Der fünfte Tag
"NEEEIIIIIN! Lass es. Rühr ihn nicht an, er darf nicht sterben!"
"Potter, fünf Punkte Abzug für ungebührliches Verhalten."
Die Worte waren aus meinem Mund, bevor ich wirklich wach war. Jahrelange Angewohnheiten kann man nicht so ohne weiteres ablegen. Dann wurde mir bewusst, wo wir waren und was ich gerade gesagt hatte.
Selten war ich so schnell aufgestanden. Dabei ignorierte ich einfach, dass mein Körper gar nicht begeistert über mein schnelles Aufstehen war. Ich hastete zu Harrys Bett, um zu schauen, ob der Junge aufgewacht oder wieder in seinen Albtraum versunken war.
Er blickte mich an, blinzelte und schaute sich dann um. Er schien wirklich wach zu sein und zu realisieren, wo er war.
"Ich glaube kaum, dass Sie mir Punkte abziehen können, schließlich sind wir nicht in Hogwarts."
Und als Allererstes suchte er wie immer Streit mit mir. Was mir nur recht war. Es hielt ihn von weiteren dummen Gedanken ab.
"Das glauben Sie vielleicht. Noch ist das Schuljahr nicht zu Ende, und ich bin immer noch Ihr Lehrer."
An seiner rebellischen Miene konnte ich sehen, was er von meinem Kommentar hielt.
Jetzt war die Gelegenheit, seinen Gesundheitszustand zu prüfen.
"Halten Sie still, ich muss Sie kurz untersuchen!"
Ich nahm meinen Zauberstab und ließ ihn prüfend an seinem Körper vorbeifahren. Harry war noch sehr schwach, und der Arm war noch nicht verheilt. Die Nachwirkungen der verschiedenen Flüche eingerechnet würde es selbst bei guter Pflege durch einen erfahrenen Heiler einige Zeit dauern, bis er wieder gesund wäre. Wenn ich die Möglichkeit hätte, einen wirklich effektiven Trank zu brauen, dann wäre es etwas anderes. Aber die hatte ich nicht und ich ersparte es mir, dieser Tatsache hinterherzutrauern.
Ich beschloss, dass Harry fit genug war, um wenigstens kurzzeitig aufzustehen.
Der Junge beäugte mich misstrauisch, während ich ihn untersuchte, hielt aber seinen Mund. So konnte ich ihm noch einige Instruktionen geben.
"Gehen Sie ins Bad, duschen. Wenn Sie fertig sind, dann kommen Sie in die Küche, und es gibt Frühstück. Alles Weitere besprechen wir dann."
"Wie bin ich eigentlich hier hingekommen?"
Waren meine Anweisungen nicht eindeutig genug gewesen? Musste er immer noch einmal nachhaken?
"Sie erfahren alles nach dem Frühstück. Und jetzt ab ins Bad."
Ich konnte genau erkennen, dass sich Harry eine Antwort verbiss. Er starrte mich nur noch einmal an und trollte sich dann ins Badezimmer. Den Moment nutzte ich und ging hinunter in die Küche. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es gerade mal sechs Uhr morgens war. Also hatten wir noch etwas Zeit zu einem Gespräch, bevor die Dursleys aufwachen würden.
Nach meinem Gespräch mit Petunia konnte ich sie leider nicht mehr mit einem Zauber belegen; wenn Lilys Schwester das herausfände, würde sie versuchen, mir die Hölle heiß zu machen.
Nicht, dass sie auch nur den Hauch einer Chance hätte, aber ich wollte sie nicht bekämpfen.
Also machte ich Frühstück und deckte den Tisch.
Auch wenn man anderes von mir behauptet: Ich weiß, wie man Muggelgeräte bedient.
Den Kaffee machte ich besonders stark. Wie ich Harry kannte, würde ich ihn in der nächsten Stunde dringend brauchen.
Als ich seine Schritte auf der Treppe hörte, drehte ich mich um. Er bewegte sich langsam und vorsichtig, fast schon tastend. Seine Augen waren starr auf die vor ihm liegenden Treppenstufen gerichtet. Er hatte wohl Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und herunterzufallen.
Wäre ich so edel wie Dumbledore oder so hilfsbereit wie Lupin, dann wäre ich zu ihm geeilt und hätte ihm geholfen. Aber es würde Harry nicht wirklich nutzen. Im Kampf gegen Voldemort konnte er keine Hilfe gebrauchen; seine Freunde waren für ihn in den letzten Jahren eher eine Last geworden, da sie immer in den ungünstigsten Momenten zu sterben pflegten.
Sirius Black und Ron Weasley waren da keine Ausnahmen. Wenn der Weasley-Spross nicht von Malfoy getötet und dadurch Harry von seinem Ziel, Voldemort, nicht abgelenkt worden wäre, dann wäre dieser jetzt tot.
Aber auf mich hörte ja keiner. Ich war ja nur der mürrische Tränkemeister.
So stand ich nun in der Küche und wartete, dass Harry die Treppe bewältigte. Als er es geschafft hatte, ließ er sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.
Ich setzte ihm ein Glas mit Wasser verdünnten Orangensaft vor und packte ihm einen Toast, mit einer dünnen Schicht Butter und Geflügelaufschnitt, auf den Teller. Mehr würde sein Magen noch nicht vertragen.
Harry saß nur da, die Ellbogen auf dem Tisch, und seinen Kopf verbarg er in seinen Händen. Das Essen ignorierte er.
Ich nahm den Stuhl gegenüber und leistete ihm Gesellschaft. Dabei ließ ich ihn keinen Moment aus den Augen.
Endlich hob er seinen Kopf und schaute mich an.
"Wie kommt es, dass ich in Dudleys Bett wach geworden bin? Und wieso sind Sie hier? Ich hätte nie gedacht, Sie in einer Muggelwohnung zu sehen."
"Woran können Sie sich erinnern, Potter? Denken Sie, ich will Ihnen eine unendlich lange Geschichte erzählen, die mit Ihrer Einschulung beginnt?"
"Meine Erinnerungen kommen mir wie ein schrecklicher Albtraum vor."
Harry zögerte, weiter zu sprechen, er schien zu erwarten, dass ich ihm entgegenkommen oder sogar helfen würde. Aber er müsste mich eigentlich lang genug kennen, um zu wissen, dass ich ihm nie helfen würde.
Stattdessen drückte ich ihm das Glas Orangensaft in seine Hand und nötigte ihn, einen Schluck zu trinken, sagte aber nichts.
Schließlich überwand er sich und redete weiter.
"Ich erinnere mich an die Schlacht. Ich stand Voldemort schon beinah gegenüber, als Ron von einem Todesser angegriffen wurde. Ich versuchte, ihn zu retten, kam aber zu spät. Ron Weasley wurde durch ein ‚Avada Kedavra' getötet, und ich konnte ihm nicht helfen. Aber der Todesser hatte nicht lange Freude daran, denn ich tötete ihn." In seiner Stimme lag eine grimmige Befriedigung, die so gar nicht zu dem Image des strahlenden Helden zu passen schien. Im Gegensatz zu mir hatte er nicht erkannt, dass es sich bei dem Todesser um Lucius Malfoy gehandelt hatte.
"Leider war ich nicht schnell genug, denn einige andere Todesser überwältigten mich und apparierten mit mir in Voldemorts Versteck. Dort wurde ich gefoltert. Sie spielten auch eine Rolle darin, aber da ich jetzt hier sitze, werden Sie mich wohl gerettet haben."
"Ihre Erinnerungen stimmen, ich apparierte mit Ihnen in der Nähe des Ligusterwegs. Sie waren mehr als drei Tage bewusstlos."
"Warum sind wir nicht wieder in Hogwarts?"
Harry wirkte so leblos, so als ob er alle Gefühle verloren hatte. Das war gar nicht gut. Ich musste es ändern, denn wenn er keine Hoffnung hatte, dann würde er zwar kämpfen, hatte aber keine Chance zu siegen.
"Weil ich es nicht riskieren konnte, Sie alleine zu lassen. Ich weiß nicht, wer überlebt hat, und wenn die Falschen überlebt haben, dann werden sie es mir sehr übel nehmen, dass ich Professor Trelawney getötet habe. Und ich habe keine Lust, von den Dementoren geküsst zu werden."
Jetzt hob er den Kopf und sah mich an. Ich schien sein Interesse geweckt zu haben.
"Warum haben Sie die Wahrsagelehrerin umgebracht?"
"Die Verteidiger Hogwarts werden es wohl nicht bemerkt haben, da sie auf die Angreifer geachtet hatten, aber da ich auf der anderen Seite stand, habe ich gesehen, wie Trelawney Dumbledore ein Messer in den Rücken gejagt hatte."
Harry sog laut die Luft ein und lehnte sich überrascht zurück.
Ich hatte dieses Verhalten von Trelawney auch nicht erwartet, besonders da Dumbledore sie immer geschützt hatte. Aber wer konnte schon hinter die Masken andrer Menschen schauen? Fragte sich nur, womit Voldemort Trelawney geködert hatte und ob er von ihr den wahren Text der Prophezeiung erfahren hatte. Die Frage war auch, ob Dumbledore ihr jemals etwas über den Inhalt ihrer Vorhersage erzählt hatte.
"Ich konnte es leider nicht verhindern, dass sie ihn schwer verletzte, aber noch lebt Dumbledore und somit auch die Hoffnung, dass er überlebt."
"Woher wissen Sie, dass Dumbledore lebt? Sie haben doch keinen Kontakt zu ihm."
"Stimmt, aber solange die Schutzzauber über diesem Haus intakt sind, solange ist auch Dumbledore am Leben. Er hat den Schutzzauber, kurz nachdem er dich den Dursleys anvertraut hatte, zusammen mit Edgar Filibuster gewirkt. Und dieser Zauber hält nur, solange einer der beiden Sprecher lebt."
"Also ist Edgar Filibuster tot?"
"Ja, er war schon sehr alt, als er zusammen mit Dumbledore diesen Zauber gesprochen hatte. Leider gibt es keinen anderen Zauberer mehr, der ähnlich wirksame Schutzzauber wirken könnte."
"Deswegen musste ich also jeden Sommer zurückkehren und nicht wegen der Dursleys!"
Wie sollte ich das vernünftig erklären, ohne Dumbledore in den Rücken zu fallen?
"Ja und nein, der Zauber ist an deine Verwandtschaft mit Petunia Dursley gebunden worden. Es bestand ja die Möglichkeit, dass sie umziehen würden. Dort, wo sie wohnt, sind Sie auch sicher. Dass die Dursleys Sie so schlecht behandeln würden, stellte sich leider zu spät raus, da war Filibuster schon tot. Dumbledore hatte keine Wahl mehr und musste Sie bei Ihren Verwandten lassen. Zu groß war die Gefahr, dass Sie auch nach Voldemorts Verschwinden von rachsüchtigen Todessern umgebracht würden."
Ich erzählt dem Jungen gerade eine Halbwahrheit. Die Sache mit dem Schutzzauber stimmte zwar, aber Dumbledore hatte mir nie erzählt, dass er auch nur daran dachte, den Jungen woanders hinzubringen. Auch wenn ich dagegen war, Harry zu schonen, er sollte Dumbledore nicht hassen. Denn dann bestand die Gefahr, dass er die Seite wechselte. Und deswegen log ich ihn an.
"Konnte er denn keinen Geheimniswahrer einsetzen? Dann wäre ich doch von den Dursleys weggekommen."
"Und Sie wären genauso sicher gewesen wie Ihre Eltern. Nein, das war Dumbledore nach dieser Tragödie nicht mehr sicher genug."
Der Hinweis, dass auch ein Geheimniswahrer nicht wirklich sicher war, wirkte. Harry wurde nachdenklich.
Ich beschloss, dass der Junge vorerst genug gehört hatte und nun Einiges verarbeiten musste.
"Essen Sie auf, danach können Sie noch zusehen, wie Dudley aufsteht, und dann gehen Sie wieder ins Bett. Sie sind noch zu schwach, um viel zu unternehmen."
Aber Harry schien, wo seine Lebensgeister wieder geweckt waren, wieder genau so nervig zu sein wie zuvor. Jedenfalls bombardierte er mich mit Fragen, die ich nicht beantworten konnte.
"Und wie geht es weiter? Wissen Sie, was aus Hermine geworden ist? Hat sie überlebt?"
Ich war Zauberer, kein Hellseher. Und diese Zunft war dank Trelawney sehr in Verruf geraten.
"Erst einmal müssen Sie sich noch etwas erholen, bevor wir weitere Schritte planen können. Und ich kann Ihnen nicht sagen, wer von unserer Seite überlebt hat, ich war zu sehr damit beschäftigt, Ihr Leben zu retten."
Harry versank in Schweigen. Was sollte er auch sagen?
Gedankenverloren leerte er seinen Teller. Bis die Geräusche aus dem Flur verrieten, dass Dudley wach war und versuchte, die Besenkammer zu verlassen. Es war ein wirklich grandioser Anblick, wie er sich durch die für seine Verhältnisse winzige Türe zu quetschen versuchte.
Als Harry dies sah, erschien ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, das allerdings nicht seine Augen erreichte.
Er war nicht mehr der strahlende Held, der seinen Weg ging. Er hatte sich, nachdem Sirius Black durch Voldemorts Anhänger ermordet worden war, immer mehr zu einem verbitterten jungen Mann entwickelt, der nur noch durch seinen Hass und seine Rachegefühle aufrecht gehalten wurde.
Rache für den Tod seiner Freunde. Rache für die Zerstörung seiner Welt. Hass, weil er durch seine Existenz zu einer Gefahr für seine Freunde geworden war.
Ich wusste genau, wie er fühlte. Hatte ich doch in seinem Alter Ähnliches empfunden. Ich wollte damals Rache für den Tod meiner Mutter, Rache, weil Voldemort meinen Vater verführt und zum Todesser gemacht hatte. Ich hasste mich selbst, weil ich den Tod meiner Mutter nicht hatte verhindern können.
Damals war ich zu Dumbledore gegangen und hatte mich entschieden. Es war nicht irgendein Filmstar aus der Muggelwelt, der mich dazu gebracht hatte, sondern mein Wunsch nach Rache. Deswegen entschied ich mich, für Dumbledore zu spionieren und alles über Voldemort und seine Schergen herauszubekommen. Doch im Gegensatz zu Harry hatte ich sogar noch eine Wahl gehabt.
Aber um meine Spionagetätigkeit zu schützen, musste ich eine Maske anlegen. Die Maske des verbitterten, zynischen, sarkastischen Zaubertränkemeisters. Und im Laufe der Jahre hatte sich das Gesicht hinter der Maske aufgelöst, und ich wurde zu einem verbitterten, zynischen, sarkastischen Zaubertränkemeister. Nicht, dass es mich störte, so hatte ich wenigstens meine Ruhe.
Harry hatte niemals eine Wahl gehabt. Er war von Anfang an dazu ausersehen, der Retter der Zauberwelt zu werden, ohne etwas daran ändern zu können.
Und jetzt saßen wir da und sahen dem erbärmlichen, fetten Dudley dabei zu, wie er sich durch die Wohnung quälte, und konnten beide nicht wirklich darüber lachen. Scheißwelt.
Ihr wisst schon... mit einigen Kommentaren macht das Weiterschreiben noch mehr Spaß...
