Anmerkung: Das Kapitel hat mehr oder weniger überhaupt keine Handlung und es trieft geradezu vor lauter Zuckerguss … -.-
Warnung: Lupe raushol kritisch betracht Könnte das schon Lime sein? Hmmm …
Ich kann so was nicht gut schreiben – sorry! Aber ich werde dran üben, dass nächstens besser zu machen.
Matts Perspektive
„Verdammte Scheiße!" fluchte Taichi so unerwartet und heftig, dass ich zusammenzuckte. Er stieß die Hände tief in die Hosentaschen und machte ein paar Schritte auf die Terrassentür zu, die nach drinnen führte. Mit einem weiteren Fluch blieb er auf halbem Wege stehen. Er atmete ein paar Mal tief durch und fuhr sich durch die Haare, aber er drehte sich nicht um.
Ich hatte solche Angst davor, dass er gehen würde … und gleichzeitig hasste ich mich selbst dafür, dass ich nur wie ein Idiot dastand und ihn nicht aufhalten konnte, obwohl ich spürte wie schrecklich wichtig das alles hier war.
Ich meine, Taichi fluchte fast nie. Im Gegensatz zu mir – ich fluchte andauernd. Aber er tat es nur dann, wenn es wirklich verdammt ernst war. Und zwar nicht ernst wie in "Ihre Versetzung ist ernsthaft gefährdet, wir möchten ihre Eltern zu einem Gespräch einladen" – ernst, sondern ernst wie in "Oh Gott, wir werden alle sterben" – ernst. Irgendwie war es fast schon beängstigend, dass er mich in dieselbe Kategorie von ernst einordnete.
„Ich weiß, dass du Angst hast …", sagte er ohne mich anzusehen.
Das warme gelbe Licht von drinnen überzog sein Gesicht und seine dunklen Haare mit einem matten Goldschimmer und ließ nur seine Augenhöhlen im Schatten. „Dass es dir Angst macht, jemanden an nah an dich heran zu lassen oder deine Gefühle zu zeigen. Du denkst immer, dass jede Schwäche die du zeigst sofort gegen dich verwendet und ausgenutzt wird. Aber du kannst nicht erwarten … du kannst nicht …" Er atmete tief durch, nur sein ernstes, ruhiges Profil zu mir gewandt. „Auch wenn du die ganze Welt ignorierst, heißt das nicht, dass sie auch dich ignorieren wird. Du bist dir nie bewusst, was du für eine Wirkung auf andere hast … aber die hast du, auch wenn du es vermutlich nicht einmal willst."
Ich war wie betäubt und es brauchte eine Weile bis Taichis Worte bei mir eingesunken waren. Es machte Sinn … irgendwie … vielleicht ein bisschen … vielleicht ein bisschen zu viel.
Es schien einfach in meiner Natur zu liegen Leute permanent vor den Kopf zu stoßen und kalt und abweisend zu ihnen zu sein … vielleicht weil ich manchmal solche Angst davor hatte dass mir jemand wehtun würde. Es war als ob ich mich ständig selbst beschützen müsste, ganz klein machen und so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten … irgendwo hinter einer Wand aus Ablehnung verstecken, die man nicht durchdringen konnte. War ich wirklich soweit hinter dem ständig lauernden Sarkasmus und der Kälte zurückgezogen, dass ich irgendwann angefangen hatte nicht nur mich vor der Welt … sondern auch die Welt vor mir auszusperren?
Und das Schlimmste von allem … hatte ich angefangen Taichi auszusperren?
„Ich bin dein bester Freund …" Wilde, dunkle Haare fielen ihm ins Gesicht, als er den Kopf senkte und seinen Fäuste zuckten, so angespannt war sein ganzer Körper. „Ich würde dir nicht wehtun, Matt … niemals. Aber es tut weh, wenn du dich sogar vor mir zurückziehst. Wenn du mich immer abweist und mir nicht genug vertraust …"
Er drehte sich um und sah mir offen ins Gesicht. „Manchmal habe ich das Gefühl, die Mauer um dich herum ist so dick, dass du mich nicht mal mehr siehst …"
Er sah so traurig aus, dass es mir das Herz brach.
Es war ein brennender Schmerz in meiner Brust, der mir die Luft raubte … so das ich nicht mehr atmen konnte. Ich stand wie festgefroren an einem Fleck und konnte mich nicht rühren und das einzige was in meinem Kopf vorhanden war, war der Gedanke dass ich ihm wehgetan hatte … irgendwie … irgendwann … und was für ein unglaublicher Idiot ich war, weil ich es nicht einmal bemerkt hatte. Nur weil ich so war, wie ich war und mich in diesem Augenblick selbst dafür verabscheute. Hasste er mich jetzt …? War dies der Moment vor dem ich solche Angst gehabt hatte … dass er endlich merkte, was für ein abscheulicher, unausstehlicher Mensch ich war … der Moment in dem er nicht mehr mein bester Freund sein wollte?
Er senkte den Kopf und drehte sich langsam um. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und die Schultern beinah abwehrend angezogen trat er einen Schritt auf das erleuchtete Wohnzimmer zu. Mein ganzer Körper spannte sich an und alles in mir schrie, dass ich ihn aufhalten musste.
Er durfte nicht gehen … verdammt, wusste er denn nicht wie viel er mir bedeutete? Dass er der wichtigste Mensch in meinem Leben war und dass ohne ihn doch alles sinnlos und ohne Bedeutung war …?
Aber woher auch, wurde mir bitter bewusst. Ich war nicht grade freigiebig und offen mit meinen Gefühlen … Tiefkühlgefrierfach, Stufe drei würde den Level meiner spontanen Gefühlsäußerungen wohl am besten beschreiben. Und jetzt ging er und … scheiße er durfte nicht gehen! Lieber würde ich mich lächerlich machen und demütigen und vor ihm auf Knien rumrutschen und ihn anbetteln, dass er nicht aufhören sollte mein bester Freund zu sein … alles nur damit er nicht ging.
„Tai … nicht …!"
Der Boden rutschte beinah unter mir weg, als ich so plötzlich und unvermittelt losrannte. Ich stolperte auf dem Weg, aber ich erreichte ihn, als er direkt vor der Terrassentür nach drinnen stand, warf mich förmlich gegen seinen Rücken und schlang von hinten die Arme um ihn. Sein ganzer Körper versteifte sich plötzlich und ich spürte beinah wie er überrascht die Luft anhielt, als ich ihm plötzlich so nah war. Ich kam mir vor wie einem billigen Fernsehdrama, aber das machte das Ganze nicht weniger schmerzhaft.
„Geh nicht …", murmelte ich und meine Stimme klang gedämpft weil ich das Gesicht im Stoff seines T-Shirts vergraben hatte. „Es tut mir Leid … geh nicht …"
Mein Herz hämmerte gegen seinen Rücken und ich war sicher, dass er es spüren konnte, so dicht wie ich an ihn gepresst war. Ich hatte solche Angst, dass ich gleich anfangen würde loszuheulen wie ein Baby, so dass mein ganzer Körper zitterte vor lauter Anstrengung die Tränen zurückzuhalten.
Vielleicht war ich doch eine Tunte … niemand sonst konnte doch so dämlich dramatisch sein - andererseits hatte ich Ryo noch nicht heulen sehen, nur dumme Sprüche klopfen. Oh man … scheiße! Was war nur los mit mir? Das durfte doch alles nicht wahr sein! Ich war Yamato, der Eisblock und nicht Yamato, die Drama-Queen!
Wenn es nur nicht so verdammt ernst gewesen wäre … und nicht um jemanden gegangen wäre, der mir so unglaublich viel bedeutet hätte …
„Yama … ich geh doch nur ins Wohnzimmer …"Taichis Stimme war leise und überrascht.
„Nein." Ich schüttelte heftig den Kopf, entsetzt darüber wie aufgelöst und unzurechnungsfähig ich klang. „Du gehst weg von mir …"
Wie war das mit dem demütigen und lächerlich machen noch mal …? Jetzt war es also soweit … ich klang wie ein winselnder Idiot … aber das war tatsächlich der einzig klare Gedanke in meinem Kopf … er ging fort von mir … und ich würde ihn verlieren, wenn er jetzt wieder nach drinnen ging … wenn ich ihn jetzt einfach gehen ließ. Allein der Gedanke, dass er wegging oder mich vielleicht nicht mehr ertragen konnte, brachte mich einfach um.
Wieso war ich nur so ein schrecklicher Versager? Ich hatte mir doch vorgenommen genau das zu ändern … sozialer zu werden, offener, gefühlvoller … aber ich hatte nicht einmal das hinbekommen. Kein Wunder, wenn Taichi jetzt sauer auf mich war, ich war so ein Idiot …Idiot … Idiot!!
„Geh nicht … bitte …"
Ich spürte wie er sich endlich zu mir umdrehte und löste meine feste Umklammerung etwas. Hastig fuhr ich mir über die Augen, nur für den Fall, dass ich vielleicht doch … hrgs, scheiße, da war tatsächlich was Feuchtes auf meinen Wangen … nein, ich doch heulte nicht etwa, oder?! So etwas machte ich einfach nicht!
„Was ist los?" Er klang nicht wütend, nur erschrocken und besorgt. „Tut mir Leid … liegt es an mir? Habe ich dich zu sehr angefahren?"
Ich schüttelte hastig den Kopf. „Nein. Ist okay … ich war ja auch nicht besser."
Er hatte mir geholfen und ich war nur gemein zu ihm gewesen. Nagende Schuldgefühle machten sich in mir breit. Selbst wenn Tai kein Junge und nicht zufällig mein bester Freund gewesen wäre … ich hätte niemals jemanden verdient, der so lieb und wunderbar war wie er. Was ich verdiente war nicht mal der Dreck unter seinen Schuhsohlen … vermutlich kam ich in der Evolutionskette schon unterhalb der Kriechtiere, so mies wie ich war … unterhalb der Einzeller.
„Oh Gott … weinst du etwa?" Er klang entsetzt und alarmiert.
„Nein!" bestritt ich hastig und fuhr mir erneut über die Augen. Verdammt, ich heule nicht! So etwas tue ich einfach nicht! Immerhin hatte ich ein verfluchtes Image zu wahren!
„Tai, wieso bist du so nett zu mir?" stieß ich hervor in einer Mischung aus Atemlosigkeit weil er so nah und Frustration weil er so weit weg war, und gleichzeitig absolut überfordert damit, dass er so lieb war. „Du bist doch sauer auf mich …"
Verdammt, wenn er mich so ansah, als ob ich irgendwie furchtbar wichtig wäre, dann konnte ich mich doch nicht länger wie ein Kriechtier fühlen, war ihm das nicht klar?
Er sah mich überrascht an. Irgendwann nach einer halben Ewigkeit senkte er den Blick und ein kleines, zaghaftes Lächeln zog seine Mundwinkel nach oben. „Ich bin nicht … ich bin doch nie sauer auf dich. Ich kann einfach nicht, selbst wenn ich möchte", seufzte er leise. „Und das ist genau das was du nicht verstehst, nicht wahr …?"
Nein, ich kapierte gar nichts. Es ging einfach über meinen Verstand, wie er sich noch länger mit jemandem abgeben konnte, der so schwierig und anstrengend war wie ich.
Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen was in ihm vorging, so wie ich es manchmal konnte, aber da war nur dieses rätselhafte, kleine Lächeln und seine Augen waren noch immer verborgen unter den dunklen Haaren, die ihm ins Gesicht gefallen waren.
Irgendwann hob er den Kopf und sah mich an. Keiner von uns sagte etwas, wir starrten uns nur an, ein bisschen erschrocken und verlegen … vielleicht weil es für einen Jungen allgemein peinlich war soviel von seinen Gefühlen preiszugeben, wie wir es grade beide getan hatten.
Er war so nah … so verdammt nah … und ich konnte sehen, wie seine Brust sich unter dem dünnen Stoff seines T-Shirts in ungewöhnlich raschem Tempo hob und senkte. Erst jetzt wurde mir klar, dass er so nervös und aufgeregt war wie auf dem Fußballfeld, kurz bevor er das entscheidende Tor schoss … nein, noch nervöser. Mir war klar, dass wir kurz vor irgendetwas waren … vor irgendetwas Besonderem … es war wie im Film, wenn diese ganz bestimmte Musik kommt und du ganz angespannt in deinem Sitz kauerst und denkst "Jetzt … jetzt … jetzt … gleich …" aber noch nicht sicher bist, was dich erwartet. Du spürst nur mit absoluter Deutlichkeit, dass es gleich passieren wird.
„Tut mir leid", sagte er plötzlich und neigte sich ein wenig nach vorne, so dass unsere Gesichter plötzlich nur noch Millimeter voneinander entfernt waren. „Auch, wenn du mir jetzt böse bist - ich … kann nicht anders."
Meine Augen wurden groß und ich hielt unwillkürlich die Luft an. Was redete er denn da? Was tat ihm leid?
„…was?" Aber ich kam nicht mehr dazu diesen Satz zu beenden.
„Das." erwiderte er und hob seine Hand. Ich spürte seine sanften Finger auf meiner Wange, die mein Gesicht näher zu sich zogen und seine Haarsträhnen, die mein Gesicht streiften, als er sich vorbeugte, sah wie in mikroskopischer Vergrößerung wie seine langen, dunklen Wimpern nach unten flatterten und dann …
… küsste er mich.
Und scheiße, auch wenn es klang wie aus der nächstbesten, billigen Fernsehschnulze geklaut … es war als ob in diesem Moment alles plötzlich in Zeitlupe ablief und mein Herz für einen Moment aufhörte zu schlagen - dass irgendwie alles um uns herum innehielt und stehen blieb … als Taichi mich wirklich küsste.
Das durfte nicht wahr sein … ER KÜSSTE MICH! Ich meine, er KÜSSTE mich! Taichi küsste MICH! Ich weiß, ich wiederhole mich hier … aber oh Gott … oh man … ich … er … er küsste mich ganz einfach.
Es war nur eine ganz vorsichtige, zarte Berührung auf meinem Mund, so unglaublich sanft und behutsam, als hätte er Angst mir wehzutun oder mich zu verschrecken. Seine Lippen glitten tastend über meine … waren jungenhaft, rau und unerfahren, und schmeckten einhundertprozentig, unvergleichlich und unverkennbar nach Taichi Yagami. Seine warmer Atem streifte meine Haut und er ich wollte mich einfach nur fallen lassen und in diesem Kuss versinken und wollte dass er nie mehr damit aufhörte.
Da war etwas Vertrautes in seinem Kuss, ein Hauch von dem frechen, vorlauten Bengel, der er gewesen war, den ich so gut kannte wie mich selbst, aber da war auch noch etwas Anderes … Aufregendes … herber, erwachsener … etwas von dem anziehenden, souveränen Mann, der er irgendwann sein würde. Allein Gedanke verursachte mir weiche Knie und ließ mein Herz unwillkürlich schneller werden. Tai … mein allerbester Freund … mein süßer, kleiner Tai mit den großen, braunen Hundeaugen und dem breiten, frechen, lieben Grinsen … war dabei sich in genau diesen atemberaubenden, umwerfenden Mann zu verwandeln. Und er war dabei mich küssen, ausgerechnet mich … und mir einen Vorgeschmack darauf zu gewähren.
Mir war nicht klar gewesen, dass ich die Augen geschlossen hatte, bis er sich langsam wieder von mir löste und ich sie automatisch wieder öffnete. Das erste was ich sah, waren tiefbraune Ovale, unscharf und vergrößert weil sie so dicht vor meinen waren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an, konnte immer noch den Geschmack seiner Lippen auf meinen spüren und hatte das Gefühl, als ob meine Knie sich grade in Kaugummi aufgelöst hatten und jeden Moment unter mir nachgeben würden.
„Oh …", hauchte ich dämlich. „… wow."
Ich war ja noch nie ein Meister der besonderen Wortgewandtheit gewesen … aber das war jetzt wirklich der totale Tiefpunkt meiner Eloquenz … totale Wüste in meinem Kopf.
„Sehr schlimm?" fragte Taichi und sah mich besorgt an. Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte ich heftig den Kopf. Unwillkürlich breitete sich ein kleines, schüchternes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
„Tut mir leid, ich konnte nicht anders …", sagte er leise. „Jedes Mal, wenn ich dich ansehe, möchte ich dich küssen. Schon die ganze Zeit."
Verlegene Röte zierte seine sonnengebräunten Wangen, während er das sagte und wilde, braune Haarsträhnen wurden ihm durch die leichte Abendbrise in die Augen geweht. Er war so unglaublich schön, dass ich ihn im Gedächtnis photographieren und diesen Augenblick für immer festhalten wollte.
Seine letzten Worte hallten in meinem Kopf wieder … und ließen ein seltsames Gefühl in meinem Bauch hochsteigen.
… schon die ganze Zeit.
Die ganze Zeit …? Wie lange … wie lange war ich denn so verdammt blind gewesen …? Die ganze Zeit …
All die Blicke wurden mir in diesem Moment viel zu verspätet bewusst, die wir heimlich ausgetauscht hatten, so lange ich denken konnte … in der Schule, zuhause, eigentlich immer wenn wir zusammen waren. Wie oft wir einen fadenscheinigen Grund gefunden hatten uns zu berühren, in den Arm zu nehmen, dem anderen durch die Haare zu wuscheln, einfach nur gegenseitig unsere Nähe gesucht hatten. Mir wurde bewusst, wie oft ich mich umgedreht hatte weil ich Taichis Blick auf mir gespürt hatte und wie sich jedes Mal ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, wenn ich zurückblickte. Wie oft wir einfach dastehen und uns anlächeln konnten wie die Idioten, ohne ein Wort zu sagen …
„Okay, wenn ich ehrlich sein soll … es tut mir nicht leid", sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Ich hätte das schon viel zu lange einfach tun sollen. Aber ich … ich verstehe, wenn du erstmal Zeit brauchst um darüber nachzudenken", fügte er unsicher hinzu, als ich immer noch nichts sagte, sondern ihn nur sprachlos anstarrte. „Wenn du vielleicht alleine sein willst … Ich … ich geh lieber nach drinnen und … du kannst dann in Ruhe …"
Er hob ein wenig hilflos die Schultern und machte Anstalten sich umzuwenden und zu entschwinden, was mich endlos aus meiner Erstarrung erwachen ließ.
Oh nein, mein Freund. Vergiss es! Er würde jetzt NICHT einfach gehen. Nicht nachdem er mir grade den ersten Kuss meines Lebens geschenkt hatte und ich so viele qualvolle Stunden damit verbracht hatte mir vorzustellen wie es sein würde ihn zu küssen und ich erst jetzt bemerkt hatte, dass es in Wirklichkeit noch viel besser war, als alles was ich mir jemals hätte vorstellen können.
„Stopp!" rutschte es mir heraus. Er zuckte leicht zusammen, aber blieb folgsam stehen. „Denk nicht mal im Traum daran, dich jetzt aus dem Staub zu machen, Taichi Yagami!"
Er blieb stehen und drehte sich langsam zu mir um, sein Gesichtsausdruck angespannt und unsicher, als hätte er Angst, dass ich ihn mit einiger Verspätung doch noch anbrüllen würde.
„Verlang nur nicht von mir, dass ich es bedaure", sagte er leise. „Das kann ich nicht …"
Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, warf ich mich ihm förmlich entgegen und schlang meine Arme um seinen Nacken. Durch den unerwarteten Schwung stolperte er nach hinten und landete mit mir dicht an seine Brust geschmiegt an der Hauswand. „Du bist wirklich dumm …", stieß ich hervor und zog sein Gesicht zu mir, atmete tief seinen wunderbaren Geruch ein. „Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen …"
Mit diesen Worten presste ich meine Lippen erneut auf seine.
Oh scheiße …! Was zum Teufel machte ich denn da?! Ja man, ich war selbst überrascht als mein Körper sich plötzlich so aufführte und sich ihm praktisch an den Hals warf, als gäbe es kein morgen mehr. Verdammt, ich war schüchtern!
Es waren die Aliens … es mussten einfach die Aliens sein, die meinen Körper übernommen hatten und sich grade so absolut notgeil aufführten. Aber was sollte ich machen … er war so unglaublich, so unwiderstehlich … so sexy … so … Taichi.
Ich spürte seine Überraschung, als ich plötzlich in seinen Armen hing, sah seine weit aufgerissenen Augen vor mir … und dann ganz plötzlich ging eine Art Ruck durch seinen Körper, er schlang die Arme um mich und zog mich leidenschaftlich an sich. Er hauchte meinen Namen mit einer Zärtlichkeit, die ich noch nie bei ihm gehört hatte und erwiderte meinen Kuss.
Er schmeckte so herrlich nach mehr … rau und burschikos und gleichzeitig auch irgendwie süß und sanft. Wir hatten beide nicht viel Ahnung von der ganzen Sache hatte ich so den dumpfen Verdacht und die ersten Küsse waren einfach nur hungrig und ein wenig ungeschickt. Weder er noch ich wussten anfangs so recht wohin mit Händen und Lippen, aber irgendwie ergab sich alles von selbst, als ob unsere Körper einfach zusammenschmelzen würden wie heißes Wachs. Ich meine, das war mein erster Kuss! Mein erster Kuss mit Tai … und ich hätte sonst was darauf verwettet, dass es auch sein erster war.
Alles an ihm war mir so unglaublich lieb und vertraut und gleichzeitig so aufregend fremd und neu, als hätte ich ihn noch nie gesehen.
Meine Atmung war hastig und erhitzt und ich konnte seinen Herzschlag spüren, der gegen meinen Brustkorb hämmerte … schnell und unregelmäßig wie mein eigener.
Oh mein Gott … ich war schwul!
Keine Ahnung wie das passiert war, aber ich war so sicher schwul wie das Amen in der Kirche, so sicher schwul wie Ryo ein blöder Idiot war … ich musst einfach schwul sein, denn es fühlte sich so unglaublich gut an, was ich hier mit Taichi tat, so wunderbar und unglaublich schön, dass ich mich fragte womit ich die bisherigen tristen, sechzehn Jahre meines Lebens vergeudet hatte, und vor allem - warum nicht damit?!
Anderseits … es lag an Taichi. Alles. Nur an ihm, dass es so unglaublich toll war. Seine Hände, seine Lippen, sein wunderbarer Geruch …alles nur er. Weil ich ihn liebte und ihm so sehr vertraute wie niemandem sonst und weil er so wunderbar war. Also vielleicht war ich doch nur taitosexuell … aber wie!
„Verdammt …", hauchte er atemlos gegen meinen Lippen. „Was ist das …?"
„Alkohol?" bot ich schwer atmend an. „Hormone? Aliens?"
Er hielt kurz inne, öffnete die Augen und blinzelte nachdenklich. Schließlich nickte er. „Okay." Und seine Lippen waren wieder auf meinen.
Meine Hände fuhren über seinen Rücken, während wir uns küssten, über den dünnen Stoff seines T-Shirts und ich spürte wie die Muskelstränge unter seiner Haut sich bewegten, als er die Arme fester um mich schlang und mich näher zu sich zog. Er fühlte sich so unglaublich gut an, sein warmer fester Oberkörper war an mich geschmiegt und glitt an meinem auf und ab, während meine Hände auf ihm entlang fuhren und nicht genug bekommen konnten von seiner Nähe. Ich war sicher, dass er fühlen konnte wie sehr mein Herz hämmerte und wie erhitzt meine Haut sich unter seinen Händen anfühlte … aber es macht nichts. Zum ersten Mal war es mir nicht peinlich, weil ich genau fühlen konnte, dass es bei ihm auch nicht anders war.
Ich war süchtig …süchtig nach ihm und seiner Nähe …seinem Geschmack …seinem Geruch …als ob eine einzige Berührung ausgereicht hätte um mich mein Leben lang abhängig von ihm zu machen, wie eine Droge.
Ob ich mal die Suchtberatung anrufen sollte …?
Allerdings wäre es wohl nicht sehr wahrscheinlich, dass ich irgendwo auf viel Mitleid stoßen würde, wenn ich sagte, „Hilfe, ich klebe an den Lippen des umwerfendsten Jungen, den ich kenne und ich möchte mich am liebsten nie wieder mehr als drei Millimeter von ihm entfernen - können sie mir helfen?"
Alles war weich und verschwommen, als wir uns wieder voneinander lösten – ehrlich gesagt, wusste ich nicht wieso, denn es war grade so unglaublich schön – und bis auf unseren beschleunigten Atem war es ganz still auf der Terrasse. Von drinnen kam immer noch Stimmengewirr und Musik, aber irgendwie war das alles in meinem Bewusstsein wie ausgeblendet.
„Okay", hauchte Taichi ohne mich loszulassen und öffnete langsam die Augen, „jetzt ist es offiziell: Du darfst dich nie wieder auf mehr als Kussweite von mir entfernen."
„Spinner", gab ich mit hochrotem Kopf und nicht sehr romantisch zurück. Was soll ich sagen - ich hatte nie behauptet romantisch zu sein. Und da tat es auch überhaupt nichts zur Sache, dass mir grade so viele abartig kitschige Dinge durch den Kopf schossen, die alle um Taichi kreisten. „Ich kann mich ja nicht an deinem T-Shirt festtackern …"
„Ein Halsband wäre also nicht drin?" erwiderte er frech. „Würde dir sicher gut stehen …"
„Hallo? Hattest du vielleicht Sauerstoffmangel während dem Kuss? Wieso muss ICH das Halsband tragen?"
„Ich soll es tragen?" Er hob fragend die Augenbrauen und ein leicht verklärtes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er darüber nachdachte. „Hm, ich könnte mir vorstellen, dass es sogar einen gewissen Reiz hätte an einem Halsband hinter dir her zulaufen."
„Eine durchaus ansprechende Vorstellung", gab ich zu. „Los, sitz zu den Füssen deines Herrchens!"
Meine Aliens waren so was von am feiern, bei dieser Vorstellung. Oh yeah. Los, nimm ihn an die Leine, hechelten sie mit glänzenden Augen. Na toll … Alf und E.T waren doch knuddelige Familienaußerirdische gewesen … wieso bekam ausgerechnet ich die sexuell pervertierten Aliens?!
„Wuff!" machte Taichi leise und setzte seinen großen, braunen Hundeaugenblick auf. Er neigte den Kopf zu mir und fuhr sanft mit der Zungenspitze über meine Unterlippe. „Himmel, du bist sogar süß, wenn du dominant bist …", flüsterte er gegen meine Lippen.
„Tai … warte …", murmelte ich, während ich versuchte mich jetzt nicht auf ihn zu stürzen, zu Boden zu werfen und halb bewusstlos zu küssen, vor lauter Begeisterung. Scheiße … war ihm nicht klar wie unglaublich hinreißend er grade war? „Tai …!" Angestrengt versuchte ich die Sexualhormone zu ignorieren, die durch meinen Körper rasten, weil sie offenbar nicht genau wussten wohin und mich ganz kribbelig machten, während ich doch einen kühlen Kopf bewahren wollte. „Warte - haben wir nicht ein kleines Problem …?"
„Hm? Wieso …?"
„Du hast mich grade geküsst!" erinnerte ich ihn. „Was … was tun wir denn jetzt?" Wir sollten ein klärendes Gespräch einschalten, nicht wahr? Unseren aktuellen Status definieren. Darüber reden was Sache war … machte man das nicht so, wenn man überraschend von seinem besten Freund geküsst wurde? Ich war planlos wie immer.
„Wieso tun? Wir tun doch grade was", protestierte er und hauchte weitere sanfte Küsse auf meine Lippen.
„Taichi – sei endlich ernst!" Ich packte ihn am Kragen seines T-Shirts und zog ihn mit funkelnden Augen zu mir. „Das ist wichtig … DU hast mich GEKÜSST!"
„Irrtum, mein Schatz", grinste er mit einem dermaßen männlich selbstgefälligen Gesichtsausdruck, dass ich ihn dafür hätte erwürgen können. „Ich habe vielleicht damit angefangen, aber du hast definitiv weiter gemacht …"
„Das ist doch jetzt absolut irrelevant", protestierte ich hastig. „Was bist du? Der Staatsanwalt?"
„Angeklagter, sie sind überführt und absolut schuldig …"
„Überführt?" ich keuchte leise auf, als seine Hände unter mein Hemd glitten und sanft über meinen Bauch fuhren. „Eher verführt … argh, TAI! Du bist …!"
„… unwiderstehlich? Atemberaubend? Dein Sexgott …?" schlug er vor.
„Bescheiden bis zum letzten Atemzug, nicht wahr Yagami?" ich warf ihm einen schiefen Blick zu und schlang meine Arme um seinen Hals.
„Hey, ich kann doch nichts dafür, dass du mich unwiderstehlich findest."
„Ach, sei still…" hauchte ich und erwiderte seinen Kuss.
Okay, alles war verwirrend, alles war extrem seltsam und ich küsste meinen besten Freund, von dem ich bisher nicht einmal gewusst hatte, dass er mich überhaupt küssen WOLLTE … aber irgendwie schaffte ich es nicht mich deswegen aufzuregen oder mir Gedanken zu machen. Etwas, dass so unglaublich schön war, konnte doch nicht falsch sein, oder? Und oh ja, verdammt, es WAR schön …!
Vielleicht würde ich es irgendwann später schaffen mir wieder so viele Sorgen um alles zu machen wie ich es sonst immer tat. Vielleicht würden wir später ein langes, klärendes Gespräch führen. Vielleicht … hm … vielleicht konnten wir einfach für immer und ewig hier stehen bleiben und uns ansehen und anfassen und weiterküssen und …
„Yagami!"
Hm?
„Yagamii?!"
Nein … nein … nein …
„Hey, Taichi, wo STECKST du?!"
Scheinbar doch. Wir erstarrten gleichzeitig mitten in der Bewegung und ich klappte widerwillig die Augen wieder auf. Das durfte doch jetzt einfach nicht wahr sein! Das ging einfach nicht!
„Verdammt", fluchte ich mit erhitztem Gesicht und löste mich etwas von ihm, kam allerdings nicht besonders weit.
„Oh nein!" befahl Taichi wild entschlossen und hielt mich fest, als ich versuchte mich hastig aus seinen Armen zu winden. „Wir ignorieren sie einfach."
„Aber …"
„Kein aber. Vielleicht lösen sie sich einfach in Luft auf, wenn wir sie nur lange genug ignorieren", sagte er mit einem hoffenden Ausdruck in den Augen.
„Das glaubst du ja wohl selber nicht …"
Und wie zur unterschwelligen Bestätigung meines Pessimismus, kam es prompt wieder von drinnen: „Taichiiii!!!"
„Was…" stöhnte er voller Verzweiflung und richtete seinen Blick gen Himmel, „Herr, was habe ich dir denn je Schlimmes getan? Bin ich nicht immer ein furchtbar netter Mensch gewesen? Zugegeben, ich habe bei den letzten Mathearbeiten von Matt abgeschrieben … und ich hatte ein vielleicht paar unreine Gedanken als er während dem Training in diesen kurzen Hosen herumgelaufen ist … aber wenn man die Gesamtsituation betrachtet …"
„Hey - war das nicht eben Karis Stimme?" unterbrach ich seine Jammertirade irritiert.
„Hm?" Überrascht senkte er seinen Blick wieder und blickte zur Terrassentür. „Kari? Aber was sollte die hier …? Es ist fast zwei Uhr morgens …"
„TAI!!! Wo steckst du?" es klang beinah hysterisch.
„Okay, das ist sie", stellte wir gleichzeitig fest und ein leicht besorgter Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Großer Gott, was zum Teufel macht sie hier?"
„Taichi?" kam es plötzlich von der Terrassentür in einer Tonlage, die definitiv zu tief und männlich war um Kari zu gehören.
Wie ertappt und mit vor Verlegenheit brennenden Gesichtern fuhren wir auseinander. Meine Hände fuhren eilig zu meinem Hemd, dessen unterste Knöpfe sich danke Taichis geschickter Finger schon gelöst hatten, während er hastig an seinem verrutschten T-Shirt herumzerrte, in dessen Stoff ich eben noch meine Finger gekrallt hatte. Es war wie im Film. Allerdings war heute alles wie im Film – ehrlich ich kam mir von Minute zu Minute mehr vor, als ob mein Leben sich in ein einziges Kino verwandelte. Ich konnte förmlich vor mir sehen, wie die Leute vor der Leinwand saßen, Popcorn in sich reinschaufelten und sich über mein Leben totlachten. Hey, man – das WAR nicht witzig!
Dankbar für die mehr als schwache Beleuchtung drehten wir uns um.
Es war Ryo. Ausgerechnet. Falls er trotz der Dunkelheit etwas gesehen hatte, was er nicht unbedingt sehen sollte, ließ er sich das zumindest nicht anmerken. „Deine Schwester ist hier und klingt ziemlich aufgelöst." berichtete er sachlich und zu mir gewandt, fügte er hinzu. „Takeru ist auch dabei …"
Taichi und ich tauschten einen kurzen Blick aus und verständigten uns mit Hilfe der wortlosen Kommunikation zu der wir manchmal fähig waren. Ich weiß auch nicht genau wie es funktionierte, aber mit Taichi ging es eben manchmal, dass wir uns nur ansehen mussten um zu wissen, was der andere dachte. Er wollte wissen, ob es okay war diese ganze Kuss-Sache auf später zu verschieben und erstmal seinen Pflichten als großer Bruder nachzukommen ohne dass ich ihn erschlagen würde oder einen plötzlichen Gedächtnisschwund erlitt und vergaß was während der letzten halben Stunde passiert war.
Mehr als nur ein bisschen verwirrt, nickte ich also und wollte Taichi nach drinnen folgen, der beunruhigt aussah und vorgelaufen war, doch Ryo hielt mich zurück.
„Matt, Matt, Matt", schüttelte er gespielt erschüttert den Kopf als ich an ihm vorbeiging und feixte.
Sein Tonfall veranlasste mich dazu spontan stehen zubleiben.
Argh, scheiße, natürlich hatte er was gesehen … und selbst wenn er uns nicht in voller Aktion erlebt hatte, vermutlich hatte Taichis und mein völlig wirres Auftreten ausgereicht um uns sofort aufs schwerste verdächtig zu machen.
Angeklagter Yamato – sie sind beschuldigt der leidenschaftlichen Küsserei auf einer Terrasse, des versuchten Rumknutschens in schwerwiegendem Falle und der abscheulichen romantische Sülzerei. Was haben sie zu ihrer Verteidigung zu sagen?!
„Also, das hätte ich nicht von dir gedacht", fuhr Ryo fort und schnalzte mit der Zunge. „Ich bin schockiert, ich bin entsetzt!"
„Was? Wieso?"
„Du warst ganze zwanzig Minuten alleine mit Taichi hier draußen und ihr seid beide noch komplett angezogen? Also, das wäre mir nicht passiert …" Er grinste. „Und dass nachdem du soviel Wodka intus hattest …" Er seufzte tragisch.
„Vielleicht wären wir ja weiter gekommen, wenn wir nicht gestört worden wären", giftete ich zurück und ignorierte das Blut, das mir vor lauter Verlegenheit ins Gesicht schoss.
„Ich hatte ein mieses Timing, was?" fragte er zu meiner Überraschung in aufrichtig entschuldigendem Tonfall. „Ich hätte ja nicht gestört, aber die Kleine klang, als wäre es wirklich wichtig."
„Schon okay …"
Ich ließ mich gegen die Wand hinter mir sinken, weil meine Knie plötzlich weich wurden. Hier … genau hier, hatte ich mich eben noch Taichi an den Hals geworfen. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich noch seinen einzigartigen Geruch an mir wahrnehmen, der überall an mir haftete, um mich herum in der Luft schwebte und mich einfach nicht mehr losließ.
„Hey, was zum …?", sagte Ryo plötzlich und machte ein paar Schritte in den Garten hinein. „Ist das nicht … wie hieß er doch gleich?" Neugierig beugte er sich nach unten.
„… Kiro?" Verdammt … den hatte ich ja komplett vergessen.
Auf gewissen Art und Weise musste ich ihm vermutlich dankbar sein … denn wäre er nicht gewesen, dann wäre Taichi vielleicht nicht so ausgerastet und nie so weit gegangen und das alles wäre nicht passiert. Na ja … man möge mir verzeihen, wenn meine Dankbarkeit sich trotzdem sehr in Grenzen hielt.
„Ja, genau …", kam Ryos Stimme verblüfft aus der Dunkelheit, „was ist denn mit dem passiert?"
„Äh … der Alkohol", bemerkte ich schnell. Was ja auch stimmte. „Er hat ziemlich viel getrunken. Mehr als ich."
„Wie kommt es überhaupt, dass du noch so gut auf den Beinen bist?" fragte er interessiert. „Ehrlich gesagt hätte ich nicht erwartet, dass du sonderlich viel verträgst."
Was soll ich sagen … er hatte Recht und mein Verhältnis zu Alkohol war etwas seltsam. Es lief eine ganze Weile gut, so dass ich fast nichts davon bemerkte und dann wenn sich genug davon in meinem Körper angesammelt hatte, dann … na ja … konnte es passieren, dass es mich innerhalb von ein paar Sekunden umhaute.
„Mehr als Kiro vermutlich schon", war alles was ich erwiderte. Ryo kannte schon genug Schwächen von mir, noch eine mehr musste da nicht unbedingt sein.
„Ach was …?" Es klang skeptisch, aber ich verkniff mir jede weitere Äußerung dazu, sondern sagte nur: „Ich sollte jetzt auch rein … mein Bruder und so", bevor ich mich eilends aus dem Staub machte. Auch wenn Ryo nur eine hohle Tunte war … manchmal war er erschreckend scharfsichtig.
Als ich nach drinnen kam, erwartete mich allerdings eine Überraschung.
Das bis vor kurzem noch völlig überfüllte Wohnzimmer und die Küche waren grade dabei sich völlig überstürzt zu leeren und die ganzen Menschenmassen, die eben noch alles belagert hatten, waren grade dabei sich fluchtartig ihren Weg nach draußen zu bahnen. Aus den Lautsprecherboxen kam plötzlich ziemlich gedämpfte Musik, die den rasanten Abmarsch mit einem Hauch von leichter Melancholie untermalte. Irritiert blickte ich nach rechts und nach links, wurde angerempelt und beinah umgerannt und hielt dabei verzweifelt Ausschau nach Taichi.
„Was ist denn hier los? Ist das Bier alle?" fragte Ryo hinter mir irritiert.
Ich zuckte nur mit den Schultern, da ich auch nicht mehr wusste, aber registrierte aus den Augenwinkeln, dass er Kiro mit sich geschleift hatte und diesen jetzt mit einem dumpfen Plumps auf die Couch fallen ließ. Sehr human von ihm …
Da sich das Wohnzimmer immer mehr und mehr leerte, wurde es langsam etwas übersichtlicher und endlich entdeckte ich auch den vertrauten, braunen Haarbusch in dem ganzen Chaos. Mein Herz machte einen kleinen verräterischen Hüpfer und ich merkte wie alles in mir seltsam weich und wattig wurde, einfach nur weil ich ihn sah … aber sofort verbat ich mir jegliche Gefühle dieser Art, denn irgendwie hatte ich das dumpfe Gefühl, dass im Moment nicht der richtige Ort und die richtige Zeit war um weiter Lippengymnastik mit Taichi zu betreiben.
Kari und Tk standen bei ihm. Ich registriert erleichtert, dass es offenbar beiden gut ging, denn sie betrachteten höchst interessiert das Geschehen um sie herum, während Tais Gesicht dagegen einen Ausdruck reinster Panik trug. Leicht beunruhigt bahnte ich mir meinen Weg durch das einem Schlachtfeld nicht unähnliche Wohnzimmer.
„Was ist los?" fragte ich als ich endlich bei ihnen angekommen war. „Was macht ihr überhaupt hier?" mein Blick wanderte automatisch zu Tk. „Weiß Papa, dass ihr hier seid?"
Die Kleinen schüttelten synchron den Kopf, ohne auch nur im Geringsten schuldbewusst auszusehen, dass sie mitten in der Nacht aus unserer Wohnung getürmt waren. „Wir haben ja versucht bei euch anzurufen, aber es ist niemand drangegangen", erklärte mein Bruder logisch. „Außerdem war es ein Notfall", fügte Kari hinzu.
„Notfall? Könntest du dich mal präzisieren? Brennt unser Haus?"
„Nein."
„Liegt jemand im sterben?"
„Nein."
„Ein Präsident ist erschossen worden?"
„Nein."
„Lass mich mal", mischte sich Ryo begeistert von dem Ratespiel ein. „Wie viele Wörter sind es? Kommt ein E drin vor?"
Ich rollte wortlos mit den Augen. Schön, jetzt wusste ich definitiv, dass er einen an der Klatsche hatte, aber das war im Moment ja nicht wirklich das was mich interessierte.
„Es ist eine Katastrophe", unterbrach Taichi uns in diesem Moment mit Grabesstimme.
Automatisch flogen all unsere Gesichter zu ihm.
„Was ist denn los?" fragte ich, jetzt doch langsam ein bisschen beunruhigt.
Er gab ein leises, verzweifeltes Stöhnen von sich. „Meine Eltern! Sie sind auf dem Weg hier her! Bei uns ist niemand ans Telefon gegangen – ich nehme an, wir hatten die Musik zu laut, deshalb haben sie Kari auf dem Handy angerufen. Sie … sie sind im Morgengrauen wieder da."
„Aber ich dachte, sie wollten erst übermorgen wiederkommen?" stellte Ryo überflüssigerweise fest.
„Das dachte ich doch auch …", er ruderte hektisch mit den Armen, „keine Ahnung was sich da geändert hat!"
Kari und Tk zuckten simultan mit den Schultern, also wussten sie offenbar auch nicht mehr.
Ich dagegen ließ meinen Blick nachdenklich über das Wohnzimmer gleiten … die umgeworfenen Stühle, zertretene Chipskrümel, umgekippten Gläser, herumstehenden Bierflaschen, die unidentifizierbaren Flecken auf dem Teppich, die vollen Aschenbecher und die paar Schnapsleichen, die nett dekoriert auf dem Boden oder der Couch lagen und friedlich vor sich hinschnarchten … und seufzte leise. „Auf jeden Fall ist mir jetzt klar, wieso sich grade alle so überstürzt auf den Weg gemacht haben, als die Rede aufs aufräumen kam …"
„Ich bin tot …", hauchte Taichi und sah ziemlich blass um die Nase aus, „so was von tot. Mein Leben ist keinen müden Yen mehr wert, wenn meine Mutter das sieht." Ich konnte ihm nicht widersprechen.
„Na ja, wir sind doch jetzt wenigstens zu fünft", bemerkte Ryo optimistisch wie immer. „In ein paar Stunden könnten wir das Gröbste geschafft haben."
Ehrlich … ich wollte ja keine negativen Schwingungen verbreiten, aber wir hätten einen biochemischen Reinigungstrupp von der Regierung gebraucht um das alles restlos zu beseitigen. Am besten einen Reinigungstrupp, der kompromisslos das gesamte Haus gesprengt und neu wieder aufgebaut hätte.
„Falsch - wir sind nur zu dritt", stellte ich richtig. „Die beiden Kleinen müssen sofort wieder zurück. Mein Vater macht sich sonst Sorgen morgen früh, wenn sie nicht da sind." Außerdem verriet mir ein kurzer Blick auf die Uhr, dass es schon fast halb drei war. Was im Klartext hieß, dass ich in weniger als vier Stunden schon wieder aufstehen und zur Schule musste. Aber das erwähnte ich lieber nicht.
„Klein?" Tk warf mir einen schrägen Blick zu, den ich ignorierte. Selbst wenn sein aktuelles, rasantes Wachstum darauf hindeutete, dass er vermutlich über kurz oder lang größer sein würde als ich … er war und blieb mein kleiner Bruder und damit Ende der Diskussion.
Taichi nickte langsam und schien sich aus seiner Erstarrung wieder etwas zu lösen. „Okay, alles klar …" er atmete tief durch und legte ein paar Finger an die Stirn. „Lasst mich nachdenken, wie wir mein jämmerliches Leben noch um ein paar Jahre verlängern können. Tk und Kari müssen wieder zurück zu euch nachhause. Schafft ihr das alleine?" Er warf den Beiden einen kurzen Blick und zu und sie nickten zögernd. Zum Glück wohnten Taichi und ich nur wenige Straßen auseinander, so dass sie echt keinen weiten Weg hatten. „Und wir", damit meinte er mich und Ryo, „schmeißen erstmal die restlichen Leute raus und machen uns ans aufräumen – es geht vorrangig um die Küche und das Wohnzimmer und …" er hielt inne und sah uns entschuldigend an. „Es tut mir echt leid, dass ich euch jetzt so einplane … ihr müsst nicht, wenn ihr nicht wollt, ehrlich. Ich schaffe es im Notfall auch alleine, denke ich … es ist nur …"
„Ist schon okay …", unterbrach ich ihn. „Das ist macht nichts … wirklich."
Er wandte den Kopf und sah mich an. Irgendwie hatten wir das bisher beide mehr oder weniger vermieden und mehr die anderen drei angesehen … das war das erste Mal, dass er mich direkt anblickte. Ich spürte wie ich rot wurde unter seinem Blick. Zum Glück ging es ihm auch nicht besser. Wir waren kaum einen halben Meter voneinander entfernt und starrten uns einfach mit hochroten Köpfen an wie zwei Idioten. Ob er auch grade daran denken musste, wie wir vor weniger als zehn Minuten auf der Terrasse gestanden hatten …? Ob er sich noch so genau daran erinnern konnte wie meine Lippen schmeckten, wie ich es bei ihm konnte?
„Danke …" murmelte er.
„Ich helfe dir natürlich auch!" schaltete Ryo sich beinah vorwurfsvoll ein. Natürlich … wie hatten wir ihn nur vergessen können. Bevor ich einen sarkastischen Kommentar dazu loslassen konnte, drückte er mir schon das altbekannte Glas mit verdächtig alkoholisch riechendem Inhalt in die Hand und grinste mir zu. „Hier. Damit du wach bleibst."
Ich warf ihm einen schnellen Blick zu, ließ meinen Blick über das Schlachtfeld vor uns gleiten … blickte zu Tk und Kari … zu Ryo … zurück zu Taichi …
Dann machte ich die Augen zu und schluckte es einfach in einem Zug herunter.
Was soll ich sagen … die nächsten Stunden flogen einfach an mir vorbei. Oder besser ich schwamm irgendwie durch sie hindurch, als ob ich mich durch eine zähe Masse vorwärts bewegen würde, die nur undeutlich und schwammig um mich herum existierte. Vielleicht lag es an dem überhöhten Alkoholgehalt in meinem Blut, vielleicht auch an meiner völligen Übermüdung oder daran, dass ich viel zu wenig gegessen hatte heute … und vielleicht … vielleicht lag es an den vielen Metern Distanz, die zwischen mir und Taichi lagen, während wir Möbel hin und her schoben … den schnellen, heimlichen Blicken, die wir austauschten, während wir versuchten Krümel aus der Couchgarnitur zu saugen … den Millimetern, die unsere Hände entfernt waren, während wir gleichzeitig nach einem umgekippten Glas angelten, dass unter den Tisch gerollt war … und die doch nicht ausreichten, dass ich einfach nach ihm greifen und ihn festhalten konnte.
Meine letzte klare Erinnerung von diesem Abend war, dass ich vor dem Wohnzimmerregal stand und so müde war, dass ich ins taumeln geriet. Meine innere Uhr versicherte mir nachdrücklich, dass ich schon ungefähr fünf Stunden überfällig war mit dem schlafen gehen und es jetzt wirklich höchste Zeit war. Ein Arm schlang sich grade noch rechtzeitig, bevor ich nach hinten sank um meine Taille und hielt mich fest. Gleichgültig wo wir waren und wer uns in diesem Moment sehen konnte, ließ ich mich schlapp und mit geschlossenen Augen gegen Taichi sinken. Seine Wärme war so einlullend und angenehm, dass ich nur für alle Ewigkeit bleiben wollte wo ich war und auf der Stelle einschlafen.
„Müde?" flüsterte er.
Selbst nicken war mir grade zu anstrengend, deshalb gab ich nur einen leisen bestätigenden Laut von mir.
„Ich auch", bekannte er leise.
Im Hintergrund dudelte schon seit ungefähr seit einer Stunde „Underneath it all" in einer endlosen Dauerschleife und Taichi sang leise ein paar Zeilen davon mit, während er seinen Kopf auf meine Schulter legte.
„Das wollte ich dir die ganze Zeit schon sagen … aber ich wusste nicht wie …"
„Hm? Was …?"
„You´re really lovely …", summte er direkt in mein Ohr und ich konnte beinah spüren wie er dabei grinste. Unwillkürlich musste ich lächeln, egal wie müde ich auch war und ein Teil der Anspannung und Unsicherheit, die mich die letzten Stunden über nervös gemacht und runter gezogen hatte, fiel von mir ab. „Es tut mir leid", murmelte er weiter. „Alles, meine ich … der Abend hätte irgendwie anders laufen sollen, nicht wahr?"
Ich wusste was er meinte.
Da war Augenblick auf der Terrasse, den keiner von uns einfach so vergessen wollte und der alles zwischen uns verändert hatte …
… und gleichzeitig hingen wir jetzt irgendwo im Niemandsland zwischen Freundschaft und Liebe fest, mitten auf einer wackeligen Hängebrücke im Himalaja um mal eine halbwegs sinnvolle Allegorie zu finden, und wussten nicht ob wir jetzt vor oder zurück wollten und ob wir es überhaupt jemals schaffen würden sicher über diesen Abgrund zu kommen. Außerdem hatte ich natürlich panische Höhenangst wenn man so will, klammerte mich einfach nur haltlos an dem wackeligen Geländer fest und weigerte mich auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Ich würde meine Reisegesellschaft verklagen, wenn ich jemals irgendwo ankam soviel war sicher.
Ich hatte zuviel Angst davor, was wir kaputt machen konnten, wenn wir jetzt weitergingen, hatte Angst davor, meinen besten Freund zu verlieren, ohne den ich nicht leben konnte und wusste gleichzeitig, dass es nicht mehr ausreichte … mir einfach nicht mehr genug war nur sein Freund zu sein. Ich wollte mehr - spätestens seit seinem Kuss war mir das überdeutlich bewusst. Ich wollte Dinge mit Taichi tun, die man normalerweise nicht mit seinen Freunden tun will. Ich wollte einfach … mehr.
Ob er genauso unsicher war wie ich? Ob ihm das Ganze auch soviel Angst machte? Und ob er mich auch so gerne noch einmal geküsst hätte?
„Was immer jetzt auch passiert …", sagte er impulsiv und schlang die Arme fester um mich. Einen Augenblick war er ganz still und alles was ich spürte war seinen warmen Atem auf meiner Haut.
„… bitte, hör niemals auf mein bester Freund zu sein."
Ich drehte mich langsam zu ihm um, so dass seine Hände nun auf meinem Rücken lagen und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. „Glaub mir …", flüsterte ich, „bevor das passiert, schnalle ich mir eher zwei Kokosnüsse vor die Brust und tanze Cha-cha-cha …"
Vielleicht musste ich meine Reisegesellschaft doch nicht verklagen. Vielleicht hatten er und ich doch Chancen jemals heil auf die andere Seite zu gelangen.
So lange … so lange Taichi nur meine Hand festhielt, während wir uns über die verdammte Hängebrücke weiter vorwärts hangelten.
tbc
