Kapitel 11
Es muss Herzen geben, welche die Tiefe unseres Wesens kennen und auf uns schwören, selbst wenn die ganze Welt uns verlässt
Hermine war völlig verwirrt als sie zum See ging, wo sie ihre Freunde vermutete.
Als sie sich zu ihnen auf die Decke setzte, bemerkte sie, wie diese für einen Moment verstummten, ganz so, als hätten sie über sie geredet und wären von ihr gestört worden.
'Na toll,' dachte Hermine. 'Jetzt ist es schon so weit, dass die anderen über mich reden. Was ist bloß los mit mir? Professor Snape hat mich geküsst. Das kann gar nicht wahr sein. Bestimmt wache ich gleich auf und stelle fest, dass alles nur ein Traum war. Ich habe ihn natürlich ziemlich provoziert und sein Kuss kam ja auch irgendwie aus dem Affekt. Aber dennoch – es war ein Kuss!'
„Was hast du denn noch bei Snape gewollt?" fragte Harry in ihre Gedanken hinein.
Hermine zuckte zusammen, so weit weg war sie gewesen. „Ich, äh...ich wollte das Unterrichtsmaterial der letzten Tage. Da ich ja krank war habe ich eine Menge aufzuarbeiten."
Keiner schien an der Aufrichtigkeit dieser Worte zu zweifeln. Hermine seufzte in Gedanken auf. Sie würde eben für die anderen immer eine Streberin bleiben.
Den restlichen Tag verbrachten sie am See. Hermine bemerkte, dass jedesmal wenn sie sich ein wenig von der Gruppe entfernte, die anderen anfingen aufgeregt zu tuscheln.
Ob sie doch etwas ahnten? Hermine fühlte sich wie eine Außenseiterin. Als die anderen von der Geschichte zwischen Ron und Malfoy sprachen, schwieg Hermine.
Harry ließ ein paar unschöne Bemerkungen über Snape los, der seiner Meinung nach ruhig ein wenig zu Kreuze kriechen könnte und machte Witze darüber, dass jetzt eigentlich Malfoy von der Schule fliegen müsste.
„Am besten wäre es, wenn Snape gleich mitrausgeschmissen wird. Dann wären wir zwei Ekel auf einmal los."
Hermine hatte bisher den Mund gehalten, aber nun brach es einfach aus ihr heraus: „Was willst du eigentlich Harry? Professor Snape hat doch dafür gesorgt, dass der Fall aufgeklärt wird. Er hat Malfoy sogar Prügel angedroht."
Harry stand für einen Moment der Mund offen. Dann kniff er die Augen zusammen und sah Hermine abschätzend an.
„Er hätte sich bei Ron entschuldigen können," sagte er dann langsam.
Hermine zuckte mit den Schultern. „Naja, immerhin hat Ron Malfoy geschlagen."
„Hermine," sagte Harry nun eindringlich, „ich weiß nicht was mit dir los ist, aber fällt dir eigentlich gar nicht auf, dass du Snape in letzter Zeit ständig verteidigst?"
Hermine stockte der Atem. „Ich verteidige ihn ja gar nicht. Ich sag doch bloß wie es ist. Professor Dumbledore wird entscheiden was weiter geschieht – und ihr habt wohl vergessen, dass wir eigentlich gar nicht mehr über die Sache sprechen sollen."
Mit diesen Worten erhob sie sich und murmelte: „Ich geh zurück zum Schloß, mir ist zu heiß."
Als sie außer Sichtweite war sagte Ron: „Na toll. Wir wollen sie doch mit der Feier überraschen, statt dessen verärgerst du sie mit blöden Bemerkungen," er sah verärgert zu Harry.
Dieser verdrehte die Augen. „Weisst du Ron, irgendwie gehst du mir mit deiner rosaroten Brille langsam auf die Nerven. Siehst du nicht das hier irgendetwas merkwürdiges vor sich geht? Hermine ist so seltsam. Aber vielleicht wird sich das ja bald ändern..." sagte er dann geheimnisvoll.
Ron stutzte, aber Harry tat bereits so, als habe er nichts gesagt und so ließ es auch Ron dabei bewenden. Emilie, die dem Gespräch schweigend gelauscht hatte, nahm Rons Hand und sagte, „Komm wir gehen ins Wasser. Für die Party können wir auch morgen noch alles besprechen."
Wenig später beobachtete Harry wie die beiden laut lachend im Wasser herumtobten. In Harrys Kopf entwickelte sich ein Plan. Hermine würde am Dienstag in mehr als nur einer Hinsicht überrascht sein.
Gegen Abend zogen gewaltige Wolken auf. Als die Dämmerung einsetzte brach das erste Gewitter los. Blitze zuckten über den bleiernen Himmel und warfen gespenstische Schatten. Die Donnerschläge waren so heftig, dass man das Gefühl hatte, selbst das riesige Schloß könne in seinen Grundfesten erschüttert werden.
Hermine hatte den Rest des Tages in der Bibliothek verbracht. Hätte sie jemand beobachtet, so wäre ihm sicher aufgefallen, dass sie immer über derselben Seite saß. Sie hatte über so vieles nachzudenken. Als sie die Bibliothek Stunden später verlassen hatte, hatte sie einen Entschluß gefasst. Er war nicht sehr spektakulär. Eher eine Notwendigkeit.
Sie würde sich bemühen zu ihrem alten Leben zurückzukehren. Die Dinge, die in den letzten paar Tagen geschehen waren, wollte sie vergessen. Sie wollte ihn vergessen.
'Leichter gesagt als getan,' dachte sie bitter. 'Schließlich sehe ich ihn ständig. Beim Essen, auf den Fluren, und natürlich im Unterricht.'
Hermine seufzte. 'Ja, aber er braucht mich nicht zu interessieren.'
Nun, als die Blitze alles in ein unheimliches Licht tauchten, schlich sie hinunter zu den Kerkern. Sie betete ein Mantra vor sich hin: 'Er ist mein Lehrer – und mehr nicht!' Als sie an seiner Tür angekommen war, kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Gerade als sie ihn herausgefischt hatte, öffnete sich die Tür schwungvoll, zeitgleich mit einem gewaltigen Donnerschlag des Gewitters.
Hermine kreischte auf und ließ vor Schreck den Schlüssel fallen. Vor ihr stand Snape. Er war dunkel gekleidet und in seinem Gesicht konnte sie lesen, dass er ebenso erschrocken war wie sie. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz habe vergessen wie es schlagen müsse.
„Verzeihung," stammelte sie , „ich wollte gerade...äh, müssen Sie noch weg?"
Hermine bückte sich nach dem Schlüssel. Eigentlich eine gute Idee, wenn er nicht gerade in diesem Moment dieselbe gehabt hätte. Sie stießen mit dem Kopf zusammen. Hermine gab wiederum einen erschrocken Laut von sich. Dieses Gefühl war eindeutig nicht so angenehm wie der Kuss mit ihm. Aber es war schon wieder eine Art von Körperkontakt.
Sie sah ihn gespannt an. Er hatte sich durch den kleinen Zwischenfall nicht beirren lassen und hielt nun den Schlüssel in den Händen. „Ich hatte gehofft Sie abzufangen," sagte er dann ruhig. „Es hat sich überraschend ergeben, dass ich heute abend in der Tat noch weg muss. Sie brauchen sich also erst morgen abend wieder um diese Angelegenheit zu kümmern..." mit diesen Worten reichte er ihr den Schlüssel.
Hermine nahm ihn automatisch entgegen. Ihre Gedanken überschlugen sich. 'Oh mein Gott. Voldemort muss ihn gerufen haben.'
„Aber es ist noch zu früh..." sagte sie dann völlig unpassend. Snape schien sie dennoch verstanden zu haben.
Er grinste freudlos. „Ich denke, dem Lord gefällt das Ambiente heute besonders gut."
Hermine musste schlucken. Am liebsten hätte sie ihn zurück in seinen Kerker gestoßen und schnell die Tür verriegelt, um ihn von dem abzuhalten was er vor hatte. Snape schien ihre Gedanken gelesen zu haben.
Er sah sie abschätzend an. „Ich muss jetzt gehen," sagte er mit rauer Stimme.
Dann ging er an ihr vorbei. Hermine drehte sich zu ihm um. Sie war völlig verzweifelt. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Aber nichts hätte ihn daran hindern können. Nichts hätte ihn daran hindern dürfen.
„Professor," rief sie ihm nach. Er blieb stehen, aber es dauerte einen Moment bis er sich umsah. Sie blickte ihn an und wusste, dass er die Tränen in ihren Augen sehen konnte. „Aber...es regnet," sagte sie dann lahm. Er sah nicht einmal erstaunt aus, obwohl sie solch einen Schwachsinn von sich gab. Normalerweise hätte er für solch einen blöden Kommentar massenhaft Punkte abgezogen. Jetzt jedoch nickte er nur, drehte sich um und eilte dann endgültig davon.
Hermine stand vor dem Kerker, den Schlüssel in der Hand. Sie überlegte was sie nun tun sollte. Ein Teil von ihr wollte hineingehen und auf ihn warten. Aber hatte sich nicht gerade die rational denkende Hermine wieder ihr Recht erkämpft? Ja, genau. Sie würde sich nicht weiter um ihn kümmern. Das ging sie doch alles nichts an.
Also schlich sie wieder hinauf in ihren Turm und legte sich leise in ihr Bett. Der Schlafsaal war fast leer. Nur Ginny und Alexa lagen in ihren Betten und schienen, trotz des tosenden Unwetters tatsächlich schon zu schlafen.
Hermine seufzte. Sie drehte sich von einer Seite zur anderen. 'Nur nicht nachdenken. Über gar nichts nachdenken,' dachte sie immer wieder. Gegen Mitternacht fiel sie in unruhigen Schlaf. Wirre Traumbilder schossen durch ihren Kopf. Doch ein Bild brannte sich in ihr Bewußtsein – mit solcher Macht, dass sie im ersten Moment wusste – dies gehörte nicht zum Traum.
Sie fuhr hoch und saß nun aufrecht im Bett. 'Ein Blitz?' fragte sie sich selbst. 'Nein, das war kein Blitz. Das war der Drache!'
Es gab keinerlei Zweifel. Sie hatte Snapes Drachen gesehen. Er brauchte also Hilfe. In Windeseile hatte sie sich angezogen und war in ihre Schuhe geschlüpft. Sie versuchte so wenig Lärm wie möglich zu machen, als sie aus dem Turm schlich. Die 'Fette Dame' schnarchte vor sich hin, und Hermine hatte keine Probleme unbemerkt an ihr vorbei zu kommen.
Leise schlich sie die Stufen hinunter. Als sie vor der Kerkertür angekommen war, fand sie sie verschlossen. Sie überlegte, was zu tun sei, als sie schlurfende Schritte hörte. 'Oh, verdammt, das muss Filch sein,' schoss es ihr durch den Kopf. Sie wollte gerade nach einem Versteck Ausschau halten, als sie ein gequältes Stöhnen vernahm.
Ein Gedanke manifestierte sich und sie musste Gewissheit haben. Sie fasste sich ein Herz und schlich zurück zur Treppe, um zu sehen wer dort kam. Im Halbdunkel konnte sie ihren Zaubertranklehrer erkennen. Er lehnte an der Wand und hielt sich mit einer Hand den Bauch. Der andere Arm war seltsam abgewinkelt. Mit langsamen Bewegungen ließ er einen Fuß auf die nächste Stufe fallen.
Dann verlagerte er sein Gewicht und der nächste Fuß war an der Reihe. Hermine stand da wie hypnotisiert. Dann löste sich ihre Starre und sie eilte zu ihm. Trotz der offensichtlichen Schmerzen brachte er einen tadelnden Gesichtsausdruck zu stande.
„Was machen Sie denn schon wieder hier?" versuchte er seinen gewohnt abweisenden Tonfall zu finden.
Hermine war verwirrt. „Sie haben mich doch gerufen," versuchte sie sich zu verteidigen. Snape schwieg – er sah sie nur überrascht an.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen," sagte Hermine und bot sich als Stütze an. Im selben Moment kam ihr der Verdacht, dass sie unmöglich in der Lage sein würde ihn zu halten. Der Professor lehnte dann auch ab und schaffte es mit viel Mühe in sein Quartier. Dort angekommen legte er sich auf die Couch, auf der zu Hermines großem Erstaunen immer noch sein Bettzeug lag.
„Was ist mit Ihnen geschehen," fragte sie vorsichtig.
Er winkte ab. „Gehen Sie wieder in Ihren Turm. Ich brauche Sie nicht," sagte er verärgert.
Hermine schnaubte wütend. „Warum haben Sie mich gerufen, wenn Sie mich gar nicht brauchen?"
Er schwieg, und Hermine hatte nicht den Eindruck dass er etwas erwidern würde. Umso erstaunter war sie, als sie seine leise Stimme vernahm. „Das war wohl unterbewusst. Ich wollte Sie nicht rufen, aber als...nun, ja, es tat ziemlich weh...und da habe ich mich wohl vergessen," sagte er entschuldigend.
Hermine war sprachlos. Ohne weitere Zeit zu verlieren entzündete sie die Kerzen im Raum und ging dann zielstrebig zu ihrem Lehrer. Sie sah ihm nicht in die Augen, aus Angst er könne Sie mit seinem Blick von sich stoßen. Mit wenigen gezielten Handgriffen hatte sie seinen Umhang zur Seite geschoben und das Hemd darunter geöffnet.
Seine Hand hatte nach ihrer gegriffen und sie hatte bemerkt dass sie blutverschmiert war. Doch sie hatte sie mühelos abschütteln können und sah nun, dass sein Bauch ebenfalls blutverschmiert war. Ein langer Schnitt zog sich quer über den Nabel. Blut quoll immer noch aus der Wunde.
Sie wusste, dass er bestimmt Mittel in seinem Kerker hatte, die für eine schnelle Heilung geeignet waren. Da sie jedoch keine Ahnung davon hatte, wollte sie nichts falsch machen und entschied sich einen Druckverband anzulegen.
Sie musste mit Tüchern vorlieb nehmen, da der Zaubertrankmeister natürlich nicht über einen Verbandskasten verfügte.
„Was ist mit Ihrem Arm," fragte sie, während sie ein Handtuch in kleine Streifen riss.
„Gebrochen," erwiderte er knapp.
Hermine stockte: „Sie müssen auf die Krankenstation," sagte sie dann entschieden.
„Nein!" blaffte er sie an.
„Aber, ich kann Ihnen nicht helfen. Das muss sich jemand ansehen, der sich auskennt."
Sie bekam langsam Panik. Das war einfach zu viel für sie. Er versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Dann sagte er so normal wie möglich: „Ich habe das gleiche Serum um Knochen wieder zusammenwachsen zu lassen, wie Madam Pomfrey. Meines ist sogar schneller wirksam."
Hermine nickte bedächtig mit dem Kopf. „Aha, und welche Nebenwirkungen hat es?"
Snape lachte kurz auf, dann sagte er: „Sie kennen mich inzwischen viel zu gut, wissen Sie das?"
Hermine versuchte sich nicht anmerken zu lassen wie stolz sie diese Worte machten. „Also?" fragte sie statt dessen fordernd. Er verdrehte kurz die Augen. „Also gut, es verursacht Übelkeit."
„Na toll, dann viel Spaß," murmelte Hermine. „Wo ist das Zeug?" fragte sie dann.
„In der grünen Flasche, unter dem Barschrank. Und wenn Sie schon mal dabei sind, in dem Barschrank ist eine Flasche Whiskey, bringen Sie die auch gleich mit."
Hermine schüttelte den Kopf. „Ach, sind Sie etwa der Meinung, wenn Ihnen eh schon schlecht wird, können Sie sich auch gleich betrinken?"
„Das geht Sie gar nichts an!" blaffte er.
„Nein, Sie haben Recht. Seien wir doch mal ehrlich Herr Professor, mich geht hier gar nichts etwas an! Nicht dass diese Scheiß-Todesser Sie fast umgebracht hätten, nicht dass Sie hilflos wie Kafkas Käfer in der Gegend rumliegen und natürlich auch nicht, dass Ihre Klamotten klatschnass sind und das vollenden werden, was die Todesser begonnen haben!"
Sie hatte ihn angeschrien und Tränen der Wut standen in ihren Augen. Er sah sie verbissen an. Plötzlich lachte er, sofort darauf trat aber wieder Schmerz in seine Augen und er hielt sich den Bauch. „O.K. Sie haben schon recht mich anzuschreien. Also bitte...nur die grüne Flasche. Und, Miss Granger...es wäre sehr schön, wenn Sie mir beim Umziehen helfen könnten."
Hermine schluckte. Es erwies sich als eine der schwierigsten Aufgaben, die Hermine bisher zu bewältigen hatte. Sie bemühte sich, ihn möglichst nicht anzusehen, oder zumindest möglichst emotional unbeteiligt zu bleiben. Schließlich war dies kein sonderlich romantischer Moment. Dies wurde ihr allzu bewusst, als er gequält aufstöhnte während sie ihm aus dem Hemd half.
Sie sahen beide auf seinen Arm, der obere Knochen war eindeutig gebrochen. „Bevor ich das Serum nehmen kann, muss der Knochen gerichtet werden," sagte Snape sachlich. Hermine fuhr sich nervös durch die Haare. „Also doch in den Krankenflügel," sagte sie bedächtig.
Er schüttelte stumm den Kopf. „Ich werde es alleine machen...am besten Sie sehen weg," sagte er dann.
Nun war es Hermine, die den Kopf schüttelte. „Ich helfe Ihnen – ich werde es zumindest versuchen, o.k?"
Er nickte, dann hielt er ihr so gut es ging den Arm hin. Sie griff vorsichtig danach. Dann ließ sie ihn unverrichteter Dinge langsam wieder neben Snape sinken. „Moment..." murmelte sie.
Sie stand auf, ging zum Barschrank und holte die Whiskeyflasche. Noch bevor sie wieder bei ihm angekommen war, hatte sie die Flasche geöffnet und zwei kräftige Schlucke genommen. Dann hielt sie ihm die Flasche hin. Er sah sie erstaunt an, griff danach und trank ebenfalls einige Schlucke, bevor er sie wegstellte und erneut auf den Arm deutete.
Hermine murmelte ein schnelles Gebet, dann packte sie kräfig an beide Bruchstellenenden und schob die Knochen zusammen. Ihr Lehrer gab keinen Laut von sich. Hermine sah ihn erstaunt an, dann bemerkte sie, wie sich sein Gewicht verlagerte und er kippte einfach um. Sie konnte im letzten Moment verhindern, dass er hart auf den Boden aufschlug. Hermine kontrollierte seine Atmung und bettete seinen Kopf auf ein Kissen.
Sie war selbst einer Ohnmacht nahe. Das war einfach alles zu viel. Ihre Hände fingen an zu zittern und ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Plötzlich konnte sie mit Schluchzen gar nicht mehr aufhören. Die Tränen liefen ihr ungebremst die Wangen hinunter. Sie griff abermals nach der Flasche und trank gierig den Whiskey, der wenigstens etwas Wärme und Trost versprach.
Als sie sich fühlte als sei sie in Watte gewickelt, stellte sie die Flasche wieder in den Barschrank und ging zurück zu ihrem 'Patienten'. Seine Ohnmacht schien Schlaf gewichen zu sein, denn er schnarchte leise vor sich hin. Kurzerhand griff sie nach der Bettdecke. Sie wusste, dass sie ohnehin keine Chance hatte ihn auf die Couch zu heben, also ließ sie sich neben ihn auf den Boden sinken, kuschelte sich dicht an ihn und deckte sie beide zu.
Der Whiskey hatte sie seltsam gleichgültig gemacht. Es schien ihr ganz natürlich sich neben ihn zu legen. Es fühlte sich schließlich gut an, also was sollte schon falsch daran sein. Mit diesen Gedanken schlief sie ebenfalls ein. Als Hermine am nächsten morgen erwachte war das erste was sie wahrnahm ein dumpfer Schmerz in ihrem Kopf.
Ihre Lider schienen tonnenschwer und sie konnte sie nur mit Mühe öffnen. Jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte. Sie stützte sich auf ihre Hände und erhob sich mühsam. Der Boden, obwohl durch einen dicken Teppich gepolstert, schien kein allzu gesunder Schlafplatz zu sein. Ein angenehmer Duft stieg ihr in die Nase.
Hermine sah sich um und entdeckte dass Snape bereits aufgestanden war. Er hielt ihr eine Tasse hin. „Ich hab Ihnen einen starken Kaffee besorgt. Trinken Sie ihn aus."
Hermine griff nach der Tasse und ließ sich auf die Couch sinken. Sie nippte an dem heißen Gebräu. „Schmeckt komisch," stellte sie dann fest. Er sah sie kritisch an. „Ich hab etwas gegen Kopfschmerzen reingetan. Dachte Sie könnten das brauchen."
Hermine ging es viel zu schlecht um peinlich berührt zu sein. Aber sie wusste dass dies eine blöde Situation war. Schließlich hätte sie ihm helfen sollen und nicht umgekehrt. Sie nippte nocheinmal und murmelte: „Danke."
„Was macht Ihr Arm?" fragte sie als sie sich ein wenig besser fühlte.
„Ich habe mir das gleiche Schmerzmittel verabreicht," sagte er mit gequältem Lächeln.
Hermine nickte. „Das hätten Sie sofort tun sollen," sagte sie tadelnd. Er nickte stumm.
„Warum taten Sie es dann nicht?" fragte sie nun fordernd.
Er sah zerknirscht aus. „Es hat eine tödliche Wirkung zusammen mit dem Mittel gegen die Droge. Ich musste erst ein paar Stunden warten, um es einnehmen zu können."
„Was ist mit dem Mittel das den Knochen heilen lässt? Haben Sie es schon genommen?"
Er schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?" fragte sie.
„Später," antwortete er kurzangebunden.
Hermine grübelte. „Wie ist das passiert?" fragte sie, aber sie ahnte dass ihm die Frage gegen den Strich ging.
Er wich ihrem Blick aus. „Noch mehr Kaffee?" fragte er.
„Nein. Eine Antwort wäre mir lieber," sagte sie freundlich.
Er sah resigniert zu ihr. „Ich hätte ahnen müssen, dass ein unwillkürlicher Gedanke von mir den Drachen ebenso heraufbeschwören würde wie ein absichtlicher Gedanke. Es tut mir leid, Sie schon wieder um Ihren Schlaf gebracht zu haben." Bei diesen Worten blickte er zum Boden, wo noch die Decke lag, mit der sie sie beide letzte Nacht zugedeckt hatte.
Ihr Blick fiel ebenfalls darauf und sie zuckte gespielt mit den Schultern. „Wieso? Ich hab toll geschlafen," sagte sie dann ironisch. „Aber Sie weichen meiner Frage aus."
Er sah sie zornig an. „Ich bin Ihnen keine Antwort schuldig," fuhr er sie dann an.
„Natürlich nicht. Ich wundere mich nur ein wenig darüber, was man Ihnen Schreckliches antun muss, dass Sie ausgerechnet an mich denken," sagte sie und konnte die Traurigkeit in ihrer Stimme nicht zurückhalten.
Er stöhnte auf und blickte sie genervt an.
„Also gut. Ich werde es Ihnen erzählen. Der Lord wollte einen neuen Beweis meiner Treue. Ich sagte Ihnen ja, dass er an meiner Loyalität zweifelt. Er hat wohl den Verdacht, dass ich ein Gegenmittel zu seinen Drogen gefunden habe. Also wollte er testen ob ich weiterhin auf seine Drogen reagiere."
Hermine sah ihn erschrocken an, dann forderte sie ihn auf weiterzusprechen.
„Er hat mich also gestern damit vollgepumpt wie noch nie. Als er glaubte sie wirken, hat er von mir verlangt mich umzubringen."
„Waaas?" entfuhr es Hermine.
Er zuckte die Schultern und fuhr in neutralem Tonfall fort: „Er gab mir ein Messer und ich habe mir damit den Bauch aufgeschnitten. Als ich es mir an das Herz setzte, gebot er mir Einhalt. Er war aber nicht restlos überzeugt, also ließ er mir den Arm brechen."
Hermines Augen waren vor Schreck weit geöffnet. Sie stammelte ihre nächste Frage: „W..w..was wollte er denn damit testen?"
„Er wollte testen ob die Droge wirkt. Unter ihrem Einfluss darf ich weder zögern mich selbst zu töten, noch Schmerz empfinden."
„Hätten Sie sich wirklich getötet?" fragte Hermine beklommen. Er sah sie einfach nur an und antwortete nicht. Hermine war immer noch völlig schockiert. „Aber die Schmerzen? Sie standen doch unter Einfluss des Gegenmittels. Sie müssen doch entsetzliche Schmerzen gehabt haben."
Er schnaubte durch die Nase. „Ja," sagte er schließlich. „In dem Moment als sie mir den Arm gebrochen haben, muss es wohl passiert sein. Ich war für einen Moment nicht mehr Herr über meine Sinne und es könnte sein, dass ich unterbewusst nach Ihnen gerufen habe. Es tut mir leid."
Hermines Mund öffnete sich, aber ohne das ein Wort herausgekommen war, schloss sie ihn wieder. Was sollte sie darauf erwidern?
„Wir werden die Sache mit dem Drachen sofort rückgängig machen," sagte Snape nun. Hermine hatte sich endlich wieder unter Kontrolle. „Nein, werden wir nicht," sagte sie bestimmt.
„Doch," sagte er.
„Nein!" erwiderte sie.
„Hören Sie zu, Hermine. Ich habe keine Kraft mich heute mit Ihnen zu streiten."
„Dann lassen Sie es doch einfach," sagte sie darauf.
Er schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Ich muss jetzt das Serum nehmen, sonst schafft es der Knochen nicht, bis morgen zu heilen," sagte er und sah sie auffordernd an.
Hermine begriff nicht. „Äh, dann nehmen Sie es doch..." sagte sie unsicher.
Er verdrehte genervt die Augen. „Würden Sie dann bitte jetzt gehen..." forderte er. Hermine fiel es wie Schuppen von den Augen. „Ach ja. Die Übelkeit. Ich verstehe. Sie lassen sich von anderen den Arm brechen, ohne mit der Wimper zu zucken, aber bei mir ertragen Sie nicht mal den Gedanken, dass ich sehen könnte, dass Ihnen übel wird."
Kaum hatte sie es ausgesprochen, war ihr klar, dass sie zu weit gegangen war. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen und er zischte sie an: „Raus jetzt!"
Hermine sah ein, dass es für sie beide besser war, jetzt schnell zu verschwinden. Sie verließ den Kerker und lief die Treppe zum Gryffindorturm hinauf. Beim Portrait angekommen sagte sie das Passwort und die Fette Dame sah sie erstaunt an. „Sie müssen aber bereits sehr früh heute zum Joggen gewesen sein. Ich habe sie gar nicht gehen sehen, mein Kind."
Hermine nickte nervös. Außer Atem war sie jedenfalls genug um dieser Theorie gerecht zu werden. Das Portrait schwang zur Seite und Hermine eilte in den Schlafraum um sich umzuziehen. Ginny und Alexa waren anscheinend vor kurzem wach geworden und unterhielten sich bereits am frühen morgen über einen Jungen aus Ravenclaw.
„Der ist so süß," sagte Ginny gerade.
Dann erblickte sie die abgehetzte Hermine. „Hey, Herm, sag mal, für wen joggst du eigentlich schon am frühen morgen in der Gegend rum?"
Alexa lachte albern. „Bestimmt für einen der auch sportlich ist. Hast du Angst du kannst sonst nicht mit seinem Tempo mithalten?"
„Wen meinst du denn, Ginny?" fragte Alexa verschwörerisch.
Ginny tat geheimnisvoll. „Ach, ich hab da so einen Verdacht..."
Hermine sah sie völlig perplex an. „Was hast du für einen Verdacht. Von was redest du überhaupt?"
Ginny kicherte. „Ach Hermine, nun tu doch nicht so. Ich weiß schließlich bescheid. Und ich kann dir sagen, dass deine Mühen sich lohnen. Du wirst schon sehen."
Hermine verstand nun gar nichts mehr. War Ginny von allen guten Geistern verlassen? Eins stand jedenfalls fest. Sie sprach wohl kaum von Snape. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte kreischte Alexa schon: „Ginny, Ginny, verrat es mir auch..."
Hermine war völlig genervt von dem Theater am frühen morgen. Schließlich sagte sie trocken: „Wenn sie es dir verraten hat, Alexa, dann kannst du mir ja verraten, in wen ich verliebt bin, o.k. Ich meine ja nur, dass ich es vielleicht auch wissen sollte, oder?"
Ginny grinste nur. Sie nahm Hermine keinen Moment ihre Unschuldsrolle ab. Hermine zog sich nun schnell um und schlug vor, zum Frühstück zu gehen. Als sie in der großen Halle angekommen waren, nahm sie ihrer Freundin die Sticheleien schon nicht mehr übel und sie machte mit den beiden Scherze, wie immer. Ab und zu wanderte ihr Blick zum Lehrertisch, der an diesem Wochenende ebenfalls so gut wie leer war, da auch die wenigsten Lehrer sich im Schloss aufhielten.
Snapes Platz blieb ebenfalls leer.
Dies war nicht weiter verwunderlich, da er auch wenn es ihm gut gehen würde, niemals freiwillig am Wochenende dort erscheinen würde.
Trotzdem fragte sich Hermine, wie es ihm wohl gerade ging.
Aber sie war nun mal nicht sein Babysitter.
Morgen, da war sie sich sicher, würde er mit gewohnter Härte seinen Unterricht durchziehen. Niemand würde etwas ahnen, von dem was er durchgemacht hatte. Nur sie würde es wissen und sie würde ebenso wissen, warum er alle andern so schlecht behandelte.
Irgendwie musste sich der stumme Schmerz entladen. Seine Schüler würden ihm dafür gerade recht kommen.
tbc
