen bis nach vorn und blieb dann neben ihm stehen, als sie Elrond erreicht hatten.

Nun, wo das junge Paar endlich nebeneinander stand, nahmen die beiden Elben je eine Hand ihrer Schützlinge und legten sie aufeinander.

„Ich gebe sie zusammen. Von heute an und für immer," hallte die traditionelle Formel nacheinander zweimal durch den Saal. Danach wandten sich Arwen und Glorfindel ab und gesellten sich in die Reihen der anderen Gäste. Ihre Rolle bei dieser Ehezeremonie war damit beendet.

Nun trat Elrond vor. In seiner Hand hielt er eine besonders schön gebundene Blumenranke. Er schlang sie um die ineinandergelegten Hände des Paares, dann trat er zurück.

„Ihr seid euch versprochen worden. Nun seid ihr euch gegeben. Seid ihr willens, euch zu Mann und Frau zu nehmen?"

Man hatte den zweien vorher erklärt, dass an dieser Stelle des Ritus' ein Versprechen an den anderen kommen sollte, mit dem der Einzelne sich dem Partner verband. Clary, die zu beginnen hatte, strahlte, als sie sich ihrem Geliebten zuwandte.

„Worte genügen nicht, dir deutlich zu machen, wie sehr ich dich liebe. Du bist mein Tag und meine Nacht; du bist die Sonne, die mich streichelt, und die Winterkälte, die mich einhüllt; du bist mehr, als ich mir je erträumen konnte, und alles, was ich je brauchen werde. Dich will ich ehren, lieben und verteidigen bis ans Ende meines Lebens, und meine Liebe wird dich begleiten, wohin du auch gehst. Du bist die Kraft meines Herzens und von heute an mein Mann, mein Freund, mein Gefährte, mein Geliebter... mein Mirodas."

Die Anwesenden lächelten, doch Miro nahm das nicht wahr. Er hatte nicht lange überlegen müssen, um seine Worte zu finden. Alles hatte einst mit Aragorn begonnen, und nun fand er in dessen Heim tatsächlich sein Glück. Die braunen Augen des jungen Menschen leuchteten, als er nach einem tiefen Atemzug seinerseits begann.

„Vor beinahe zwei Jahren sah ich einen Stern durch das kleine Fenster einer Herberge auf mich hinableuchten. Ich hoffte, dass er für mich schien und mir Glück ankündigte. Heute weiß ich, dass er schon damals deinen Namen flüsterte und mir deine Züge zeigte. Als ich dich traf, war es, als sähe ich meinen Stern wieder. Und das bist du, Clary. Du bist mein Stern. Dir gehört mein Herz, meine Liebe, mein Leben. Bei dir finde ich den Mut, den ich in mir vergeblich suche, und die Kraft, Dinge zu vollbringen, die ich für unmöglich halte. Ich will dich lieben, beschützen und wertschätzen, bis mein Leben endet, als meine Frau, meine Freundin, meine Gefährtin, meine Geliebte... meine einzige Liebe."

Die Anwesenden, bis auf Aragorn ausnahmslos Elben, spürten mit der dem Erstgeborenen Volk eigenen Sensibilität, wie aufrichtig und tief die Gefühle der zwei Menschen füreinander waren. Angerührt von dem Gehörten, lag auf manch einem Antlitz ein Hauch von Wehmut, als sich der eine oder andere an ähnliche Momente im Familienkreis, mancher sogar an die eigene Vermählung entsann.

Auch auf Elronds Gesicht lag eine Spur von Melancholie, als er sich für einen kurzen Moment an jenen lange zurückliegenden Tag erinnerte, an dem er seine Gemahlin aus Galadriels Händen empfangen hatte. Dann kehrte er wieder in die Wirklichkeit zurück.

Sein Blick traf das vor ihm stehende junge Paar. Dies war ihr Tag, nicht der seine.

„Ihr habt euch vor Zeugen einander versprochen und mir ist es eine Ehre, mein Recht als Herr dieses Reiches auszuüben, um euch als Paar zu verbinden. Geht von nun an euren Lebensweg gemeinsam, ungeachtet aller Hindernisse, die sich euch in den Weg stellen mögen."

Er sah auf und in die Runde der Gäste. Der letzte Teil des Heiratszeremoniells begann.

„Wer übernimmt es, ihnen Wegbegleiter zu sein, wenn die eigenen Kräfte den Brautleuten das Fortkommen nicht länger gestatten?"

„Ich übernehme es. Mit Freuden und voller Dank für alles, was Mirodas für mich tat." Aragorn trat vor und lächelte dem Paar zu. Er hatte mehr als bereitwillig den Part des Wegbegleiters übernommen, dessen Verpflichtung es war, dem Paar stets zur Seite zu stehen, wenn es Hilfe brauchte.

„Und ich übernehme es... wenn ihr mich akzeptiert," zerriß eine leise, aber nichtsdestotrotz feste Stimme die Stille. „Mit Freuden und voller Dank für die Hilfe, die Ihr, Lady Clary, mir mit Euren Worten gabt."

Legolas trat – für alle überraschend – an Aragorns Seite und warf seinem menschlichen Freund einen unsicheren, fast um Erlaubnis bittenden Blick zu. Dessen Miene überzog ein ehrliches, aus tiefstem Herzen kommendes Schmunzeln, das den Elben willkommen hieß und von diesem zögernd erwidert wurde.

Auch Elronds Züge wurden sanft. Mit einer solchen Entwicklung hatte niemand rechnen können. Nicht nur, dass es ungewöhnlich war, zwei Wegbegleiter zu haben; dass Legolas – für alle unerwartet – so plötzlich aus seiner selbstgewählten Isolation ausbrach, schien ihm ein zwar unerklärliches, aber umso freudigeres Zeichen zu sein.

Er winkte sie zu sich, nachdem Miro und Clary ihr Einverständnis mit einem Nicken signalisierten.

„Dann besiegelt es mit dem traditionellen Zeichen des Vertrauens."

Man brachte einen mehrfach gefalteten Schleier und legte ihn Aragorn in die Hände.

„Mit allem, was ich bin, was ich kann, was ich habe, werde ich euch beistehen. Von nun an und für immer. Dies ist mein Versprechen, das euch umgeben wird wie dieses Tuch."

Während seiner Worte entfaltete Aragorn das Tuch, schlang es um Miro und Clary und schloss es dann, indem er das Gewebe zu einem losen Knoten schlang. Nachdem er geendet hatte, löste er ihn wieder, nahm den Brautleuten den Schleier von den Schultern und gab ihn dann an Legolas weiter.

Der Prinz wiederholte Aragorns Handlungen ebenso wie die altüberlieferten zeremoniellen Schwurworte: „Mit allem, was ich bin, was ich kann, was ich habe, werde ich euch beistehen. Von nun an und für immer. Dies ist mein Versprechen, das euch umgeben wird wie dieses Tuch."

Doch nur Aragorn, Elrond und die frisch Vermählten fiel auf, dass der Elbenprinz nach Aufsagen seiner Formel unerwartet die Augen zur Seite wandte, um Aragorn anzusehen.

Die Blicke beider trafen sich und hielten einander stand.

Aragorn erkannte, dass Legolas ihm gerade ein Versprechen gab. Es bedurfte keiner weiteren Worte, denn es besagte: Es ist vorbei. Ich werde immer da sein, wenn du mich brauchst.

Erleichtert begriff Aragorn, dass die Seele des Elben tatsächlich zu heilen begonnen hatte und nickte stumm, um Legolas zu zeigen, dass seine Botschaft verstanden worden war und von ihm erwidert wurde.

Ehe ihr Zögern auffallen konnte, beendeten die beiden Freunde ihren Teil der Zeremonie, indem sie den Brautleuten gemeinsam das Tuch abnahmen, es zusammenfalteten und ihnen dann vor die Füße legten.

Noch eine Handlung stand aus, dann war der Heiratsritus durchgeführt und die beiden konnten sich als Mann und Frau betrachten. Dafür wickelten Miro und Clary nun die Blumenkette von ihren Händen. Sie musste dem Wegbegleiter als Zeichen übergeben werden, dass man dessen Versprechen akzeptierte.

Beide warfen einen ratlosen Blick auf die vor ihnen stehenden Männer, dann veränderte Clary kurzentschlossen die Formel, die an dieser Stelle aufzusagen war. Miro und sie waren keine Elben, also auch nicht an deren Traditionen gebunden. Was konnte es schaden, wenn sie die Dinge ein wenig aneinander anpasste?

„Zwei Stücke einer Kette machen nun zwei Freunde zu unseren Wegbegleitern. Miro und ich akzeptieren das Versprechen, das ihr uns gabt." Clary nahm die Blumenranke, teilte sie und gab dann sowohl Aragorn wie auch Legolas je einen Teil.

Das war für alle das Zeichen, dass der offizielle Teil beendet war. Während sich die Brautleute in die Arme fielen und verlegen küssten, wurden vereinzelt Glückwünsche laut, die den beiden fremden jungen Menschen jedoch aus ehrlichem Herzen gegeben wurden.

Auch Elrond kam nun auf sie zu und schob die zwei vor sich her zur gedeckten Festtafel. „Da ihr nun Mann und Frau seid, kann gefeiert werden."

Der Elb vollführte eine große Geste in die Runde, mit der er die Anwesenden einlud, es ihnen gleich zu tun. Niemand ließ sich lange bitten und so war bald darauf ein von Lachen und Gesprächen erfülltes Fest im Gange.

-x-x-x-

Später am Abend hatte ein Sänger inzwischen damit begonnen, alte Elbenweisen vorzutragen.

Aragorn war den größten Teil des Nachmittags nicht von Arwens Seite gewichen, später sogar plaudernd mit ihr durch den Saal spaziert. Vor allem den Zwillingen schien es, als wollten ihre Schwester und ihr menschlicher Bruder die versäumten Jahre so schnell wie möglich aufholen. Jedenfalls schienen die intensiven Gespräche der beiden darauf hinzuweisen.

Die Tafel war unterdessen längst aufgehoben und durch in loser Anordnung aufgebaute Tischchen ersetzt worden.

Als Aragorn sich schließlich an eines davon setzte, um sich Wein in einen Kelch einzuschenken, benutzte Legolas diese Gelegenheit, sich zu ihm zu gesellen. Etwas gab es noch, das er mit dem Freund klären musste, wollte er wirklich irgendwann zu seiner gewohnten inneren Ruhe zurückfinden.

„Estel, darf ich dich etwas fragen?"

„Natürlich." Aragorn nippte an seinem Wein, während er zwischen seinem Elbenfreund und Arwen hin und her sah.

„Dieses Treffen mit dir..." begann Legolas bedrückt. „Du weißt schon, das im Felskessel..."

„Ja? Was ist damit?" Schlagartig galt Aragorns Aufmerksamkeit einzig Legolas. „Ich dachte, das hätten wir geklärt?"

„Ja, haben wir ja auch. Mehr oder minder. Eines ist mir jedoch noch immer nicht klar."

Mit leicht gerunzelter Stirn lehnte Aragorn sich in seinen Stuhl zurück. Hatte er sich geirrt und Legolas vielleicht doch noch größere Probleme als gedacht?

„Und was?" fragte er behutsam. „Sag schon. Du weißt, dass es nichts gibt, worüber wir nicht sprechen könnten."

„Weswegen wolltest du dich eigentlich mit uns treffen? Du hast weder damals noch später darüber gesprochen. Wolltest du uns nur wieder sehen?"

„Das auch," antwortete Aragorn nach kurzem Zögern. „Aber eigentlich wollte ich euch mitteilen, dass ich nach Gondor gehe."

Die Worte trafen den Elbenprinzen wie ein Hammerschlag. „Du willst fort?"

„Ich wollte es, ja." Aragorn nickte verhalten.

„Und jetzt hast du es dir anders überlegt?"

„Sagen wir..." Aragorn begann versonnen zu lächeln, während sein Blick für einige Momente zu Arwen wanderten. „...ich habe es auf später verschoben."

Der Elb folgte seinen Augen – und verstand.

„Arwen?" fragte er leise, und das Erstaunen schwang deutlich in seiner Stimme mehr. Der Gedanken, dass sein Freund sich in seine Pflegeschwester verlieben könnte, wäre ihm niemals gekommen. Der schwärmerische Ausdruck auf Aragorns Gesicht belehrte ihn allerdings eines Besseren.

Der Waldläufer hatte nichts von der Verblüffung des Elben bemerkt und nickte. „Sie ist wie ein Traum, den man immer wieder träumen will."

Dies ist wahrhaftig eine Zeit des Neubeginns, erkannte Legolas etwas wehmütig. Nicht nur für mich oder meine Freundschaft zu Aragorn, wie es scheint, sondern auch für Arwen Abendstern, wenn Estel es schaffen sollte, ihr Herz zu gewinnen.

Zufrieden mit sich und der Welt saßen die Freunde den Rest des Abends plaudernd und scherzend beieinander und genossen diesen Moment des Friedens und Einklangs als das, was er war: ein Geschenk.

Epilog

Ehe der Winter kam, gingen Miro und Clary aus Bruchtal fort. Von Elrond mit einer großzügigen Brautgabe ausgestattet, der damit seine Schuld bei Mirodas vollständig abtragen wollte, begaben sie sich in eine andere Stadt, um sich dort ein gemeinsames Leben aufzubauen.

Aragorn verkündete, wenigstens bis zum nächsten Frühjahr in Bruchtal bleiben zu wollen, und nur Legolas kannte den Auslöser für diesen Entschluss. Dennoch blieb der Prinz nicht, sondern verkündete bereits wenige Tage nach dem Weggang des Menschenpaares, nach Hause zurückkehren zu wollen, ehe der Schnee die Berge unpassierbar machte. Seinen wahren Beweggrund jedoch verschwieg er sorgfältig. Es half niemandem, wenn herauskam, dass er sich einsam fühlte, seit Aragorn sich immer öfter in Arwens Nähe statt in seiner aufhielt. Die erwachenden Gefühle seines Freundes mochten ja dem natürlichen Ablauf aller Dinge entsprechen, doch für Legolas' wunde Seele war sie wie neues Gift, das einen Weg in ihn hinein suchte. Er wollte gehen, solange er noch die Größe besaß, sich für den Freund aufrichtig zu freuen.

Alle Bemühungen Elronds, der Zwillinge oder Aragorns, ihn zum Bleiben zu bewegen, nutzten nichts. Legolas war von seiner Absicht nicht mehr abzubringen. So standen er und seine Begleiter an einem nebligen, trüben Morgen im hinteren Schlosshof neben ihren gesattelten und ausgerüsteten Pferden und machten sich für die Abreise bereit.

Aragorn sah deutlich bedrückt aus, als er schließlich an den Freund herantrat und ihn forschend ansah. „Du gehst aber nicht meinetwegen? Oder doch?"

„Nein," beeilte der Elb sich zu versichern. „Zwischen uns ist wieder alles in Ordnung."

„Ist es das?" Aragorn ließ sich nicht täuschen. „Ich denke, du verschweigst mir etwas."

„Mag sein. Aber ich brauche jetzt einfach ein wenig Zeit für mich allein. So wie du." Seine Augen wanderten vielsagend in Arwens Richtung hinüber, die wartend neben ihrer Familie stand.

„Aber du kommst wieder, ja?" Plötzlich wirkte Aragorn unsicher. „Mellon-nîn, ich will dich nämlich nicht verlieren."

„Das wirst du nicht. Ich denke vielmehr, dass du über kurz oder lang jemanden hinzugewinnst." Er lächelte wissend.

Der Waldläufer verstand und nahm das als Abschiedssignal. Er umarmte den Freund lange, ehe er zurücktrat und seinen Brüdern und Arwen Platz machte.

Elrond war der Letzte, der neben Legolas trat.

Statt ihn zu umarmen, wie es die jüngere Generation getan hatte, legte er dem Prinzen eine Hand auf die Schulter...

...und wurde blitzartig von einem Bild durchzuckt, das er schon kannte und seit der Südländerkrise nicht mehr vergessen konnte: das des Mannes mit den zwei Gesichtern.

Legolas und Estel haben es noch nicht hinter sich, dachte er besorgt und spürte, wie hinter seiner Stirn Kopfschmerzen zu bösartigem Leben erwachten. Niemand hatte etwas von seiner Vision bemerkt und so beschloss Elrond, es auch dabei zu belassen. Legolas würde sich wohl selbst davon nicht zurückhalten lassen. Daher verabschiedete er sich von ihm, sah zu, wie er und seine Krieger aufstiegen und nach einem letzten Gruß durch das hintere Steintor davon ritten.

Gebt auf Euch acht, junger Prinz, schickte er Legolas seinen aufrichtigen Wunsch hinterher, ahnend, dass die Fäden seines und Aragorns Schicksals bereits gesponnen waren.

Elrond schwor sich, alles zu tun, um zu verhindern, dass den beiden noch einmal ein solches Leid widerfuhr wie in diesen Tagen, doch die Hilflosigkeit blieb, als er seinen Kindern schließlich zurück ins Schloss folgte.

Und als die Herbstsonne langsam ihre Bahn über den morgendlichen Himmel zog, zeichnete sie einen langen Schatten hinter Legolas, der mit seinem Pferd am Ende der Gruppe ritt. Doch der Elbenprinz sah nicht zurück, um ihn zu bemerken. Vielleicht konnte er bei seinem Vater und seinen Freunden im Schloss von Düsterwald ein wenig von seiner Unbeschwertheit zurückgewinnen. Doch bis dahin würden ihn die Schatten, die bis in seine Seele reichten, begleiten.

ENDE

Twilight: Unsere Geschichten basieren auf den Büchern Tolkiens ... und ein wenig auch auf Peter Jacksons Filmen.

yavanna unyarima: Das Wiedersehen zwischen Aragorn und Legolas ist nun doch etwas problematischer ausgefallen, als ein Happy-End-Herz es sich gewünscht hätte. Aber nach dem Vorgefallenen konnte man nicht sofort wieder zum normalen Tagesablauf zurückkehren und so tun, als wäre nichts gewesen. Aber die beiden werden auch das irgendwie überstehen. Immerhin wollten wir ja so nah wie möglich an Tolkiens Vorgaben bleiben. Und nach denen haben Legolas und Aragorn den Ringkrieg als Freunde durchgestanden.

elitenschwein: Dein Aragorn-begeistertes Herz hat in diesem Kapitel ja noch einmal so richtig Futter erhalten. Und wenn ManuKu und ich diese angedachte fünfte Story schreiben, erhält es noch einmal Begeisterungsfutter, das sei schon jetzt verraten.

Tja, Aragorn und das Wasser... Wir wollten unbedingt Aragorns leicht schmuddeligen Touch in den ersten zwei Filmen erklären. Naja, und da kam uns schließlich diese Idee. Passt doch und läßt es plausibel erscheinen, warum er sich danach großräumig von fließenden Gewässern fernhält, wenn es irgend geht.

Die Namen, die nicht Tolkiens Universum entlehnt sind, sind meinem Fantasy-Zyklus entnommen. Den kennt keiner, denn er ist lediglich meine geistige Ich-will-schreiben-weiß-aber-nicht-was-Spielwiese und da schadet es nichts, ein paar der Sachen daraus sinnvoll zu verwenden.

Du studierst französisch? Ach, schade, dass ich dich nicht als Sprach-Experten engagieren kann. Meine Französisch-Kenntnisse reichen nämlich leider nicht über zwei Dutzend Worte hinaus...

Elanor8: Ich hoffe, dass dieses Kapitel noch einmal so richtig herzanrührend war. Auch uns kommt es darauf an, nicht nur die heldenhaften, edlen, unwirklich schönen Elben zu zeigen, sondern auch das, was zwangsläufig auch bei ihnen normal ist, also Familienleben, Ängste, Freude, Irrtümer... Naja, und auch so etwas wie eine Hochzeit. Es war einfach eine Herausforderung, sich eine elbische Hochzeitszeremonie auszudenken. Nun bin ich mal gespannt, wie ihr sie aufnehmt.

Hannah: Ich hoffe, das Wiedersehen zwischen Aragorn und Legolas ist glaubhaft? Nach diesen Vorfällen konnte es nicht einfach weitergehen, als wäre nichts geschehen. Ein bisschen Dramatik und bleibende seelische Wunden sind da unausweichlich, wenn man glaubhaft bleiben will. Auch Arwen musste eingebracht werden, um bei Tolkiens Vorgaben zu bleiben. Das wiederum gab Stoff, später die Handlung der fünften Story glaubhaft einzuführen. Wie eingangs geschrieben, klopft diese ja noch ganz zaghaft an unser Tor. Zudem geistern etliche kleine Ideen durch ManuKus und mein Hirn, die auch geschrieben werden möchten. Doch erst müssen unsere Schreibbatterien wieder voll sein.

Ja, es gibt eine Homepage. Allerdings haben wir sie in letzter Zeit nicht so aktuell gehalten, wie es nötig wäre. ManuKu hat dort die Cover zu unseren Storys eingestellt, die sie mittels ihres PC geschaffen hat. Der Link lautet: members.tripod.de/manuku/index.htm

Allen Lesern ein schönes Weihnachtsfest!