Kapitel 12
Scharfe Schwerter schneiden sehr, scharfe Zungen noch viel mehr
Gegen Abend füllte sich das Schloss wieder. Alle kehrten von ihren Wochenendausflügen zurück und bereits beim Abendessen waren die Schülertische in der großen Halle fast vollständig besetzt.
Lediglich der Lehrertisch wies noch etliche Lücken auf. Wirklich vollständig wäre er aber ohnehin erst wieder, wenn auch Professor Dumbledore zurückgekehrt wäre.
Der Abend verlief ereignislos. Hermine ging kurz vor dem Schlafengehen hinunter zu den Kerkern und überlegte kurz ob sie anklopfen und sich nach Snapes Befinden erkundigen sollte.
Sie verwarf diesen Gedanken schnell wieder. Hastig zog sie den Schlüssel aus der Tasche und verschloss die Tür. Dann eilte sie in ihren Turm und verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr daran. Sie schlief einen erholsamen Schlaf und stellte am nächsten morgen fest, dass sogar die Träume gnädig mit ihr gewesen waren. Für einen Moment überlegte sie, ob sie tatsächlich joggen gehen sollte.
Der Schlafsaal war nun wieder vollzählig belegt, die anderen schliefen jedoch noch und Hermine genoss es, einfach im Bett zu liegen und die Morgensonne zu betrachten. Dies versprach wieder ein sonniger Tag zu werden. Die Temperaturen hatten jedoch, nach dem großen Gewitter, merklich abgekühlt.
Hermine ging in Gedanken ihren Stundenplan durch. Als erstes stand Kräuterkunde auf dem Programm. Dann eine Doppelstunde Muggelkunde und danach Verwandlungen. Und zu guter Letzt noch eine Doppelstunde Zaubertränke. Das ließ sich wohl nicht vermeiden. Schließlich hatte sie gewußt, dass sie ihm nicht aus dem Weg gehen konnte. Sie hatte aber immerhin den ganzen Vormittag, um sich darauf vorzubereiten.
Als die anderen ebenfalls erwachten, war Hermine bereits auf dem Weg zum Kerker. 'Es geht doch,' dachte sie, nachdem sie flugs die Tür aufgeschlossen hatte und sich dann wieder auf dem Weg nach oben befand.
Als sie in der Halle ankam fasste sie jemand an die Schulter. „Hermine. Wie geht es Dir?" Hermine drehte sich hastig um und blickte erschrocken die Person an, die sie angesprochen hatte. Es war Madam Pomfrey, die bereits ihre Schwesternuniform trug und Hermine seltsam ansah.
„Äh, gut," stammelte Hermine. Poppy schien nicht überzeugt. „Du bist ganz blass, meine Liebe." Hermine versuchte ein Lächeln. „Sie haben mich nur ein wenig erschreckt. Mir geht es wirklich gut."
Die Krankenschwester nickte nachdenklich. „Aber wir wollen doch kein Risiko eingehen, nicht wahr? Du solltest dich doch sowieso heute bei mir melden, oder hast du das vergessen?"
Hermine hätte keine Sekunde mehr daran gedacht, trotzdem sagte sie: „Nein, nein. Ich wollte mich gleich auf den Weg zu Ihnen machen."
Poppy sah sie immer noch abschätzend an. „So, dann kannst du ja jetzt ebensogut sofort mit mir kommen." Hermine nickte, und folgte ihr in den Krankenflügel. Sie musste sich auf eines der Betten setzten und fühlte sich dabei irgendwie elend. Die Krankenschwester begann mit ihren routinemässigen Untersuchungen. Während sie Hermine in die Augen leuchtete sagte sie bedächtig.
„Am Freitag hast du wohl einen kleinen Ausflug gemacht, nicht wahr?"
Hermine wusste, dass es sinnlos war zu leugnen. Also sagte sie: „Ja, ich habe Professor Snape so lange genervt bis er es mir erlaubt hat. Und es ging mir ja auch schon wieder gut," versicherte sie dann hastig.
Poppy nickte, dann sagte sie. „Du bist wirklich wieder genesen. Trotzdem mache ich mir Sorgen um dich."
Hermine spürte einen Kloß in ihrer Kehle. Sie wollte es eigentlich nicht hören, trotzdem fragte sie: „Warum denn?"
Poppy zögerte nun. „Nun ja, Hermine. Versteh mich nicht falsch, aber Professor Snape ist nun mal ein sehr undurchschaubarer Mensch. Vielleicht empfinde nur ich das so, aber ich habe stets den Eindruck er hat etwas zu verbergen. Ich traue ihm nicht und ich fürchte, dass er ein junges Mädchen wie dich leicht beeinflussen kann."
Hermine war sprachlos. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und sie war froh, dass die Krankenschwester ihr bereits den Puls gemessen hatte, sonst wäre sie bestimmt sofort stationär aufgenommen worden. „Ich weiß nicht was Sie meinen," sagte Hermine unsicher. Die Krankenschwester packte umständlich ihre Untersuchungsinstrumente weg.
„Ach eigentlich gar nichts. Es machte mich nur stutzig, dass du eben aus den Kellerverliesen kamst."
Hermine betete, dass sie nicht rot werden würde. Ausgerechnet heute sprach sie jemand darauf an. Heute hatte sie dort nichts getan, als die Tür aufzuschließen. Aber auch das durfte sie nicht erzählen.Ihr war sehr mulmig bei dem Gedanken was geschehen würde, wenn Poppy herausfand dass sie sowohl die Nacht von Freitag auf Samstag noch gegen ihre Anweisung bei ihm verbracht hatte, sowie die Nacht von Samstag auf Sonntag, in der sie zu allem Überfluss auch noch eine Menge Whiskey konsumiert hatte.
Was würde gar geschehen wenn jemand wüsste, dass Snape sie geküsst hatte?
Es durfte eben nie jemand erfahren. Hermine überlegte nicht lange als sie mit einem harmlosen Lachen erklärte: „Ach so, ich hatte noch etwas dort vergessen und zwar mein Kräuterkundeheft. Wissen Sie, ich habe die Hausaufgaben gemacht als ich beim Professor war und leider mein Heft liegen lassen."
Poppy lachte erleichtert auf. „Na, ich dachte mir schon so etwas. Ich weiß auch nicht was mich vorhin geritten hat, Hermine. Eigentlich kann ich mir schon denken, dass ein intelligentes Mädchen wie du wohl kaum Gemeinsamkeiten mit diesem unangenehmen Menschen hat – naja, bis auf eine..."
Sie grinste nun schelmisch. Hermine gefror ihr Lächeln und sie spürte wie sich ihre Gesichtsmuskeln verkrampften. „Was für eine Gemeinsamkeit?" fragte sie dann verwirrt.
„Oh, es ist mir nur zufällig aufgefallen. Weil ich noch am Freitag, bevor ich ging die Krankenakten neu sortiert habe..." Hermine konnte es kaum noch aushalten, warum sprach diese Frau immer in Rätseln? „Tja, dabei habe ich festgestellt dass du, und der äußerst reizende Professor Snape, am gleichen Tag Geburtstag habt."
Hermine starrte die Krankenschwester an. Er hatte am gleichen Tag wie sie Geburtstag? Aber natürlich war dies möglich. Warum auch nicht, schließlich musste er ja auch irgendwann Geburtstag haben. Es war ihr nur noch nie aufgefallen, da er seinen natürlich nicht zu feiern pflegte.
Poppy betrachtete die Schülerin belustigt: „Naja, es liegen allerdings schon etliche Jahre dazwischen. Trotzdem finde ich es interessant, dass ihr beide Sternzeichen Zwillinge seid. Unterschiedlicher kann man ja eigentlich kaum sein, nicht wahr?"
Hermine nickte nun und rang sich ein Lachen ab, das eher einem Keuchen glich. „Ja, stimmt," sagte sie dann und blickte auf ihre Uhr. „Bin ich fertig, Poppy? Dann schaffe ich es noch pünktlich zum Unterricht." Die Krankenschwester nickte und Hermine verabschiedete sich eilig. Sie eilte den Flur entlang und kam noch gerade rechtzeitig zum Beginn der Stunde. Die Unterrichtsstunden vergingen für Hermine wie im Fluge. Bei Verwandlungen wirkte Professor McGonagall vergnügt, wie noch nie. Hermine und ihre beiden Freunde grinsten sich an, als sie bemerkten, dass die Lehrerin sie heute nur Blumen zaubern liess.
Es dauerte nicht lang und das Klassenzimmer glich einem Blumenmeer. Das wirklich Eigenartige dabei war allerdings, dass sie die Schüler zum Ende des Unterrichts nicht anwies den Zauber rückgängig zu machen, sondern einfach in der Blütenpracht sitzen blieb.
Als die drei Freunde auf dem Weg in die Kerker waren sagte Harry lachend: „Mir scheint, Ron ist nicht der einzige, der frisch verliebt ist..." Die anderen beiden grinsten nur. Je näher sie dem Kerker kamen, desto weniger war Hermine zum Lachen zumute. Sie merkte wie sie langsam nervös wurde. Als sie an ihren Plätzen saßen wunderten sie sich, dass Snape noch nicht im Klassenraum war. Die Schüler wurden langsam unruhig und sofort begannen die Sticheleien zwischen den Gryffindors und den Slytherins.
Hermine und Harry behielten Ron im Auge, damit er sich nicht zu einer neuen Dummheit hinreissen ließ. Als die Lage langsam brenzlig wurde, kam der Lehrer schließlich doch noch in den Unterrichtsraum. Hermine fiel sofort auf, dass seine Schritte bedächtiger waren als üblich. Er ging bis zum Pult und ließ sich dann sofort auf seinen Stuhl sinken.
„Bücher raus!" befahl er herrisch. Als jeder sein Buch vor sich liegen hatte und wieder absolute Stille herrschte, sagte er: „Sie arbeiten Kapitel 10 durch. Ich möchte eine schriftliche Arbeit zu den Fragen, die am Ende aufgeführt sind. Fangen Sie an!"
Hermine blätterte, genau wie alle anderen in ihrem Buch, bis sie bei der entsprechenden Stelle war. Sie überflog die Seiten und sah sich dann die Fragen an. Das dürfte kein Problem für sie darstellen. Sie griff nach ein paar Blättern und ihrem Federhalter und begann die erste Frage zu beantworten. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich. Sie sah auf und bemerkte Snapes bohrenden Blick.
Fragend sah sie ihn an. „Miss Granger. Vielleicht wäre es sinnvoll den Text zu lesen, bevor Sie die Fragen beantworten," sagte er süffisant. Sie bemühte sich um Ruhe. „Ich kenne den Text bereits, Sir," erwiderte sie fest.
Er schüttelte resigniert den Kopf. „Gibt es noch einen Text in dem Buch, den Sie noch nicht gelesen haben?" fragte er dann genervt. Sie schüttelte vorsichtig den Kopf. Die meisten Schüler lachten leise vor sich hin. Auf einen Blick von Snape verstummten sie. Er stand vorsichtig auf und nahm etwas aus seiner Tasche. Kurz darauf hielt er ein dickes Buch in den Händen und trat ein wenig auf Hermines Pult zu.
Aus einer Entfernung von zwei Metern warf er das Buch auf ihren Tisch. Es knallte vor ihr auf die Holzplatte und schlitterte dann in ihre Richtung. Hermine musste die Wucht mit beiden Händen abstoppen. Sie sah erschrocken ihren Lehrer an. Er stand da, mit regloser Miene.
„Damit wir auch Ihren Horizont erweitern, habe ich etwas ausgesucht, mit dem Sie sich offensichtlich noch nicht besonders gut auskennen. Lesen Sie Kapitel 4 und fassen Sie es dann schriftlich zusammen," sagte er kurz angebunden.
Dann drehte er sich um und ging zurück zu seinem Pult. Es entging Hermine nicht, dass er es heute unterließ, sich herrisch in Pose zu werfen. 'Muss wohl an der Bauchwunde liegen,' dachte Hermine und bemerkte eine Spur von Schadenfreude. Wieso musste er sie auch schon wieder vor der ganzen Klasse blamieren. Verdammt, vielleicht war sie ja eine Streberin, aber musste er immer darauf herumreiten?
Sie betrachtete das Buch. Es war ein sehr seltenes Exemplar über umstrittene Zaubertränke. Die meisten Tränke, die dort verzeichnet waren, wurden heute mit ungefährlicheren Zutaten gebraut. Allerdings, so wusste Hermine, waren viele Tränke dadurch auch nur von schwächerer Wirkung als das Original.
Vorsichtig schlug sie das angegebene Kapitel auf und stutzte als sie die Überschrift las. „Wundheilungstränke mit sehr schneller Wirkungskraft," stand dort. Sie schaute erstaunt zu Snape. Dieser hatte sich jedoch in die Arbeiten einer anderen Klasse vertieft und bemerkte ihren Blick nicht. Sie schaute wieder in das Buch.
Na toll, wollte er sie jetzt etwa zu seiner privaten Krankenschwester ausbilden? Hatte sie nun die Ehre ihn Monat für Monat zusammenflicken zu dürfen, nachdem Voldemort mit ihm fertig war? Hermine fühlte eine Beklemmung, die ihr den Atem nahm. Sie las die verschiedenen Rezepturen durch und hatte das ungute Gefühl, dass man mit manchen davon tatsächlich mehr Schaden, als Nutzen anrichten könnte.
Die Liste der Verletzungen, die man damit heilen konnte las sich wie ein Horror-Roman. Hermine schüttelte unweigerlich den Kopf. Nachdem sie mit Lesen fertig war, griff sie abermals zu Papier und Stift. Doch bevor sie mit ihrer eigentlichen Aufgabe begann, schrieb sie: „Es gibt Wunden die heilen nie. Egal wie man sie behandelt. Egal wie lange sie schon verheilt zu sein scheinen - sie brechen immer wieder auf. Für diese Wunden gibt es keine Heilung, es gibt nur Linderung. Für diese Linderung ist jedoch kein Rezept von Nöten. Nur Freundschaft bedarf es dazu – und Vertrauen.
Darunter handelte sie den Text mit eigenen Worten ab. Sie führte die Zutaten für den Heilungstrank eines Schnittes auf und wusste zugleich, dass es besser wäre ihn langsamer zu heilen. Der Schmerz, den der Heiltrank auslösen musste, wäre sicher schier unerträglich. Es wäre, als würde man mit Säure einen Schnitt verschließen wollen. Aber wenn sie eins in dieser kurzen Zeit gelernt hatte, dann, dass der Schmerz eine untergeordnete Rolle spielte...es ging hier nur ums Überleben.
Sie schauderte. Vielleicht war es genau das, worum es hier eigentlich ging. Sie sollte verstehen, dass es hier nur ums Überleben ging – um nichts sonst! Sie sah abermals zu ihm und konnte gerade noch erkennen, wie er den Kopf wieder über seine Unterlagen senkte. Um sie herum hatten nun ebenfalls alle zu ihren Füllern gegriffen und schrieben fleißig.
Hermine wurde unruhig. Sie starrte auf ihr Blatt und dann wieder auf ihren Lehrer. Hermine schrieb, ehe sie weiter darüber nachdenken konnte: „Es gehört mehr zum Leben, als nur das Überleben. Warum können Sie das nicht sehen? Sie wollen mich das Heilen lehren? Dann lernen Sie erst einmal andere nicht mehr zu verletzen!"
Sie knallte den Füller auf das Pult und schlug das Buch zu. Ron sah sie entgeistert von der Seite an. Auch Snape hatte nicht überhören können, dass seine Schülerin offensichtlich mit ihrem Aufsatz fertig war und kam zu ihr um das Blatt einzusammeln. Die anderen schrieben noch fleißig weiter. Da die Stunde noch nicht rum war, setzte er sich wieder mit Hermines Arbeit an sein Pult und begann zu lesen.
Hermine beobachtete ihn. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. Sie glättete sich ein wenig, als er ihre Zusammenfassung las. Dann jedoch wurde sie um so tiefer und er sah zornesfunkelnd zu Hermine. Er hob das Blatt hoch und riss es mitten durch. Alle in der Klasse blickten erschrocken auf. Der Lehrer hatte jedoch nur Hermine im Visir, als er das Blatt abermals zerriss. Er zerriss es solange, bis nur noch kleine Fetzen davon übrig waren. Hermine sah ihn ausdrucklos an.
„Sie haben genau," er sah auf die Uhr, „zwanzig Minuten. Fangen Sie von vorne an!" presste er hervor. Hermine griff nach einem neuen Blatt und begann zu schreiben: „Wenn Sie Gryffindor Punkte abziehen wollen – nur zu! Die Wahrheit scheint ein Schmerz zu sein, den Sie nicht zu ertragen fähig sind!"
Sie stand auf und brachte ihm das Blatt nach vorne. Hermine war noch nicht ganz auf ihren Platz zurückgekehrt, als er sie von hinten an der Schulter herumriss. „Sie werden jetzt diesen Aufsatz schreiben, sonst werden Sie es bereuen," zischte er sie an. Hermine versuchte ihre Angst zu verbergen und schüttelte seine Hand ab. Ihre Klassenkameraden sahen allesamt geschockt zu ihr. Harry schien lautlos auf sie einzureden. Hermine versuchte alles zu ignorieren. Sie setzte sich auf ihren Platz und würdigte Snape, der neben ihr stand, keines Blickes als sie erneut nach einem Blatt griff und zu schreiben begann:
„Ich würde Sie so gerne verstehen. Was geht jetzt in Ihnen vor? Möchten Sie mich lieber schlagen oder küssen?"
Kaum hatte sie das geschrieben, griff seine Hand das Blatt und er zerknüllte es in seiner Faust. Sie sah das die Ader auf seiner Stirn heftig pulsierte.
„Granger, 50 Punkte Abzug für Gryffindor. Sie werden nachsitzen, bis ich Ihnen erlaube zu gehen! Die anderen geben ihre Arbeiten jetzt ab. Legen Sie sie auf mein Pult."
Er sah Hermine hasserfüllt an. Sie schluckte schwer als die anderen den Kerker verließen. Wie konnte es sein, dass sie sich nun wieder in der gleichen Lage befand wie schon in der vorigen Woche? Auge in Auge mit einem fuchsteufelswilden Snape – das glich einem Selbstmordkommando.
Er ging jedoch zu seinem Pult ohne sie eines Blickes zu würdigen. Dann packte er die Arbeiten ein und ging zur Tür. „Bis ich Ihnen erlaube zu gehen..." wiederholte er drohend und verließ den Kerker.
Hermine seuftze. Sie ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und schloss die Augen. Was war nur mit ihr los? Wie kam sie darauf, sich immer wieder mit ihm anzulegen? Sie sah auf die Uhr. Es war 14.00 Uhr. Eigentlich Zeit fürs Mittagessen. Ihr Magen knurrte wie zur Bestätigung. Sie seuftze abermals. Wie lange würde er sie hier schon sitzen lassen können? Schließlich hatte sie doch auch Rechte. Er konnte sie doch nicht hier verhungern lassen.
Als der Zeiger 16.00 Uhr anzeigte kam sie zu dem Schluss, dass er sie sehr wohl verhungern lassen konnte. Aber schlimmer war, dass sie fast starb vor Langeweile. Mit den Hausaufgaben war sie schon seit über einer Stunde fertig. Hermine war sich sicher, dass er sie nun bald erlösen würde. Immerhin harrte sie schon zwei Stunden hier aus. Sie überlegte, was wohl passieren würde, wenn sie Papierflieger aus den Seiten seines Buches basteln würde. Undenkbar, wenn sie den nächsten Tag noch erleben wollte. Sie schlug mit ihrer Faust auf das Buch. Das tat irgendwie gut. Also wiederholte sie es , nochmal und nocheinmal.
Als es 17.00 Uhr wurde dachte sie darüber nach, ob er sie vielleicht einfach hier vergessen hatte. Sie dachte darüber nach, ob sie einfach gehen sollte. 'Unwahrscheinlich, dass er mich vergessen hat,' dachte sie dann.
Hermine begann wieder, sich über sie selbst zu ärgern. Wie hatte sie seine Grausamkeit nur so unterschätzen können? Mittlerweile war ihr ganz schlecht, vor Hunger und Durst. Sie dachte an den Tag, der zweifellos wunderschön gewesen war und den sie, dank ihrer Unbesonnenheit, nun in einem dunklen Keller verbracht hatte.
Als der Uhrzeiger weiterkroch wurde ihr klar, dass er sie auch jetzt nicht erlösen würde. Alles war so ungerecht. Er war ungerecht. Sie hasste ihn.
'Dieser verdammte Idiot, glaubt er kann mit mir machen was er will. Aber nicht mit mir. Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich hasse diesen gemeinen Kerl, der nicht einen Funken Gefühl in sich hat.'
Hermine spürte wie eine Träne sich aus ihrem Auge stahl. Noch bevor sie es verhindern konnte entwich eine zweite und bald darauf floß ein nicht enden wollendes Rinnsal über ihre Wangen. 'Hoffentlich kommt er nicht ausgerechnet jetzt,' dacht sie sarkastisch.
Aber sie musste noch eine weitere Stunde ausharren, bevor sich die Tür zum Kerker öffnete. Ihre Tränen waren inzwischen versiegt. Sie konnte jedoch fühlen wie ihre Augen brannten und war sich sicher das sie feuerrot und verquollen waren. Sie hörte seine Schritte hinter sich, drehte sich jedoch nicht um. Er sollte nicht sehen, dass er gewonnen hatte.
„Kann ich jetzt gehen," versuchte sie ihre Stimme trotzig klingen zu lassen. Sie wurde wütend auf sich selbst, weil sie hörte wie tränenerstickt ihre Worte klangen. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen wie er um sie herum ging. Schnell senkte sie den Kopf. Er stellte sich vor sie und sie konnte hören wie er leise seuftze.
„Sehen Sie mich an," sagte er dann. Hermine schüttelte den Kopf. Er ging vor ihr in die Hocke und suchte ihren Blick. Sie senkte den Kopf noch mehr und war dankbar für den Pony, der in ihre Stirn fiel. Doch plötzlich legte er die Finger an ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Hermine schloß die ihren für einen Moment und gab dann resigniert auf. Sie sah ihn an.
Eigentlich wollte sie ihn unnachgiebig und trotzig ansehen, aber in dem Moment, wo sie seine Augen sah war sie irritiert und vergaß ihre Wut. Sie stellte fest, dass er fast genauso traurig aussah wie sie.
„Ich weiß, ich habe sie lange warten lassen. Sie fühlen sich ungerecht behandelt. Und damit haben Sie recht. Es war ungerecht Sie hier so lange festzuhalten. Wahrscheinlich haben Sie ziemlichen Hunger. Sehen Sie Hermine, wenn Sie etwas aus dieser Lektion gelernt haben, war es das alles wert."
Hermine stutzte, dann keifte sie ihn an: „Was soll ich gelernt haben? Das Sie über mich bestimmen können? Das Sie am längeren Hebel sitzen? Das Sie so ungerecht und gemein sind wie alle immer glauben?" Sie spürte wie die Tränen, die sie längst versiegt geglaubt hatte, wieder anfingen zu fließen.
„Nein. Oder ja. Das alles wahrscheinlich auch," gab er dann zu.
„Und was wohl noch," fragte Hermine mit kratziger Stimme.
„Das ich nicht gut für Sie bin. Das Sie nichts in mir sehen sollten, als den gemeinen Sadisten, für den Sie mich gerade halten."
Hermine sah ihn aufmerksam an. Sie zögerte kurz, bevor sie ihn leise fragte: „Warum liegt Ihnen so verdammt viel daran, dass ich Sie hasse?"
Er erhob sich und deutete auf die Tür. „Sie können jetzt gehen." Hermine verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum antworten Sie mir nicht?" fragte sie eindringlich. Er kniff kurz die Augen zusammen ehe er wiederholte: „Miss Granger, Sie können jetzt gehen. Und hören Sie endlich auf damit. Sonst vergesse ich mich noch!"
Hermine stand auf und ging in seine Richtung, als sie vor ihm stand sagte sie flüsternd: „Sie sind mir noch viele Antworten schuldig. Zum Beispiel die, was jetzt geschieht, wenn Sie sich vergessen – schlagen oder küssen Sie mich dann?"
Er schnaubte durch die Nase und schüttelte langsam den Kopf, während sein Blick sie durchbohrte. „Ich habe einen Fehler gemacht, den ich nun immer bereuen werde, weil Sie mich stets daran erinnern," sagte er mit dunkler Stimme. Hermine wich keinen Schritt zurück, obwohl ihr sehr mulmig zumute war. Sie atmete tief durch bevor sie sagte: „Würden Sie ihn wiederholen?"
„Tun Sie das nicht..." sagte er dann.
„Was?" fragte sie leise und kam ihm noch ein Stück näher. Er sah ihr in die Augen und erkannte darin eine Entschlossenheit die ihn erregte. Hermine beugte sich zu ihm und öffnete leicht die Lippen. Kurz bevor ihre Münder sich trafen erklang ein Geräusch von der Tür. Es war ein leises Klicken, als sei sie gerade ins Schloss gefallen.
Doch wie konnte dies sein? Die Tür war doch geschlossen gewesen. An dem Gesichtsausdruck ihres Lehrers konnte Hermine erkennen, dass er den gleichen Gedanken hatte wie sie. Dort musste jemand gewesen sein, jemand, der eindeutig gemerkt hatte, dass er störte und sich mit diesem Wissen nun leise aus dem Staub gemacht hatte.
Nackte Panik stand dem Zaubertranklehrer ins Gesicht geschrieben. Hermine war ebenfalls starr vor Schreck. Sie wusste dass man ihr nichts anhaben konnte, denn immerhin war sie alt genug um küssen zu können wen sie wollte. Aber bei ihm sah die Sachlage natürlich völlig anders aus. Sie war seine Schülerin und somit seine Schutzbefohlene.
Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt. Schließlich war sie Schuld an der Misere. Sie hätte ihn nicht in diese Lage bringen dürfen. Er schien genau diese Gedanken in ihrem Gesicht zu lesen und sagte eindringlich zu ihr: „Sie und ich, das ist nie gewesen! Ab sofort werden wir uns so gut es geht aus dem Weg gehen. Und diesmal meine ich es wirklich ernst!"
Hermine nickte nur und sagte: „Ich werde dann mal gehen. Wenn ich Sie heute abend einschließe, werde ich aufpassen, dass mir niemand folgt, o.k?"
Er grummelte Zustimmung. Hermine packte ihre Sachen ein und verließ den Kerker.
TBC
