Kapitel 5
Wer einmal lügt dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht
Als Hermine wieder erwachte lichtete sich der Nebel vor ihren Augen nur zögerlich.
Sie hörte Stimmen.
Die eine gehörte einer Frau, die andere zweifellos ihrem Zaubertranklehrer. Träumte sie etwa schon wieder von Snape?
Das wurde langsam lästig.
Da sie nun merkte wie ihr ganzer Körper schmerzte entschied sie, dass es wohl diesmal die Realität sein musste . Trotzdem konnte es sich doch hier nur um einen Traum handeln, wieso sollte sie sich in Snapes Räumlichkeiten befinden?
Aber irgendwie sah es hier aus wie in seinem Kerker.
Sie rieb sich die Augen und wurde dafür sofort mit einem irren Brennen ihrer Augenlider bestraft.
Verdammt, dieser Sonnenbrand war mehr als nur heftig.
Vorsichtig öffnete sie die Augen wieder und sah sich um.
Sie lag in einem Bett und war in schwarze Satinbettwäsche gehüllt. Der Raum lag im Halbdunkel.
Sie bekam eine Ahnung davon wie schlimm ihre Augen in Mitleidenschaft gezogen sein mussten, da sie bereits dieses Dämmerlicht schon kaum ertrug.
Da sie ohnehin nicht viel erkennen konnte schloss sie wieder erschöpft die Augen und versuchte etwas von den gesprochenen Worten zu verstehen.
„Sind Sie sicher dass Sie alleine klarkommen?" hörte sie die Stimme der Frau.
„Ja. Ich bin sicher," kam die knappe Antwort von Snape.
„Gut. Sie ist hier im Moment auch wirklich besser untergebracht als im Krankensaal. Sie muss es jetzt kühl haben, sonst garantiere ich für nichts. Aber Sie müssen dafür sorgen, dass sie mit dieser Salbe, die ich extra frisch hergestellt habe eingerieben wird. Bitte Professor, testen Sie nicht irgendeinen Trank an ihr!"
'Die Frau muss Poppy sein', sickerte es durch Hermines Verstand.
Der Zaubertranklehrer schien nun erbost.
„Vielleicht sollten wir sie doch in den Krankensaal bringen," sagte er barsch.
„Nein, nein. Sie würde sich nur quälen in der Hitze dort. Es ist wirklich nicht sehr angenehm dort zur Zeit," sagte sie und wischte sich die schweißnassen Haare aus der Stirn.
Der Lehrer murmelte etwas, das Hermine nicht verstehen konnte.
„Ja, mir wäre auch lieber wenn er seine Zustimmung gegeben hätte dass Hermine hier bei Ihnen untergebracht wird. Ich bin mir nicht sicher ob es so eine gute Idee ist," sagte Poppy nun zweifelnd.
Nun wurde Snapes Stimme wieder lauter als er fragte:
„was denn jetzt? Glauben Sie es macht mir Spaß meine Behausung mit diesem Kind zu teilen?"
Eine kurze Stille entstand.
Dann entgegnete Poppy vorsichtig:
„Dieses 'Kind' wird nächste Woche Siebzehn. Ich habe es eben in ihrer Krankenakte gesehen. Ich muss Ihnen sagen, dass mir nicht ganz wohl dabei ist, dass sie in Ihrem Bett liegt. Ich wünschte wir hätten Professor Dumbledore erreichen können."
Snape schnaubte so laut dass Hermine es deutlich vernehmen konnte.
„Madam Pomfrey, Professor Dumbledore vertraut mir. Es wäre sehr erfreulich wenn Sie sich auch ein wenig dazu durchringen könnten!"
Die Krankenschwester zögerte noch kurz dann sagte sie:
„Ich werde zweimal am Tag nach ihr sehen. Ich denke in zwei, drei Tagen ist das Schlimmste überstanden. Falls es abkühlen sollte, wonach es im Moment aber nicht aussieht, werden wir sie natürlich sofort auf die Krankenstation verlegen. Ähm, eine Frage nur noch. Wo werden Sie denn nun schlafen wo Ihr Bett doch belegt ist?"
Hermine hielt vor Schreck die Luft an.
Sie wusste nicht was nun kommen würde. Vielleicht würde Snape einen Wutanfall kriegen weil sie ihm immer noch nicht vertraute.
Dann hörte sie die etwas gepresste Stimme ihres Lehrers, der offensichtlich um Beherrschung rang:
„Auf – der – Couch", betonte er jedes einzelne Wort.
„Na, dann geh ich jetzt mal. Wenn etwas ist, wissen Sie wo Sie mich finden können," damit verabschiedete sich Poppy.
Hermine hatte immer noch Schwierigkeiten das alles zu verarbeiten.
Schon wieder war sie mit Snape allein. Aber schlimmer noch. Sie lag in seinem Bett.
'Das geht nicht. Und das will ich nicht', schoss es durch ihren Kopf.
Was sollte das alles überhaupt?
Sie würde beweisen, dass sie nicht auf seine Hilfe angewiesen war. Sie würde einfach hinausspazieren und ihm sagen, dass sie jetzt zurück in ihren Turm ging und sich einfach mal richtig ausschlafen würde.
Sie erhob sich, doch im gleichen Moment befiel sie ein Schwindelgefühl wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Ihr wurde schrecklich übel.
'Oh Gott, nein!' schrie sie in Gedanken.
In ihrer Panik suchte sie nach einem Behältnis.
Durch ihre Übelkeit hindurch drang noch das Gefühl von Überraschung als sie tatsächlich einen alten Topf neben dem Bett stehen sah. Sie schaffte es gerade noch ihn zu greifen und sich dorthinein
zu übergeben.
'Soviel zu der Theorie hier einfach die Fliege zu machen', dachte sie erschöpft, worauf sie sich wieder ins Bett zurückfallen ließ und kurz darauf in tiefen Schlaf sank.
Als sie wieder erwachte hatte sie keinerlei Zeitgefühl mehr.
Sie konnte beim besten Willen nicht sagen ob nur ein paar Minuten oder gar Stunden vergangen waren.
Ihre Kehle war völlig ausgetrocknet und trotz der Bettdecke fror sie erbärmlich.
Sie sah sich wieder um und versuchte diesmal mehr zu erkennen als vorhin.
Neben dem Bett stand ein Nachttisch, der ebenso wie das Bett aus Mahagoni war.
Darauf befand sich ein Tiegel mit Salbe, aus dem offensichtlich schon ein Teil entnommen worden war.
Sie schluckte.
Dann nahm sie sich ein Herz und schaute unter ihre Bettdecke.
Sie sah, dass sie mit einem Nachthemd aus Baumwolle bekleidet war. Offensichtlich stammte es aus dem Bestand der Krankenstation, denn solch ein Nachthemd besaß sie nicht und sie zweifelte schwer daran dass es Snape gehörte.
Sie konnte selbst in diesem Halbdunkel erkennen dass ihre Haut am ganzen Körper knallrot war. Allerdings sah sie auch noch einige Spuren die die Salbe hinterlassen hatte. Er hatte sie also vor kurzem erst eingecremt. Gott wie peinlich das war!
Wenigstens war die Übelkeit jetzt nicht mehr so schlimm.
Sie spürte, dass sie dringend mal pinkeln musste und war sehr erleichtert dass die angrenzende Tür offensichtlich ins Badezimmer führte.
Langsam richtete sie sich auf und wartete einen Moment sitzend bis ihr Kreislauf ihr mitteilte dass sie nun gefahrlos aufstehen dürfte.
Dann schlich sie leise ins Bad.
Sie schloss die Tür und stellte fest, dass sich kein Schlüssel im Schlüsselloch befand.
'Klar, warum auch? Er ist ja immer allein und Besucher hat er schließlich auch nicht' dachte sie ärgerlich.
'O.K. Allen Mythen zum Trotz besitzt er eine Dusche, eine Badewanne, ein Waschbecken und eine Toilette', auf letztere ließ sich Hermine nun erschöpft sinken.
Als sie abgezogen und die Hände gewaschen hatte warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken.
Sie erschrak regelrecht vor ihrem eigenen Anblick. Schnell wandte sie sich ab und dachte:
'Einen Spiegel besitzt dieser Mann also auch, entgegen aller Vermutungen. Leider zeigt dieser allerdings nur Horrorvisionen von dem jeweiligen Betrachter – oder sehe ich wirklich so gräßlich aus?'
Sie hoffte dass Snape nicht mitbekomen hatte dass sie aufgestanden war.
Am besten sie schlich schnell zurück und schlief einfach drei Tage lang um sich dann gleich verabschieden zu können ohne vorher mit ihm sprechen zu müssen.
Leise öffnete sie die Tür und schlich durch das dunkle Zimmer zurück.
Fast beim Bett angekommen stieß sie mit dem Fuß gegen den Topf in den sie sich irgendwann früher am Tag übergeben hatte.
Peinlich berührt stellte sie fest, dass er bereits geleert und gesäubert wieder auf den nächsten Fauxpas von ihr wartete.
Sie dachte gerade darüber nach, ob es einen Zauber gab mit dem man sich einfach in Luft auflösen konnte als Snape auf einmal den Raum betrat.
„Besser Sie legen sich gleich wieder hin," sagte er nicht unfreundlich.
Hermine konnte nichts sagen und flüchtete unter die Decke.
Der kurze Ausflug ins Bad hatte sie ins Schwitzen gebracht und trotzdem fror sie jetzt noch stärker als vorher.
Sie zog die Decke bis zur Nasenspitze und entschied, dass dies nur ein schwacher Trost dafür war sich nicht unsichtbar machen zu können.
„Sie haben einen Sonnenstich," erklärte ihr Snape.
„Übelkeit und Fieber, sowie Schwindel und Kopfschmerzen dürften aber in ein paar Stunden nachlassen."
Als keine Antwort von ihr kam fügte er hinzu:
„Die hübsche rote Färbung ihrer Haut dürfte dagegen noch etwas länger anhalten," er lächelte zynisch.
Dann setzte er hinzu: "Naja, ich weiß ja nicht was in Weiberköpfen so vorgeht, aber der Spruch 'Wer schön sein will muss leiden' scheint sich ja immer wieder zu bewahrheiten. Wenn Sie allerdings vorhatten braun zu werden, werden sie wohl nachdem ihre Haut sich abgeschält hat nicht viel Freude daran haben."
Hermine stutzte.
Jetzt machte er sich auch noch lustig über sie.
Vielleicht war es unvernünftig gewesen in der Sonne einzuschlafen, aber das konnte schließlich jedem mal passieren.
Sie fühlte sich gräßlich. Ihr Körper war völlig geschunden und dann war sie auf jemanden angewiesen, der sie auch noch mit Spott überschüttete.
Sie wurde wütend.
„Ich wollte nicht braun werden. Dass das passiert ist sind nur Sie schuld," krächzte sie ihn an. Ihre Kehle wollte ihr offensichtlich klar machen, dass es besser war zu schweigen.
Snape schien sie denn auch kaum verstanden zu haben.
Er zog die Augenbrauen zusammen, dann verließ er den Raum.
'Super, jetzt läßt er dich einfach hier liegen und du kannst gucken wie du klar kommst', dachte Hermine wütend auf sich selbst.
Aber schon eine Minute später kam er zurück und hielt ihr ein Glas Wasser vor die Nase.
„Trinken Sie erst mal was, dann können Sie mich viel besser beschimpfen," sagte er sarkastisch.
Sie nahm ihm das Glas ab und trank vorsichtig.
Dann reichte sie es ihm zurück.
Er sah sie abwartend an.
„Ähm," begann Hermine, „wenn ich die letzte Nacht geschlafen hätte, wäre ich bestimmt nicht am See in Tiefschlaf gefallen," erklärte sie zögerlich.
Er sah sie verständnislos an.
„Wenn Sie die letzte Nacht wieder nicht geschlafen haben, so ist das sicher nicht meine Schuld. Es sei denn, Sie hätten meine Tür letzte Nacht nicht richtig verschlossen."
Sie seufzte.
„Doch, hab ich" , erwiderte sie knapp.
„Aber Sie mit ihrem blöden Zauberstabverhexen haben wohl nicht darüber nachgedacht dass ich eigentlich Nachts zu schlafen pflege."
Snape hatte immer noch keine Ahnung worum es ging.
„Naja, ich kann doch unmöglich im Schlaf mitkriegen ob das Ding leuchtet oder nicht. Also war ich die halbe Nacht wach und hab immer wieder draufgeguckt. Das war mal wieder typisch für Sie darüber nicht nachzudenken," schloss sie ärgerlich.
Sie hatte schon darauf verzichtet zu erwähnen, dass sie diesen dämlichen Zauberstab direkt vor sich auf das Kissen gelegt hatte um ihn im Auge behalten zu können. Dies hatte ihr einen blöden Kommentar von einer Mitschülerin eingebracht, die gemutmaßt hatte, dass Hermine wohl ihren Zauberstab mit einem Kuscheltier verwechselt hätte.
Es war ja auch so schon dämlich genug es ihm zu erklären, aber genau so war es gewesen. Nur weil er sich nicht anständig mit ihr abgesprochen hatte, sondern Dinge, die auch sie angingen, einfach über ihren Kopf hinweg entschied.
Es dauerte lange bis Snape etwas auf Hermines Ausführungen erwiderte.
Zudem war es nicht gerade das was Hermine erwartet hatte.
„Das muss aufhören", zischte er sie an.
Hermine sah ihn entgeistert an.
„Was denn?" fragte sie und merkte wie ihre Kopfschmerzen zunahmen.
„Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie sich um mich keine Gedanken machen sollen. Statt einmal zu hören was man Ihnen sagt, liegen Sie die halbe Nacht wach um sich völlig unsinnige Sorgen zu machen.
Wir werden zusammen eine Lösung finden wenn es Ihnen besser geht. Aber eins sage ich Ihnen, lassen Sie es sich bloß nicht zur Gewohnheit werden, sich um mein Wohlbefinden zu kümmern, ist das klar?"
Bei jedem andern hätte die Stimme wohl das Gegenteil vom Gesprochenen ausgedrückt. Bei ihm nicht!
Seine Stimme klang, als sei es verabscheuungswürdig sich um einen anderen Menschen zu sorgen.
Sie wollte ihm nicht zeigen, dass sie durch seine Worte irgendwie verletzt war.
„Ja, Sir," erwiderte sie deshalb und deutete gespielt ein Salutieren an. Dann sagte sie:
„Ich würde gerne das gleiche von Ihnen verlangen, aber im Moment bin ich wohl nicht in der Lage für solche Forderungen."
Er sah sie mit undurchdringlichem Blick an.
Dann antwortete er:
„Sie brauchen sich nicht in meiner Schuld zu fühlen weil ich mich um Sie kümmere. Sie sind schließlich meine Schülerin und es ist meine Pflicht dafür zu sorgen dass Ihnen nichts passiert. Außerdem habe ich Sie nur hier aufgenommen weil ich darauf angewiesen bin, dass Sie mich nach wie vor einschliessen. Das wäre ja schlecht gegangen wenn Sie im Krankensaal untergebracht wären.
Den Schlüssel haben Sie doch dabei, oder?"
Hermine schluckte.
Sie hob ein Stück die Bettdecke hoch und deutete auf das Nachthemd. Dann schüttelte sie unmerklich den Kopf.
Snape verdrehte die Augen und erklärte:
„Ihre Sachen hat Madam Pomfrey drüben auf den Stuhl gelegt. Ist der Schlüssel dort dabei?"
Abermals schüttelte Hermine den Kopf.
„Verdammt," entfuhr es ihm.
„Ich war zum Schwimmen. Da nehme ich doch nicht Ihren Schlüssel mit," erklärte Hermine empört.
Sie fühlte sich schlecht. Die Übelkeit nahm wieder zu und die Kopfschmerzen wurden rasend.
„Gut, dann muss es heute nacht eben so gehen. Vielleicht fühlen Sie sich morgen soweit fit, dass Sie ihn holen gehen können. Schlafen Sie jetzt, ich werde auch versuchen noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Sie sind ja vielleicht für morgen vom Unterricht freigestellt. Ich jedoch nicht!"
Hermine sah ihn erstaunt an.
„Wieviel Uhr ist es denn," fragte sie.
„Drei Uhr morgens," sagte er kurzangebunden.
„Oh," entfuhr es Hermine.
„Nun, gute Nacht dann," fügte sie hinzu.
Snape murmelte noch etwas, das durchaus ein 'ebenso' bedeuten konnte. Sicher war sich Hermine da allerdings nicht.
'Blöder Schlüssel. Blöde Sonne. Blöder Snape', dachte sie noch bevor sie wieder einschlief.
Als sie wieder aufwachte fühlte sie sich schon sehr viel besser.
Der Schwindel und die Übelkeit waren verschwunden. Allerdings fröstelte sie etwas und so vermutete sie, dass sie immer noch leichtes Fieber hatte.
Ihre Haut fing nun überall an zu jucken, was äußerst unangenehm war.
Sie nahm die Salbe vom Nachttisch, dann suchte sie vergeblich nach dem Glas, das Snape ihr eben gegeben hatte. Sie gab die Suche auf und ging ins Bad.
Dort trank sie aus dem Wasserhahn gierig mehrere Schlucke, bevor sie sich daran machte sich einzucremen.
Sie fror erbärmlich und als sie mit Einreiben fertig war zog sie schnell das Nachthemd wieder über.
Da es sie allerdings kaum zu wärmen schien verlor sie jede Scheu und griff sich Snapes Bademantel, den er tags zuvor getragen hatte als sie ihn so überfiel, und der nun an der Badezimmertür an einem Haken hing.
Es tat unendlich gut sich darin einzukuscheln.
Sie genoß die Wärme und den Geruch der von ihm ausging.
Sie vergrub kurz ihre Nase in dem weichen Stoff und sog diesen männlichen, herben Duft ein.
Dann verließ sie leise das Bad und wühlte in ihren Kleidungstücken, die über dem Stuhl lagen nach ihrer Uhr. Sie fand sie in ihrer Hosentasche, wo sie sie zuletzt verstaut hatte bevor sie sich fürs Schwimmen ausgezogen hatte.
Da sie normalerweise in einem Schlafsaal mit mehreren Mädchen schlief hatte sie sich einmal eine Uhr mit reflektierenden Zeigern zugelegt.
Dies kam ihr in dem dunklen Zimmer nun ganz gelegen.
Aber sie schaute verwirrt auf die Zeiger.
Es war ja erst sechs Uhr morgens.
Sie fühlte sich allerdings kein bißchen müde mehr.
'Kein Wunder', dachte sie. 'Ich habe ja auch gestern fast den ganzen Nachmittag geschlafen.'
Sie fragte sich was sie nun machen sollte.
Eigentlich hatte sie wirklich keine Lust eine Stunde dumm rumzusitzen bis Snape aufwachte.
Ihr fiel sein Bücherregal wieder ein.
Irgendwo in diesem Schlafzimmer musste man doch Licht machen können.
Tatsächlich fand sie einen Kerzenleuchter der an der Wand hing.
Sie zog den Zauberstab aus ihrem Umhang, der bei ihren Kleidungstücken lag und entzündete die Kerzen mit einem leisen:"Inflammare."
Nun gut, das war geschafft.
Jetzt aber folgte der schwierigere Teil.
Leise öffnete sie die Tür zu Snapes Wohnzimmer.
Ein kurzer Blick durch den Raum zeigte ihr dass er tatsächlich auf der Couch schlief.
Sie zog den Bademantel fester um sich und schlich mit nackten Füßen in Richtung Bücherregal.
Der Teppich dämpfte zum Glück ihre Schritte.
'Wahrscheinlich wäre Snape gar nicht erfreut wenn er wüßte dass ich hier herumschleiche, während er schläft,' dachte sie beklommen.
Leise ging sie um den Schreibtisch herum und versuchte in dem Halbdunkel die Titel der Bücher zu entziffern um sich eines auszusuchen.
Sie fand jede Menge Fachbücher, die zweifellos sehr interessant waren.
Allerdings fühlte sie sich nicht gut genug um sich jetzt schon wieder mit dieser Art von Lektüre zu beschäftigen.
Nein, sie brauchte etwas Kurzweiliges. Etwas, das nicht viel Angstrengung beim Lesen erforderte.
Verdammt, hatte er so etwas wie Romane denn gar nicht?
Sie stellte sich auf Zehenspitzen um die oberste Reihe inspizieren zu können.
Goethe, Die Leiden des jungen Werther, sah sie zu ihrem Erstaunen.
'Hm, zu schwermütig' entschied sie.
Schneider, Schlafes Bruder,
'auch schwermütig'.
Kafka, Die Verwandlung,
'besitzt dieser Mann auch etwas, das einen nicht in den Selbstmord treibt?'
Shakespeare, Romeo und Julia,
Hermine stutzte, ein Liebesroman? Naja, eher eine Liebestragödie, somit passte es wieder in das Bild eines Mannes, der ein Faible für melancholische Weltliteratur zu haben schien.
'Jetzt entscheid dich Hermine sonst ist die Stunde gleich schon rum und er wird wach und sieht dich hier.'
Sie fand noch Stevenson, Dr. Jekyll und Mr. Hyde,
und Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray, für den sie sich schließlich entschied.
Das Buch fest an ihre Brust gedrückt drehte sie sich um und wollte auf schnellstem Wege zurückschleichen.
Ihre Füße allerdings schienen sich auf einmal verselbständigt zu haben, denn sie änderten abrupt die Richtung und bewegten sich zur Couch.
Hermine konnte einfach nicht anders.
Die Versuchung war zu verlockend.
Sie wollte ihn einmal ansehen ohne von seinem strengen Blick in die Schranken gewiesen zu werden.
Als sie ihm näher kam fing ihr Herz wie wild an zu klopfen.
Sie versuchte dennoch so leise wie möglich zu atmen.
Nun stand sie direkt neben ihm.
Er schlief auf dem Rücken.
Eine dünne Decke verhüllte seinen Körper.
Hermine konnte dennoch erkennen dass er wohl entschieden hatte, dass es besser war bekleidet zu schlafen.
'Kein Wunder' dachte sie 'da ihm ansonsten sicher auch zu kalt wäre, wo ich doch seine Bettdecke in Beschlag genommen habe.'
Seine Hände lagen locker neben dem Körper.
Sie kannte seine Hände zu genüge, dennoch war sie irgendwie von ihnen fasziniert.
Diese ausdrucksvollen und dennoch sanften Hände hätte man eigentlich einem freundlichen Menschen zugeordnet.
Ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht.
Sie hätte diesen Anblick niemals für möglich gehalten.
Er sah völlig entspannt aus.
Die steile Falte über seiner Nase, die sich immer bildete wenn er wütend oder sarkastisch war, schien wie weggezaubert.
Sein ganzer Ausdruck war irgendwie so offen.
Die Härte, die er jeden Tag zur Schau stellte, ließ sich nur noch erahnen.
Seine Augen, obwohl geschlossen, wirkten nahezu freundlich und sie wünschte sich dass er sie einmal offenen Auges mit so einer gelassenen Miene ansehen würde.
Eine Strähne seiner Haare fiel ihm locker in die Stirn. Das tiefe Dunkel der Haare im Kontrast zu der hellen Haut ließ sie für einen Moment darüber nachdenken wie schön es wäre ihn auf die Stirn zu küssen.
Unweigerlich fiel ihr Blick auf seinen Mund.
Dass er den Mund sonst immer zu einer dünnen Linie werden ließ hob seine Nase unvorteilhaft hervor.
Nun, da sein Mund ebenfalls entspannt war, bemerkte sie, dass auch er zum Küssen einlud.
'Jetzt reiss dich aber mal zusammen. Er hat schon recht wenn er dich 'silly girl' nennt, genau das bist du ja auch. Total verrückt.'
Er würde es schließlich hassen wenn er wüsste dass er im Schlaf so friedlich aussah. So wenig angsteinflößend und vor allem so erotisch.
Mit Mühe riss sie sich von seinem Anblick los und eilte mit schnellen Schritten in das Schlafzimmer.
Sie setzte sich aufs Bett und zog die Decke zusätzlich über den Bademantel.
Dann schlug sie das Buch auf.
Natürlich besaß Snape eine illustrierte Ausgabe von 'Bildnis des Dorian Gray'.
Da sie die Handlung schon kannte durchblätterte sie das Buch neugierig um sich die Zeichnungen anzusehen.
Die erste zeigte den jungen und sehr schönen Dorian wie er das Bildnis von sich malen ließ.
Dann folgte eine Zeichnung die ihn in vornehmer Gesellschaft zeigte.
Hermine wusste dass Dorian Gray schreckliche Dinge tat, die keinerlei Einfluss auf sein hübsches Äußeres hatten.
Das Bildnis verwandelte sich dagegen bei jeder grauenvollen Tat und Dorian war bemüht es zu verbergen.
Hermine konnte auf einer der nächsten Seiten sehen wie das Bildnis zugedeckt wurde.
Dorian veränderte sich zwar nicht äußerlich, aber seine Seele war bald ebenso zu einem Wrack geworden wie man es auf dem Bild immer deutlicher erkennen konnte.
Am ende versuchte er das Gemälde zu zerstören und tötete damit sich selbst.
Das Bildnis kehrte in seinen Ursprungszustand zurück und zeigte den jungen wunderschönen Mann,
während Dorian Gray selbst völlig entstellt starb.
Hermine sah immer noch auf die Zeichnung der skelettartigen Hände am Ende der Geschichte als ihr plötzlich ein merkwürdiger Gedanke kam.
Bei Snape schien es ja geradezu umgekehrt zu sein.
Mit jeder Gemeinheit wurde sein Gesicht verbiesterter.
Dennoch gab es tief in ihm drin den Spiegel seiner Seele. In diesem war er hilfsbereit, gutmütig und wunderschön.
Sie blätterte zurück zum Anfang der Geschichte und begann zu lesen:
Das Atelier war erfüllt vom starken Geruch der Rosen,
und wenn der leichte sommerliche Wind durch die Bäume des Gartens rauschte, wehte durch die offene Tür der schwere Duft des Flieders, oder der feinere Hauch des blühenden Rotdorns...
Sie hatte gerade das zweite Kapitel zu ende gelesen als sie nebenan Geräusche hörte.
Kurz darauf klopfte es leise an ihre Tür.
Sie überlegte ob sie das Buch verstecken sollte.
Dann entschied sie dass es unsinnig wäre. Er würde vielleicht sowieso feststellen dass es fehlte und dann würde er gar glauben sie hätte es gestohlen.
„Ich bin wach!"rief sie.
Er öffnete die Tür und kam hereingeschlurft.
Ein kurzer Blick in ihre Richtung und ein geknurrtes „Morgen" dann verschwand er im Bad.
'Hm' dachte Hermine, 'natürlich ist er ein Morgenmuffel. Eigentlich ist er ein Ganztagsmuffel. Ob es diesen Ausdruck schon gibt. Egal, für Snape müsste er glatt erfunden werden.'
Sie versuchte nicht zu lauschen was im Bad vor sich ging.
Für ihn musste es sehr ungewöhnlich sein morgens überhaupt auf jemanden zu treffen bevor er sich für den Tag gerüstest hatte. Dazu gehörte, neben der Morgentoilette, natürlich sein unvermeidlicher schwarzer Umhang.
Es stellte schon ein einmaliges Erlebnis dar, ihn in etwas anderem zu sehen.
Als Hermine daran dachte, dass sie ihn nun sogar schon völlig ohne Bekleidung gesehen hatte kam es ihr sehr unwirklich vor.
Er schien es ja erstaunlich locker zu nehmen. Schließlich hatte er ihr ja noch keinen Vergessenszauber aufgezwungen. Aber es würde ihr eh keiner glauben wenn sie es erzählen würde.
Und schließlich war es zur Zeit eher schlecht wenn sie die vorgefallenen Dinge vergessen würde, denn dann würde sie sich doch sehr wundern warum ihr Lehrer von ihr verlangte ihn einzuschließen.
'Oh, der Schlüssel', fiel es ihr wieder siedendheiß ein.
'Ich muss ihn unbedingt holen. Wenn alle anderen im Unterricht sind ist sicher die beste Gelegenheit.'
Sie hing gerade noch ihren Gedanken nach, als die Badezimmertür sehr schwungvoll geöffnet wurde.
Snape stand da im Schlafanzug und sah zwar wacher, aber nicht gerade erfreut aus.
„Miss Granger, ist Ihnen vielleicht etwas über den Verbleib meines Bademantels bekannt?," fragte er barsch.
Hermine wurde blass.
Leugnen hatte wohl keinen Zweck.
Also zog sie schuldbewußt die Bettdecke weg und gewährte ihm einen Blick auf seinen Bademantel.
Er schnaubte durch die Nase wie ein wilder Stier.
„Toll, bedienen Sie sich ruhig..." polterte er.
Dann sah sie dass er nun auch das Buch gesehen hatte.
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
„Wann haben Sie das entwendet," fragte er nun zischend.
„Äh, ich habe es nicht entwendet. Ich habe es mir nur geliehen," sagte Hermine leise.
„Wann," fuhr er sie an.
„E...Eben," stotterte sie.
Er ließ dieses eine Wort auf sich wirken und ein noch grimmigerer Ausdruck trat auf sein Gesicht.
Offensichtlich wollte er sich keine Blöße geben, denn er wirkte auf einmal sehr entschlossen.
„Ich werde Sie wohl in diesem Zimmer einschließen müssen solange ich im Unterricht bin," sagte er drohend.
„Von mir aus," knurrte Hermine nun ihrersseits.
„Eigentlich," fügte sie hinzu „wollte ich ja währenddessen den Schlüssel holen, aber ist ja auch egal," gab sie sich uninteressiert.
Snape murmelte offenbar einige Schimpfworte vor sich hin, die Hermine zum Glück nicht verstand.
Dann sagte er nun wieder lauter:
„Bringen Sie sich bei der Gelegenheit Ihren eigenen Bademantel mit, und ihre Schulbücher," setzte er mit einem weiteren kurzen Blick auf Oscar Wilde hinzu.
Hermine nickte nur.
„Ach, und Sie sollten auf jeden Fall solange warten bis Madam Pomfrey nach Ihnen gesehen hat. Ich habe ihr gesagt dass sie hier erst aufkreuzen soll wenn ich schon weg bin. Eine Frau in meinen Räumen ist schon mehr als ich ertragen kann," mit diesen Worten kramte er in seinem Kleiderschrank, riss förmlich seine Sachen vom Haken und verließ dann das Schlafzimmer ohne noch einmal zu Hermine zu schauen.
Etwa zehn Minuten später hörte sie wie er ohne weiteres Abschiedswort seine Wohnräume verließ.
Hermine hatte sich während dieser Zeit nicht gerührt.
Sie wiederholte in Gedanken immer wieder:
'Frau! Er hat Frau gesagt!'
TBC
