Es war mitten in der Nacht, als Kai plötzlich erwachte. Er wußte im ersten Augenblick gar nicht, wo er sich befand, doch dann kam ihm die Erinnerung wieder, daß Tysons Familie ihn und den Rest ihrer Freunde dazu eingeladen hatte, bei ihnen zu übernachten.
Forschend blickte sich der Junge mit dem graublauen Haar um und entdeckte die schlafenden Gestalten seiner Teamgefährten und ihrer Freunde. Jeder der Jungen und Mädchen schien tief und fest zu schlafen.
Doch als Kai sich schon fragte, was ihn denn geweckt haben mochte, wenn alles so ruhig und friedlich schien, erblickte er auf einmal neben sich ein leeres Bett.
Tysons Bett.
Anscheinend hatte der Blauhaarige nicht schlafen können; er war wohl zu besorgt um seine Freunde und Schutzbefohlenen in Dragokalya. Außerdem beschäftigte ihn dieser Schatten, der die wunderschöne Welt bedrohte und sie vernichten wollte.
Dies alles hatte schon den ganzen Tag über an Tyson genagt, was Kai natürlich nicht entgangen war, obwohl der Jüngere versucht hatte, sich seine tiefe Besorgnis und sein stetes Grübeln nicht anmerken zu lassen.
Doch der Teamcaptain der Bladebreakers war nicht so leicht zu täuschen, vor allem dann nicht, wenn es um sein Team – seine Freunde – ging.
Kai seufzte lautlos, als er erneut Sorge um seinen Freund in sich emporsteigen fühlte.
Tyson war ihm bei ihrem ersten Zusammentreffen vor nunmehr fast drei Jahren stets so unbekümmert und sorglos erschienen; doch heute konnte er kaum mehr glauben, wie leicht der Blauhaarige ihn damals hatte täuschen können.
Hinter dessen Fröhlichkeit verbargen sich Wärme, Herzensgüte und Anteilnahme, aber auch ein scharfer Verstand. Dies hatte er zuerst gut verbergen können, doch mittlerweile wußten alle von Tysons Freunden über diese Charaktereigenschaften des blauhaarigen Jungen Bescheid.
Sie alle wußten aber ebenso wie Kai auch, daß Tyson sich oft schon zuviel Sorgen um andere machte und dabei sich selbst und die eigenen Bedürfnisse vergaß. Diese Eigenschaft war zwar bewundernswert, denn Selbstlosigkeit war eine seltene Gabe – dennoch bereitete sie dem Teamchef der Bladebreakers nun große Sorgen, denn er spürte, wie sein Freund wieder darin verfiel.
Außerdem wußte Kai, daß Tyson etwas vor ihnen allen verbarg, was ihn ziemlich beschäftigte. Und es machte ihm Sorgen, denn es war untypisch für den blauhaarigen Jungen, Geheimnisse vor seinen Freunden zu haben. Es paßte ganz einfach nicht zu ihm.
Wieder seufzte Kai lautlos in sich hinein, dann erhob er sich leise, um die Anderen nicht zu wecken. Zuerst zögerte er und überlegte, wo sich Tyson jetzt wohl aufhalten würde, doch dann trat er mit geschmeidigen Schritten zum Fenster.
Es war, als zöge ihn etwas dorthin.
Der Junge mit den graublauen Haaren blickte aus dem Fenster, durch welches das Mondlicht fiel und ihm den Weg zu der Person wies, die er gesucht hatte.
Tyson stand inmitten des kleinen Hofes, der das Anwesen der Kanimoyas umgab, und blickte hinauf zu den Sternen, als erhoffe er sich von ihnen einen Rat oder ihre Unterstützung. Trotz der nächtlichen Kühle trug er nur seine Pyjamahose.
Wie Kai ihn dort so stehen sah, in silbriges Mondlicht getaucht, wirkte sein Freund auf ihn wunderschön. Während er so still dastand und sein dunkelblaues Haar im sachten Wind wehte, schien er ein Wesen aus einer anderen Welt zu sein.
Kais Herz begann bei diesem Anblick schneller zu schlagen, als wolle es ihm etwas ganz Bestimmtes verdeutlichen. Doch obwohl ein ihm bisher unbekanntes, aber sehr warmes Gefühl in seinem Herzen aufstieg, wußte der Junge noch nicht, was dies zu bedeuten hatte.
Alles, was er wußte, war, daß er seinen jüngeren Freund wunderschön fand.
Auf einmal regte sich Tyson und Kai konnte sehen, wie aus seinem Rücken große Schwingen wuchsen, die wenig später ihre ganze beeindruckende Breite erreichten, als Tyson sie elegant entfaltete. Die dunkelblau schimmernden Flügel reckten sich gen Himmel, als wolle Tyson sich im nächsten Augenblick in die Luft erheben und davonfliegen.
In der Dunkelheit der Nacht leuchteten die weichen, blauen Federn noch heller als am Tage, wo Kai sie schon überaus faszinierend gefunden hatte. Doch nun, wo das Mondlicht seinen silbernen Schein auf sie herabgoß, erstrahlten die Flügel besonders schön und zogen Kai in ihren Bann.
Er fühlte sich, als habe er das seltene Glück, einen wahren Engel vor sich zu sehen.
Denn auch wenn Tyson ihnen allen erklärt hatte, daß die wirkliche Ursache für seine weiten Schwingen in der Tatsache begründet lag, daß er ein Nachkomme der Linie der Em'Shalsar war, so empfand Kai doch tief in seinem Inneren die unverrückbare Wahrheit – Tyson war ein Engel.
Jedenfalls für ihn.
Doch während er am Fenster stand und Tyson beobachtete, kam Kai immer stärker das Gefühl, daß sein blauhaariger Freund sich unsicher und traurig fühlte. Und wie um seine Befürchtungen zu untermauern, ließ Tyson im nächsten Moment die wunderschönen Flügel hängen, als wäre er erschöpft.
Dies versetzte Kai in Sorge.
Also drehte er sich vom Fenster weg und schritt leise in Richtung Tür. Dabei nahm er im Vorbeigehen noch die Decke von seinem Bett mit, denn obwohl es noch Sommer war, wurden die Nächte doch schon recht kühl. Und Tyson fror sehr leicht, was der ältere Junge noch von den World Champion Ships in Rußland her wußte. Dann verließ er geräuschlos den Raum.
Er bemerkte nicht, daß ihn mehrere Augenpaare aufmerksam beobachten.
Als Kai aus der Tür verschwunden war, richtete sich Max in seinem Bett auf und sah sorgenvoll zum Fenster, an dem sein Teamchef eben noch gestanden hatte. Er wußte genau, was Kai derartig besorgt hatten schauen lassen, während dieser aus dem Fenster blickte.
Auch Max verspürte durch Tysons gewaltige Aufgabe und die Gefahren und Sorgen, die dieser damit auf sich nahm, große Angst um seinen Freund. Doch er hatte keine Ahnung, was er tun konnte, um seinem besten Freund zu helfen, daher überließ er es Kai, mit Tyson zu reden.
Vielleicht konnte dieser ihrem Teamgefährten weitere Einzelheiten entlocken oder Tyson wenigstens dazu bringen, für eine gewisse Zeit abzuschalten und sich zu entspannen. Max hoffte, daß Kais Sensibilität, die dieser in hohem Maße besaß, jedoch nicht oft zeigte, Tysons helfen würde.
„Mach dir nicht so viele Sorgen, Max", flüsterte plötzlich Rays Stimme neben ihm. Sich umdrehend, sah der blonde Junge seinen chinesischen Freund vor sich stehen und ihn aus seinen goldenen Augen betrachten.
Bevor er etwas erwidern konnte, wandte Ray kurz den Kopf zum Fenster und sagte dann leise: „Ich denke, Kai wird Tyson helfen können. Wenn Tyson spürt, daß wir bei ihm sind, geht es ihm bestimmt besser. Die Probleme in Dragokalya sind groß, doch er ist nicht allein, das sollte er wissen. Kai wird ihm das sicher am besten beibringen können."
„Ansonsten sage ich es ihm immer wieder, bis er es nicht wieder vergißt", flüsterte Max. „Wir sind doch ein Team. Und wir haben uns noch nie im Stich gelassen, also auch jetzt nicht."
Indem er zum Fenster sah, fügte Max noch hinzu: „Verlaß dich auf uns, Tyson. Wir lassen dich nicht im Stich, egal was kommt. Freunde für immer, wie wir es uns vor deiner Abreise geschworen haben."
Dann erklang auf einmal Roberts Stimme gedämpft durch den Saal, in dem sie alle schliefen. „Schlaft weiter. Tyson weiß, daß wir hinter ihm stehen. Also macht euch nicht so große Sorgen um ihn. Er hat nur ein paar Probleme zu wälzen und dabei hilft es, die Stille zu suchen. Doch ich bin sicher, er wird letztendlich zu uns kommen."
Ray und Max schauten leicht verwundert auf, daß Robert wach war. Doch als sie ihre Blicke schweifen ließen, erkannten sie, daß dieser nicht der Einzigste war, der außer ihnen nicht schlafen konnte. Auch einige andere ihrer Freunde blickten sie an, wobei sich in jedem Augenpaar das gleiche spiegelte – Sorge, aber auch das Vertrauen in ihre Freundschaft. Einer Freundschaft, die so eng geworden war, daß sie alle bei Problemen zusammen-hielten. Und die ihnen auch bei Tysons Sorge um Dragokalya eine Stütze sein würde, auf die der Blauhaarige sich vertrauensvoll verlassen konnte.
Währenddessen war Kai nach draußen gelangt und stand nun in der Tür zum Hof, von wo aus er Tyson schweigend betrachtete. Der Blauhaarige stand noch an der gleichen Stelle, an der ihn Kai aus dem Zimmer hatte stehen sehen. Kai seufzte leise in sich hinein und ging dann mit langsamen Schritten auf seinen Freund zu.
Durch jahrelange Übung waren seine Bewegungen so geschmeidig und fast unhörbar geworden, so daß Kai nicht sagen konnte, ob Tyson ihn bemerkt hatte. Der blauhaarige Junge reagierte jedenfalls nicht auf seine Anwesenheit, falls er sie mitbekommen hatte. Vielmehr stand er völlig reglos da und betrachtete scheinbar völlig versunken die Millionen an Sternen, die am Nachthimmel standen und auf ihn herabfunkelten.
Schweigend beobachtete Kai seinen Teamgefährten, als er nähergekommen war und setzte sich schließlich nicht weit von ihm entfernt auf einen Stein.
Falls Tyson mit ihm reden wollte, würde dieser es sicher irgendwann tun; doch Kai wollte die Versunkenheit seines Freundes nicht stören. Was auch immer Tyson hier heraus in die Nacht getrieben haben mochte, war vielleicht zu wichtig, um das Nachdenken darüber einfach zu unterbrechen.
Doch der blauhaarige Junge sollte spüren, daß jemand hier war, falls er reden wollte – seine Freunde würden stets für ihn dasein.
So vergingen die Minuten in ruhigem Schweigen, während Tyson weiter die Sterne betrachtete und dabei von Kai beobachtet wurde. Der ältere Junge empfand dabei einen ganz besonderen Zauber, als wäre diese Nacht etwas Besonderes.
Auf jeden Fall war der Junge, der nicht weit von ihm entfernt dastand und mit seinen zu ihrer vollen Größe ausgebreiteten Engelsschwingen das silbrigschimmernde Licht des Mondes auffing, das ihn geheimnisvoll und magisch erleuchtete, etwas ganz Besonderes. Das spürte Kai ganz deutlich.
So plötzlich, daß Kai im ersten Moment leicht erschrocken zusammenfuhr, erklang auf einmal Tysons Stimme. Sie war leise und nachdenklich, aber auch mit einem Hauch von Sehnsucht unterlegt.
„Weißt du, Kai, ich habe in letzter Zeit oft die Sterne betrachtet."
Nach diesen Worten schwieg Tyson für einige Momente und da der Angesprochene nicht wußte, was genau er darauf erwidern sollte, blieb auch er stumm. Außerdem war der ältere Junge etwas verwundert, daß Tyson wußte, daß er es war, der bei ihm war, obwohl er ihm noch immer den Rücken zuwandte. Kai war sich durch die Versunkenheit des Blauhaarigen schon nicht sicher gewesen, daß dieser ihn überhaupt bemerkt hatte – aber anscheinend war der Zeitpunkt seiner Ankunft Tyson ebensowenig entgangen wie die Person, die ihn besuchte.
Bevor sich Kai nähere Gedanken darüber machen konnte, sprach Tyson weiter.
„Jedesmal, wenn Dragoon und ich in den letzten Monaten unser Nachtlager aufgeschlagen haben, lag ich da und betrachtete sie am Himmel. Dann habe ich mich oft gefragt, ob auch ihr zu den gleichen Sternen aufseht und dabei manchmal an mich denkt."
Wieder verstummte der blauhaarige Junge kurz, doch dann wandte er sich plötzlich Kai zu und blickte diesen aus seinen sanften dunklen Augen so freundlich an, so daß der Ältere sich ganz umhüllt von Wärme und Freundschaft fühlte. Immer noch brachte er kein Wort heraus, da er spürte, daß Tyson ihm etwas klarmachen wollte, von dem der Blauhaarige aber anscheinend selbst nicht so genau wußte, wie er es ausdrücken sollte.
Dann wandte sich Tyson abrupt wieder dem Sternenhimmel zu. Nachdenklich sah er zu den funkelnden Lichtern auf und fuhr leise, fast ein wenig verlegen, fort: „Immer, wenn ich mir die Sterne ansah, mußte ich unwillkürlich an euch denken. Sie sind so weit weg, daß man ihre Entfernung kaum begreifen kann. Dennoch sind sie immer da; jede Nacht leuchten sie auf uns herab und schenken Trost und ein Gefühl von Geborgenheit. Ihr Licht brachte mir die Gewißheit, nicht allein zu sein – auch wenn Dragoon manchmal die einzige Person war, die bei mir war."
Tyson verstummte, als wolle er Kai die Gelegenheit geben, über seine Worte nachzudenken. Der ältere Junge versuchte zu verstehen, was Tyson ihm sagen wollte und kurz darauf glaubte er zu wissen, was der Blauhaarige meinte. Und als wenn Tyson spüren konnte, daß ihn Kai verstanden hatte, drehte er sich wieder zu ihm um und nickte leicht.
Dann sagte er: „Ja, Kai. Für mich seid ihr wie diese Sterne dort oben am Himmel. Manchmal unglaublich weit weg, aber dennoch stets bei mir.
In meinem Herzen wart ihr immer da, obwohl ich euch nicht sehen konnte.
Ihr habt mir stets den Mut gegeben, weiterzumachen, denn wenn ich – was in einigen Situationen durchaus vorkam – nahe daran war, zu verzagen oder auch so nicht mehr weiterwußte, dann war es mir, als würdet ihr mir aufmunternd zurufen, daß ich nicht aufgeben soll.
Ich...ich habe euch während der letzten Monate sehr vermißt, Kai.
Unsere Freunde bei den White Tigers, den All Starz und den Majestics.
Aber besonders euch Vier, mein Team.
Kennys Klugheit, die uns schon bei den Champion Ships so oft zum Sieg verholfen hat. Rays ruhiges Wesen, wo ich immer sicher war, er würde stets da sein, um mir zu helfen. Oder Max. Seine Fröhlichkeit, aber auch sein unerschütterlicher Wille haben mir oft gefehlt, wenn ich unsicher war, was zu tun sei.
Doch am meisten...am meisten hast du mir dort in Dragokalya gefehlt, Kai.
Du warst schon immer der geborene Anführer, daher bist du auch unser Teamchef. Ich bin sicher, du hättest auch dort nicht eine Sekunde gezögert, zu handeln.
Ich habe von Anfang an dir besonders bewundert, wie du mit überraschenden und neuen Situationen umgehen kannst; es ist, als würdest du schon im Voraus wissen, wie du am besten reagieren mußt.
Immer gelassen und ruhig.
Vorbereitet auch auf das Unerwartete.
Das kann ich einfach nicht, Kai. Und das macht mir Angst."
Die letzten Worten kamen nur noch flüsternd über Tysons Lippen, dennoch konnte Kai sie klar und deutlich vernehmen. Und nun wurde ihm langsam bewußt, was seinen sonst so fröhlichen Freund derart bedrückte.
Dieser verschränkte die nackten Arme vor seinem Oberkörper, als wäre ihm kalt. Und wirklich zitterte er leicht in der nächtlichen Kühle. Die Geste ließ Tyson auf einmal schutzbedürftig und etwas verloren aussehen und Kai spürte Mitgefühl in sich aufsteigen.
Tyson fühlte sich anscheinend etwas überfordert.
Außerdem schien er seine Fähigkeiten und Gaben – die während des letzten Jahres noch Zuwachs durch Magie erhalten hatten – zu unterschätzen, was Kai unwillkürlich lächeln ließ, denn der Blauhaarige wirkte sonst stets so, als wüßte er genau, wie gut er war.
Während Kai noch überlegte, was er zu Tysons Worten sagen sollte, streckte dieser auf einmal seine weiten schimmernden Flügel aus und schloß dann kurz die Augen. Da er diese Geste heute schon einmal gesehen hatte, wußte Kai, was nun kommen würde – Tyson ließ seine Schwingen verschwinden. Und wirklich, wenige Augenblicke darauf leuchteten die Federn kurz hell auf, dann zerstoben sie auf einmal in glitzernde Punkte aus Energie, die wie Sternenstaub zu Boden regneten.
Doch eine dunkelblaue Feder hatte sich nicht aufgelöst, sondern schwebte sanft und leicht durch die Luft auf Kai zu, der unwillkürlich danach griff. Das Gefühl, das ihn durchströmte, als er die schimmernde Feder berührte, war unglaublich – sie war so weich und wirkte zerbrechlich. Und dennoch strahlte sie gleichzeitig auch eine starke Macht und Magie aus, die förmlich mit den Händen greifbar schien.
Einige Augenblicke blickte Kai schweigend die weiche, dunkelblaue Feder in seiner Hand an, dann steckte er sie ein und lächelte er weich. Sein Freund hatte also Angst davor, nicht genug vorbereitet zu sein auf das, was auf ihn wartete? Nun, dann würde ihm Kai mal sagen, wie er die ganze Sache beurteilte.
Leise erhob sich der Junge mit dem graublauen Haar von seinem Sitzplatz und trat auf seinen jüngeren Freund zu. Bei diesem angekommen, überraschte Kai Tyson damit, daß er ihm behutsam seine Bettdecke um die Schultern legte. Diese Geste war so beschützend, daß Tyson ganz verwundert aufblickte, denn das hatte er nun wahrlich nicht erwartet.
Auch wenn Kai während der letzten Wochen vor seiner Abreise nach Dragokalya ein wirklich enger Freund geworden war, so schien doch sein ernstes Wesen diese wärmende Sanftheit, mit der er ihn jetzt behandelte, auszuschließen. Doch Tyson erkannte jetzt, daß er noch nicht alles über Kai zu wissen schien.
Der Ältere zeigte eine ungewöhnliche Wärme, die Tyson förmlich mit der Bettdecke in Geborgenheit einhüllte, als Kai diese enger um den Blauhaarigen zusammenzog, damit dieser besser vor der Kälte geschützt war.
„Kai", hauchte Tyson ganz verwundert; mehr brachte er nicht heraus angesichts der seltsamen Handlung seines Teamcaptains.
„Weißt du noch, was du damals zu mir gesagt hast, als wir in Rußland angetreten sind?", erklang Kais fragende Stimme. „Vor den World Champion Ships. Als ich euch erzählt hatte, was in meiner Vergangenheit geschehen war."
Tyson nickte nur schweigend.
Als wenn er diesen Tag jemals würde vergessen können! Es war der Tag gewesen, an dem Kai endlich ein vollständiges Mitglied der Bladebreakers geworden war, da er sich ihnen endlich ganz anvertraut hatte.
„Das gleiche sage ich jetzt dir, Tyson", fuhr Kai fort.
„Vertrau auf deine innere Stärke, denn diese besitzt du wahrlich in hohem Maße.
Die Stärke, die, welche dir wichtig sind, zu schützen. Die Stärke, alle um dich herum fröhlich zu machen oder ihnen durch deine Herzenswärme ein wenig mehr Glück zu schenken, als man sich vorzustellen wagte.
Tyson, auch wenn du jetzt ein wenig unsicher bist, da dir dieser Gegner schwieriger scheint als die, gegen die du bis jetzt angetreten bist – gib nicht auf!
Das würde nicht zu dir passen.
Außerdem bist du nicht allein, denn auch wenn ich noch nicht weiß, wie wir das tun können, so werden wir dir doch alle bei deinem Kampf um Dragokalya immer zur Seite stehen. Du weißt doch, wie unser Motto lautet – gemeinsam sind wir stark!
Du hast mir damals beigebracht, wie wundervoll es ist, Freunde zu haben, denen man alles anvertrauen kann. Aus dem einfachen Grund, da man sich sicher sein kann, sie werden immer für dich dasein.
Nun sage ich dir, vertraue darauf! Vertraue darauf und alles wird möglich sein!"
Mit diesen Worten nahm Kai Tyson fest, aber doch sehr sanft, in seine Arme und drückte den Jüngeren kurz an sich.
Der Blauhaarige, der vollkommen überrascht war von dem, was Kai ihm gesagt hatte, ließ sich instinktiv in diese freundschaftliche Umarmung fallen, die ihm gleichzeitig Schutz und Kraft schenkte. Die Wärme, die von Kai ausging, drang bis tief in sein Herz und gab ihm neue Hoffnung.
Außerdem ließ sie seinen angeborenen Optimismus zurückkehren.
Dies bewirkte, daß Tyson seine Zweifel hinter sich lassen konnte und nun etwas befreiter in die nahe Zukunft blicken konnte.
Für einen langen Moment drückte sich Tyson dankbar an seinen älteren Freund, genoß dessen ungewohnt beschützende Haltung ihm gegenüber und spürte, wie sein Mut und seine innere Kraft wiederkehrten.
Dann flüsterte kaum hörbar: „Ich danke dir, Kai. Ich wußte nicht, wie sehr ich ein paar aufmunternde Worte gebraucht habe. Doch du hast mal wieder bewiesen, daß du ganz zu recht der Captain unseres Teams bist. Danke für deine Hilfe, Kai."
Als Antwort darauf schlossen sich die Arme des älteren Jungen für einen Augenblick noch etwas fester um ihn herum, so als wolle Kai ihm verdeutlichen, daß er jederzeit auf ihn zählen konnte. Ob der Junge wußte, wie sehr er Tyson damit half?
Dann lösten sich die zwei Freunde wieder aus ihrer Umarmung und lächelten sich leicht verlegen an. Es war ungewöhnlich, daß sie so sanft miteinander umgingen, doch keiner der Beiden wollte diese neue Ebene ihrer Freundschaft wieder missen; nun, da sie diese entdeckt hatten.
Es gab ihnen Kraft.
Und diese würden sie sicher bald brauchen.
Sehr bald sogar.
Auf einmal strich Kai Tyson vorsichtig über das seidige Haar. Es war eine sanfte Geste, die ebenfalls neu für den Jungen mit dem graublauen Haar war. Doch es fühlte sich richtig für ihn an und daher hielt er sich auch nicht zurück. Er hatte durch seine Freunde gelernt, diesen Gefühlen freien Lauf zu lassen und sie nicht hinter einer Mauer aus Zurückhaltung oder Abwehr zu verbergen.
Der ältere Junge gab aber nicht nur wegen diesem Wissen um das Vertrauen seinen Gefährten gegenüber seinem Gefühl nach, sondern auch, weil er wußte, daß Tyson noch immer etwas bedrückte.
Ob er es ihm sagen würde?
„Willst du mir erzählen, was dich noch beschäftigt, Tyson?", wollte er leise wissen. Der Angesprochene sah Kai leicht verwundert an, dann lächelte er weich. Es war nicht sein sonstiges strahlendhelles Lächeln, welches alle in seiner Umgebung stets zu einer gleichlautenden Antwort verleitete – es war eine neue Art zu lächeln.
Warm und dankbar, aber auch mit ernsteren Gefühlen unterlegt.
Tieferen Gefühlen.
„Ich hätte wissen müssen, daß du mich durchschaust, Kai", erwiderte Tyson schließlich. „Vor dir etwas zu verbergen, ist unmöglich, oder?"
Kai blickte seinen Freund daraufhin nur mit seinen kastanienbraunen Augen besorgt an, während er schweigend verharrte. Er spürte förmlich, wie es in Tyson kämpfte. Einerseits war dieser nur zu gern bereit, ihm zu erzählen, was ihm Sorgen machte – andererseits wollte der Blauhaarige ihn aber nicht mit seinen Problemen belasten.
Schließlich antwortete Tyson leise, aber bestimmt.
„Laß mir noch ein wenig Zeit, ja? Bitte. Ich verspreche, daß ich es dir – euch allen – erzählen werde. Doch ich muß mir vorher noch über Einiges klarwerden. Ist das in Ordnung?"
Die dunkelblauen Augen sahen Kai fragend, aber auch eindeutig bittend an. Daher zuckte dieser nur mit den Schultern und nickte dann stumm. Er konnte Tyson nicht verübeln, daß dieser erst für sich allein zu einer klaren Sicht der Dinge zu kommen versuchte – er hätte es schließlich nicht anders gemacht.
„Ja, das ist in Ordnung. Ich wollte dich auch nicht bedrängen, Tyson. Du hast sicher Vieles zu bedenken, nachdem, was heute geschehen ist. Du solltest dir aber sicher sein, daß du von uns jederzeit Hilfe erwarten kannst. Das wollte ich dir nur sagen."
Kais verständnisvolle Antwort erleichterte Tyson sichtlich, denn er lächelte dankbar.
„Ja, ich weiß, daß ich auf euch zählen kann, Kai. Danke.", erwiderte er blauhaarige Junge dem Älteren.
„Dann laß uns jetzt wieder reingehen, sonst kommst du morgen früh wieder nicht aus den Federn. Ich kenn dich doch, du Langschläfer", neckte Kai seinen jüngeren Teamgefährten, während er ihn leicht lächelnd betrachtete.
Ein herzliches Grinsen erschien auf Tysons Zügen, welche, wie Kai mit leichtem Wehmut bemerkt hatte, während des letztes Jahres so viel von ihrer jugendlichen Naivität verloren hatten und daher erwachsener und markanter schienen.
Doch das Lächeln war das gleiche geblieben – voller Wärme und von innen heraus strahlend. Es war ein Gefühl vom Grunde von Tysons Seele, nur für seine Freunde und seine Familie reserviert – und daher überaus wertvoll.
„Ach ja? Langschläfer also...hmm, wir werden sehen", grinste Tyson seinen Freund und Teamchef nun schelmisch an. Anscheinend bereitete es ihm Freude, mit dem älteren Jungen zu scherzen.
Kai spürte, wie sein Herz einen Satz machte, als Tyson ihn derart anstrahlte – was war nur auf einmal los mit ihm? Schon von Anfang an hatte ihn Tysons Lächeln berührt, doch bis jetzt niemals derart in Aufruhr versetzt.
Rasch verbannte der ältere Junge die verwirrenden Gedanken in seinem Kopf in die letzte Ecke seines Verstandes, nahm Tysons Hand und zog den anderen hinter sich her in Richtung der Kendohalle, die zu ihrem Schlafsaal umfunktioniert worden war.
Und Tyson?
Der war im ersten Moment total verblüfft über Kais ungewohnte Fürsorglichkeit. Daß der andere Junge tief in der Nacht hier draußen nach ihm geschaut hatte, war schon ein Anzeichen für seine Sorge – und ebenso wahrscheinlich auch die der Anderen – um ihn gewesen.
Doch daß Kai ihm so voller Sensibilität Hilfe angeboten und ihn mit freundlichen Worten wieder aufgerichtet hatte, ließ ein warmes Gefühl in dem blauhaarigen Jungen erblühen. Am schönsten war es für Tyson jedoch gewesen, daß Kai ihn so voller Wärme umarmt hatte – in jenem Augenblick hatte er sich leicht und ohne Sorgen gefühlt, als wäre alles in bester Ordnung, wenn Kai ihm so nah war.
Dies alles verwirrte Tyson ein wenig, zusätzlich noch zu den Sorgen, die er sich um seine Schutzbefohlenen in Dragokalya machte. Was hatten diese Gefühle zu bedeuten, die in ihm aufgestiegen waren, als Kai ihm eben über die Haare gestrichen hatte? So warm und wohl hatte er sich lange nicht mehr gefühlt.
Und jetzt war es ähnlich – Kais Hand um die seine war warm und kraftvoll, aber dennoch sanft und auch irgendwie tröstlich für den Blauhaarigen.
Der jüngere Bladebreaker schob diese unerwarteten Gedanken und Gefühle jedoch ebenso wie Kai erst einmal zur Seite, da er wahrlich größere Sorgen hatte als die verwirrenden neuen Emotionen für seinen Teamchef.
Gemeinsam liefen die zwei Jugendlichen zurück in den Schlafsaal und wenig später waren sie wieder in ihren Träumen versunken, denn auch wenn Tyson noch nicht völlig beruhigt war, so brauchte er dennoch den Schlaf.
CU, Dragon's Angel
