Part II: Growing concern

Eine Woche war seit jenem Abend auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffes vergangen, als Kai eine unerwartete Seite an seinem Teamgefährten festgestellt hatte. Seitdem beobachtete er Tyson unauffällig und es hatte seinen Verdacht weiter erhärtet, daß der Jüngere eine große Sorge in sich trug, die ihm Traurigkeit und Schmerz verschaffte.

Kai wunderte sich, daß Tyson dieses Problem nicht nur vor ihm – was er hätte verstehen können – verbarg, sondern auch vor dem Rest ihres Teams. Nicht einmal Max hatte er sich anvertraut, dabei waren die beiden die besten Freunde, die man sich vorstellen konnte. Und auch Kenny und Ray bedeutete Tyson viel, wie Kai wußte.
Warum also verbarg Tyson sein Problem vor jedem von ihnen?

Mittlerweile waren sie zurück in Japan angekommen und in einer Woche würde die Schule für die Bladebreakers wieder beginnen. Ray hatte sich entschieden, bei ihnen zu bleiben und nicht nach Asien zurückzukehren. Der junge Chinese hatte eine Bleibe bei Max gefunden und die beiden Jungen waren inzwischen fast wie zwei Brüder.

‚Ob dies Tyson davon abhält, sich einem der Beiden anzuvertrauen?', überlegte Kai, während er im Garten von Hiwatari Mansion stand und auf seine Freunde wartete. Er hatte für die Tage bis zum Schulbeginn ein tägliches Training bei ihm angesetzt, da er wußte, wenn sie erst einmal wieder lernen mußten, war nicht mehr so viel Zeit zum Blade-Training übrig.

‚Max und Ray sind in letzter Zeit auch außerhalb unserer ‚Teamzeit', wie sie es getauft haben, oft zusammen. Vielleicht will er ihnen diese gemeinsame Zeit nicht nehmen, durch das, was auch immer ihn bedrücken mag.
Und Kenny...tja, der Chef mag zwar ein Computergenie sein, aber in zwischenmenschlicher Hinsicht ist er wohl auch nicht unbedingt die Person, die hilfreich bei der Klärung eines persönlichen Problems wäre.'

"Als wenn ich bei diesem Thema Erfahrung hätte", seufzte Kai leise auf und schüttelte den Kopf, bevor er gedankenverloren zum Himmel aufsah. Trotz seiner wirklich nicht gerade von tiefen Freundschaften geprägten Vergangenheit hatte er das Bedürfnis, Tyson beizustehen. Dieses Gefühl hatte ihn zuerst ziemlich überrascht und auch etwas erschreckt, doch mittlerweile akzeptierte er es als einen Bestandteil der Bindung, die sich zwischen Freunden ergab.

Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, bedeutete ihm dieses Gefühl sehr viel, denn es zeigte ihm, daß er wirklich in der Lage dazu war, sich seinen Teamgefährten gegenüber zu öffnen. Nach der langen Zeit der Einsamkeit und seiner wenig schönen Kindheit war es für Kai eine Erleichterung, daß er zu Emotionen wie Freundschaft, Besorgnis und Hilfsbereitschaft gegenüber den anderen Mitgliedern der Bladebreakers fähig war.

Er wollte diese Gefühle nicht mehr unterdrücken – vor allem nicht, da ihm Max, Ray, Kenny – und vor allem Tyson – mehr als einmal bewiesen hatten, daß sie seiner Sorge und Freundschaft würdig waren.

Ein plötzliches lautes Grollen riß Kai aus seiner Grübelei. Blinzelnd blickte er erneut zum Himmel empor und war ein wenig überrascht, als er bemerkte, wie sich am Horizont dunkle Wolken zusammenballten, die auf ein baldiges Gewitter hinwiesen. Auch der Wind hatte merklich aufgefrischt, während der Teamchef der Bladebreakers in seine Gedanken vertieft gewesen war.

In den nächsten Minuten zog sich der Himmel in erschreckender Geschwindigkeit zu und es fing an zu regnen. Erst nur wenige Tropfen, doch schließlich fiel der Regen wie ein dichter, undurchlässiger Vorhang. Grelle Blitze erhellten hin und wieder die Dunkelheit, welche das Gewitter mit sich gebracht hatte – und in immer kürzeren Intervallen rollte der Donner.

Kai hatte sich rasch unter das Vordach der Mansion zurückgezogen, als es zu regnen begann.
Das Haus war ihm nach der Verhaftung seines Großvaters zugefallen und er bewohnte es jetzt mit einigen wenigen Angestellten. Noch hatte er nicht endgültig entschieden, ob er hier auf Dauer leben wollte, denn das Haus beherbergte einige unschöne Erinnerungen an seine Kindheit – doch hatte Kai mit Hilfe seiner vier Freunde in den Tagen, seit sie wieder in Japan waren, einiges im Inneren so verändert, daß es ihm gefiel.

Das Haus gewann durch diese Veränderungen merklich an Wärme hinzu und Kai hatte innerlich erstaunt festgestellt, daß es ihm viel Spaß machte, mit Max, Tyson, Ray und Kenny durch die Räume zu gehen und zu entscheiden, was er so belassen und was er verändern wollte.

Dabei hatte sich auch herausgestellt, daß seine vier Freunde alle einen guten Geschmack hatte, wobei Kai zugab, daß ihm Tysons Ideen oft am besten gefielen, obwohl er sich hütete, dies allzu offen zuzugeben. Doch der Hang des blauhaarigen Bladebreakers zu hellen, warmen Farben und Stoffen, verbunden mit einer Affinität zur Natur erweckten Kais eigenes Bedürfnis nach Offenheit und Wärme. Diese Eigenschaften kannte er noch gar nicht an sich selbst, doch er genoß es, diese Dinge an sich selbst zu entdecken.

Doch die Umgestaltung des Hauses war auch eine gute Gelegenheit, Tyson im Auge zu behalten, um den sich Kai langsam immer mehr Sorgen machte. Nur, wenn sie alle beschäftigt waren mit dem Diskutieren über die Gestaltung eines Raumes oder Ähnlichem, bemerkte Kai oft noch das lebendige Blitzen in den dunkelblauen, ausdrucksstarken Augen.
Daher hatte er auch nicht gezögert, die vier anderen Bladebreakers in all die Pläne miteinzubeziehen, die sich langsam für ihn in Bezug auf Hiwatari Mansion ergaben.

Ein erneutes lautes Donnergrollen riß Kai erneut aus seinen Gedanken und er schaute ein bißchen enttäuscht in den inzwischen stärker prasselnden Regen hinaus, bevor er sich seufzend dem Inneren des Hauses zuwandte.
Das plötzliche Gewitter hatte den Trainings-Plänen der Bladebreakers einen Strich durch die Rechnung gemacht, denn bei dem Wetter hatte Kai nicht vor, seine vier Teamgefährten aus dem Haus zu holen. Vielmehr sollte er wohl das Training absagen, bevor sie sich noch auf den Weg machten.

Daher begab er sich steten Schrittes in das Zimmer, welches ihm innerhalb der Mansion am besten gefiel und welches als Erstes von ihm und seinen Freunden nach Kais Wünschen eingerichtet worden war. Es hatte schon seine Vorteile, daß Kai nicht gerade arm war, daher hatte dies alles nicht lange gedauert – und nun besaß er ein Zimmer, in dem er sich wohlfühlte. Noch nicht zu Hause, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung, das konnte Kai fühlen.

Bei seinem Schreibtisch angelangt, ließ sich Kai in den Stuhl dort fallen und nahm das Telephon zur Hand. Er rief zuerst Max an und sagte seinem blonden Teamgefährten, daß das Training heute aufgrund des Wetters ausfallen würde. Er erhielt von dem anderen Jungen eine fast enttäuschte Reaktion auf diese Nachricht, wobei ihm auffiel, daß seine offenere Art den anderen Bladebreakers gegenüber in der letzten Zeit wohl auch ihre Freundschaft für ihn gestärkt hatte, denn Max fragte sofort an, ob sie nicht trotz des schlechten Wetters zu ihm kommen sollten.

Der Blonde meinte, daß sie auch abseits des Trainings etwas Zeit miteinander verbringen konnten und Kai hörte im Hintergrund Rays Stimme dazu etwas Bestätigendes sagen. Es wärmte Kais Herz, daß sie trotz der Unbequemlichkeiten, die sie auf sich nehmen müßten, wenn sie jetzt während des Gewitters zu ihm herauskommen würden, diese Option so freiwillig anboten. Es zeigte ihm, daß sie ihn wirklich mochten und er fragte sich zum unzähligsten Male, wie er sie so lange hatte von sich stoßen können.
Wie blind er doch gewesen war.
'Aber jetzt nicht mehr', dachte er, bevor er Max antwortete.

„Max, bleibt zu Hause. Dieses Gewitter ist ganz schön heftig und es kam überraschend – wer weiß, wie lange es braucht, bis es wieder aufhört. Ich will nicht, daß ihr vielleicht krank werdet, wenn ihr durch den Regen lauft. Das Training kann warten bis morgen – und ich werde ganz einfach den Abend damit verbringen, mir auszudenken, wie ich euch dafür morgen doppelt schwer trainieren lasse", fügte er noch mit einem leichten Lächeln hinzu.

„Oww...", stöhnte Max theatralisch auf, bevor er in das Lachen einstimmte, das Ray angesichts seiner leidenden Grimasse begonnen hatte. Das fröhliche Lachen drang durch den Hörer zu Kai, dessen eigenes Lächeln sich ebenfalls weitete.

Dann bekam sich Max langsam wieder unter Kontrolle und meinte in gespieltem Entsetzen: „Hab ein wenig Erbarmen mit uns, Kai. Wir können schließlich nicht das Wetter beeinflussen, ok?" „Wir werden sehen", antwortete der ältere Junge nur, bevor er hinzufügte: „Wir sehen uns dann morgen, Max. Seid pünktlich, oder ich lasse euch wirklich ein paar Runden mehr laufen – nur so zum Spaß."

„Aye, aye, oh mein Captain!", war die Antwort des Blonden, woraufhin Kai nur kopfschüttelnd den Hörer auflegte und kurz darüber nachdachte, wieviel Zucker der Jüngere heute wohl schon zu sich genommen hatte, um so aufgedreht zu sein.

Dann meldete Kai auch Kenny noch den Verzicht auf das heutige Training, was den Chef dazu veranlaßte, ihm mitzuteilen, daß er sowieso noch einige Daten zu überprüfen hätte, welche ihre Blades strukturell noch verbessern würden. Kai ließ Kennys enthusiastische Rede über seine Recherche im Datenstrom eine Zeit lang über sich ergehen, bevor er ihn schließlich unterbrach.

„Kenny? So gern ich dir auch noch weiter zuhören würde, ich muß Tyson noch anrufen, sonst macht der sich vielleicht noch in diesem Sturm auf den Weg zu mir...wir sehen uns dann morgen nachmittag zur gewohnten Zeit. Alles klar?", fragte Kai noch abschließend.

„In Ordnung, Kai. Ich bringe die Daten dann morgen mit und zeige euch, wie sie die Stärken eurer Blades individuell erhöhen können", erwiderte das Computergenie der Bladebreakers und unterbrach mit einem „Bis morgen nachmittag" die Verbindung.

Ein drittes Mal wählte Kai die Nummer eines seiner Freunde und wartete leicht ungeduldig, daß jemand abnahm. Er hatte bis zum Schluß damit gewartet, den Blauhaarigen, um den seine Gedanken und Sorgen in den letzten Tagen so oft kreisten, anzurufen. Unwillkürlich erhob sich der Junge mit dem graublauen Haar und wanderte ziellos in seinem Zimmer hin und her.

Das andauernde Klingeln am anderen Ende der Leitung machte ihn unruhig, als endlich jemand abnahm. Doch als Kai die Stimme hörte, welche sich meldete, war er unwillkürlich etwas enttäuscht, denn es war nicht Tyson.
Statt dessen tönte Gramps' laute Stimme an sein Ohr: „Kinomiya Dojo, wer ist da?"

„Hallo, hier ist Kai", meldete sich der Teamchef der Bladebreakers und fügte noch hinzu: „Ich wollte Tyson sprechen, wenn das möglich ist."

„Kai! Schön von dir zu hören", freute sich der grauhaarige alte Mann, bevor er jedoch zugeben mußte: „Tyson ist nicht hier. Er ist vor etwa einer Viertelstunde zu dir aufgebrochen, sagte was von eurem Training."

„Er ist schon los?", wunderte sich Kai, während er sorgenvoll aus seinem Fenster nach draußen in den heftigen Regen schaute. „Aber das Training sollte doch erst in einer halben Stunde sein...ich wollte ihm Bescheid geben, daß er wegen des Sturmes draußen heute nicht zu kommen braucht."

„Tja", erwiderte Gramps, „da wollte er heute wohl mal extra pünktlich sein. In den letzten Tagen war der Junge etwas rastlos, darum habe ich ihn heute auch schon eher losziehen lassen. Vielleicht wollte er zuvor noch woanders hin, ich habe keine Ahnung, Kai. Aber mach dir keine Sorgen, der Junge wird schon einen Platz zum Unterstellen gefunden haben.
Tyson weiß sich zu helfen...", fügte er noch hinzu, als ob er Kais Unbehagen angesichts der Tatsache, daß sein Teamgefährte sich im Moment gerade in den draußen tobenden Naturgewalten aufhielt, spüren konnte.

„Ich wei", seufzte Kai fast unhörbar auf, bevor er die Stimme wieder zu einem verständlichen Level anhob: „Dann bleibt wohl nichts anderes, als zu hoffen, daß er entweder irgendwo Schutz gesucht hat oder hier bald auftaucht. Ich rufe an, wenn letzterer Fall eintreten sollte, Herr Kanimoya."

„Das wäre äußerst freundlich von dir, Kai. Und nenn mich Gramps, du gehörst doch schon fast zur Familie als Freund meines Enkels. Da können wir die lästigen Formalitäten beiseite lassen", klang Gramps' Stimme über die Leitung.

„In Ordnung...Gramps", stimmte Kai mit einem kaum merklichen Zögern zu. Bevor er auflegte, bat er noch: „Sollte Tyson ins Dojo zurückkehren, würden Sie mir dann Bescheid geben? Ich...ich möchte wissen, ob er heil zurückkehrt."

Verlegene Röte war Kai in die Wangen gestiegen, als er diese Bitte äußerte, doch seine Besorgnis um Tysons Sicherheit war ihm inzwischen mehr wert als sein Stolz. Freundschaft bestand auch darin, die Sorge um den Anderen deutlich zu machen.

Am anderen Ende war es kurz still, doch als Gramps sich wieder meldete, war seine Stimme mit einem eindeutig warmen Ton unterlegt. „Ich werde sicherstellen, daß er sich sofort bei dir meldet, sollte er nach Hause kommen, Kai. Es ist schön zu wissen, daß dir die Mitglieder deines Teams so am Herzen liegen, mein Junge."

„Das tun sie", erwiderte Kai leise, bevor er mit einem „Auf Wiederhören" auflegte.

Dann stand er für ein paar Minuten einfach nur mitten im Raum und sah dem Regen dabei zu, wie er, von Windböen an sein Fenster gepeitscht, in dichten Rinnsälen an der Scheibe hinunterfloß.

Als die Uhr auf dem Flur auf einmal schlug, fuhr der Blader zusammen und sah auf die Uhr an seinem Handgelenk, um die Zeit zu überprüfen. Es war mittlerweile schon vier Uhr. Genau die Zeit, welche er für das Training angesetzt hatte.

Wenn Tyson wirklich auf dem Weg zu ihm gewesen war, hätte er mittlerweile angekommen sein müssen.
Besorgt kaute Kai auf seiner Unterlippe herum, während er überlegte, was er tun könnte. Er hatte keine Ahnung, wo Tyson sich aufhielt und der Sturm machte nicht den Anschein, als würde er über kurz oder lang wieder aufhören. Wenn Tyson keinen Unterschlupf gefunden hatte, konnte ihm wer weiß was in dem Toben der Naturgewalten passieren.

Kurz entschlossen verließ Kai raschen Schrittes sein Zimmer und lief die breite Treppe zur Eingangshalle hinunter. Der zog er sich die dicke, wasserfeste Jacke an, welche er vor wenigen Tagen gekauft hatte – während einer der Shoppingtouren, zu denen Max ihn und das gesamte Team mitgeschleift hatte. Doch jetzt würde ihm die Jacke gute Dienste leisten, denn draußen war es sicher kalt und durch den Regen sehr ungemütlich. Nachdem er sich feste Schuhe angezogen hatte, griff sich Kai noch rasch seine Schlüssel und trat dann entschlossen hinaus in den strömenden Regen.

Die Kapuze seiner Jacke überstreifend, ließ er seinen Blick schweifen, innerlich darauf hoffend, daß Tyson jeden Augenblick aus dem Regen auftauchen würde. Doch dem geschah nicht so, daher setzte sich Kai schließlich in Bewegung und folgte dem Weg, den seine Teamgefährten während der letzten Tage immer dann genommen hatten, wenn sie zur Mansion gelangen wollten, die etwas außerhalb der City nahe eines Waldes lag.

Er hatte jedoch nur wenige Meter in Richtung Stadt zurückgelegt, als er auf einmal stoppte und verwirrt die Stirn runzelte. Irgendetwas in ihm sagte ihm, daß dieser Weg der falsche sein würde.
In Richtung City würde er Tyson nicht finden.

Doch wo dann?
Ein wenig Schutz vor dem unvermindert heftig fallenden Regen unter dem Vordach eines der Häuser am Rand der Stadt findend, überlegte Kai, was er nun tun sollte. Sein Verstand sagte, daß er am ehesten die Chance hatte, seinen verlorengegangenen Teamgefährten wiederzufinden, wenn er den Weg abging, den sie alle normalerweise nahmen, wenn sie sich besuchten.

Doch der intuitive, emotionale Teil von ihm beschwor ihn, gerade dies nicht zu tun, sondern seinem Herzen zu folgen, welches ihm eine andere Richtung wies. Während Kai noch unentschlossen dastand, blitzte es mehrmals nacheinander hell über dem Wald nahe der Mansion auf, die der Junge mit dem graublauen Haar gerade noch in Umrissen ausmachen konnte.

Es war wie ein Fingerzeig, die Serie von Blitzen. Sie alle schienen ihm einen Weg zu weisen, den er sonst wahrscheinlich nicht genommen hätte. Irgendetwas jedoch bewog Kai dazu, die Blitze als Wegweiser zu betrachten – vor allem, da sie ihn an Tyson und sein Bit-Biest erinnerten.
Auf eine gewisse Weise stellte dieser Sturm gerade eine Verbindung zu Tyson her, die Kai noch nicht genau begreifen und fassen konnte – doch er setzte sich ohne weiteres Zögern in Richtung des Waldes in Bewegung.

Während der nächsten Minuten eilte Kai, so rasch es ihm möglich war, den Weg entlang, der zu den Klippen nahe des Waldes führen würde. Ein plötzliches instinktives Wissen sagte ihm, daß er Tyson dort finden würde.

Der starke Regen peitschte ihm unablässig ins Gesicht, so als wolle er ihn am Vorwärtskommen hindern, doch Kai ließ sich nicht beirren. Schritt um Schritt kämpfte er sich voran, bis er die ersten Ausläufer des Waldes erreichte. Ein bißchen außer Atem verharrte er kurz unter einem Baum, während er weiterhin den Blick schweifen ließ, um seinen Teamkameraden vielleicht zu entdecken.

Und dann hörte er es.

Zuerst glaubte er an eine Sinnestäuschung, doch die zarten Töne einer wahrlich wunderschönen Melodie waren erneut zu hören, als der heulende Wind für ein paar Sekunden in seiner Intensität nachließ – so, als wolle auch er lauschen.

Nur der Regen prasselte weiterhin wie ein beruhigendes Hintergrundgeräusch zu Boden und machte das Gehen auf dem aufgeweichten Erdboden für Kai etwas schwierig, als er fasziniert nach der Quelle der Musik suchte.

Die Töne schwebten leise und zart an sein Ohr, doch gewannen sie mit jeder Sekunde, welche verstrich, mehr an Stärke und Intensität. Töne woben ineinander und es schien Kai, als würden sie gemeinsam als Melodie lauter, bis man die ihnen innewohnende Stärke fühlen konnte.

So etwas Schönes wie dieses Lied hatte der Teamchef der Bladebreakers noch niemals zuvor in seinem Leben gehört und gebannt lauschte er dem Auf und Ab der fremdartigen Melodie, die sich unwiderruflich in sein Herz einschlich.

Langsam einen Fuß vor den anderen setzend, damit er nicht fiel, suchte sich Kai einen Weg zu den Klippen immer am Waldrand entlang, wo er ein wenig Schutz vor dem Wind hatte.
Er folgte der Melodie und kam schließlich auf der Anhöhe an, von der man, wie er wußte, an wolkenlosen Tagen einen wunderbaren Blick auf das dann spiegelglatte Meer hatte. Im Moment jedoch tobte das Meer unter dem Ansturm des Windes und des unablässig fallenden Regens und wirkte nicht so friedlich, wie Kai es in Erinnerung hatte.

Und hier fand Kai den Verursacher der wunderschönen Melodie, welche ihn so in ihren Bann gezogen hatte. Und er fand die Person, die er eigentlich gesucht hatte.

Tyson.

Der blauhaarige Blader stand nahe der Klippen inmitten des tosenden Sturmes und schien die Naturgewalten kaum zu spüren. Seine Kleidung war vollkommen durchnäßt und klebte an ihm und sein dunkelblaues Haar wehte im Wind.

Und als ob ihn das alles nicht berühren würde, entlockte Tyson einer kleinen silbernen Flöte die faszinierende Melodie, welche trotz ihrer Zartheit selbst das laute Toben des Sturmes überwunden hatte.

Kai spürte beim Anblick des jüngeren Bladers zuerst eine unglaubliche Erleichterung, daß diesem augenscheinlich nichts passiert war – außer, daß er mitten in einem heftigen Sturm an den Klippen stand, von wo aus ihn der Wind jederzeit mehrere Meter hinab ins Meer schleudern konnte.

Dieser Gedanke ließ Kais Herz erstarren, bevor er mehrere Schritte vorwärts eilte, um Tyson auf sichereren Grund zurückzuholen.
Doch bevor er auch nur die Hälfte der Strecke, die zwischen ihnen lag, überwunden hatte, stoppte er plötzlich, als ihm etwas auffiel. Der Wind, der vor einer Minute noch heftig an ihm gezerrt hatte, flaute spürbar ab und auch das Donnergrollen war nur noch in großen Abständen zu hören.
Und im Gegensatz dazu wurde die Melodie, die Tyson auf seiner Flöte spielte, immer intensiver und deutlicher hörbar.

Es war Kai fast, als hingen beide Ereignisse zusammen – als würde Tyson mit der wundervollen klaren Melodie den Sturm beschwichtigen und die Naturgewalten in ihrem Toben besänftigen. Blinzelnd bei diesem Gedanken richtete der Teamcaptain der Bladebreakers den Focus seiner Aufmerksamkeit erneut völlig auf seinen jüngeren Freund.

Und blinzelte erneut, denn um den blauhaarigen Jungen war kaum sichtbar eine dünne Aura zu erkennen, gemischt aus Silbergrau und einem dunklen Kobaltblau. Je intensiver Tyson auf seiner silbernen Flöte spielte, desto stärker schien auch die Aura zu werden – und desto mehr flaute der kurz zuvor noch so ungehemmt tobende Sturm ab.

Voller Erstaunen blickte Kai sich um, als sich nach wenigen weiteren Minuten das Gewitter praktisch aufgelöst und der zuvor dicht fallende Regen sich in ein leichtes Nieseln verwandelt hatte. Er verstand nicht so ganz, was im Moment vor sich ging, doch eine innere Stimme sagte ihm, daß Tyson auf irgendeine Weise damit zu tun hatte, daß der Sturm so plötzlich aufgehört hatte.

Die Melodie, welche Tyson noch immer stetig spielte, war nun klar und deutlich zu vernehmen und sie war wunderschön. Von einer fast überirdischen Qualität – nicht in der Kunst der Darbietung, wie sie zum Beispiel von Starpianisten bei einem Konzert erwartet wurde...sondern vielmehr in der reinen Seele, die in ihr ausgedrückt wurde.

Die Töne, welche ineinander verwoben zum Himmel emporzusteigen schienen, waren zart und filigran, doch zusammen woben sie einen Teppich aus Wärme und Geborgenheit, aus Stärke und verborgener Macht.

Langsam jedoch nahm die Intensität von Tyson Spiel ab und schließlich verging auch der letzte in der Luft hängende Ton, was Kai unwillkürlich betrübte. Er hätte dieser Melodie ewig lauschen können, brachte sie doch soviel ungetrübte Schönheit zum Ausdruck.

Innere Schönheit, die nichts mit Äußerlichkeiten zu tun hatte...es war eine Seele, die bloßgelegt worden war. Nur für wenige Minuten, doch hatte diese Seele es durch ihre Musik geschafft, einen Sturm zu besänftigen...nur durch ihr Spiel.

Als Tyson die Flöte absetzte und leise seufzte, löste sich Kai aus seiner Starre und blickte um sich. Der Regen hatte fast aufgehört, doch von den Bäumen tropfte es mit stetigem leisen Platschen auf den nassen Boden. Das Gras unter seinen Füßen schimmerte mit Regentropfen und die Luft war klar und frisch. Und als Kai den Blick über das Meer gleiten ließ, schimmerte das Wasser im Sonnenlicht, welches nun, nachdem sich die dunklen Wolken verzogen hatte, wieder in voller Kraft strahlte.

Ein großer Regenbogen erschien über dem Meer und Kai bewunderte seine filigrane Schönheit für einen Moment. Er hatte sich nie als Romantiker betrachtet – nicht bei seiner Vergangenheit – doch nachdem er eben gerade Tysons Musik gelauscht hatte, war sein Herz offen für die Schönheit um ihn herum. Daher ließ er den Regenbogen ohne Zögern auf sich wirken, genoß die Frische, die immer noch einem starken Regen vorherrschte.

Dann jedoch wandte er sich wieder Tyson zu und trat die restlichen Meter an diesen heran. Er sah das Lächeln auf dem Gesicht des Jüngeren, doch es war nicht so fröhlich wie es Kai sonst von dem Blauhaarigen gewohnt war. Vielmehr war es ebenso wie der Blick der ozeangleichen, dunkelblauen Augen ein Mix aus Sehnsucht, Wehmut, Traurigkeit und Resignation.

‚Was ist nur los mit ihm? So traurig kenne ich Tyson gar nicht', dachte Kai, als er die Emotionen im Blick des anderen Bladers mit sinkendem Herzen erkannte. Der Teamchef der Bladebreakers legte Tyson behutsam eine Hand auf die breite Schulter, da er ihn nicht erschrecken wollte. Doch Tyson drehte nur den Kopf ein wenig und sagte leise: „Hallo, Kai."

‚Wußte er, daß ich hier bin?', fuhr es Kai durch den Sinn, bevor er antwortete. „Hallo. Ich hab' nach dir gesucht, Tyson."

„Weil ich nicht pünktlich zum Training kam? Es tut mir leid, Kai, daß..."

„Hör auf, dich zu entschuldigen, Ty. Ja, ich kam wegen des Trainings, doch ich hatte es abgesagt, als so plötzlich der Sturm aufkam. Doch als ich im Dojo anrief, sagte dein Großvater, du wärest schon eine Weile weg. Als du jedoch nicht zum verabredeten Zeitpunkt da warst, da habe...ich...", Kai stockte.

Verlegenheit rötete seine Wangen erneut, als er versuchte, seine Besorgnis um Tyson auszudrücken. Das fiel ihm noch immer nicht leicht, obwohl er mittlerweile besser darin geworden war, seine Gefühle zuzulassen. Doch er hatte noch einen langen Weg vor sich, offener zu werden.

Tyson drehte sich zu ihm herum und schaute ihn mit seinen tiefblauen Augen für einen Moment nur schweigend an, als könne er bis tief in seine Seele sehen. Dann erschien ein dankbares Licht in den seelenvollen Tiefen und vertrieb die Schatten darin.

„Du hast dir Sorgen um mich gemacht, Kai?", wollte Tyson leise wissen, woraufhin Kai nur schweigend nickte. Er wußte nicht, was er sagen sollte, daher blieb er auch weiterhin still.

„Danke", flüsterte Tyson, bevor er seinen Blick erneut auf das Meer richtete, als suche er dort nach etwas, das nur er sehen konnte.
Kai, froh darüber, daß ihn Tyson nicht mehr so durchdringend musterte, blickte diesen von der Seite her forschend an. Der Blick des Jüngeren war von einer merkwürdigen Intensität und Kai konnte noch Reste von der Aura um ihn herum spüren, welche er zuvor gesehen hatte.

Doch sichtbar war der Mix aus Kobaltblau und Silbergrau nun nicht mehr, was Kai etwas bedauerte, denn es hatte Tyson eine Schönheit verliehen, welche nicht nur physisch war – sondern fast ätherisch.
Es war dem Teamcaptain der Bladebreakers fast so, als hätte er vor wenigen Minuten einen Einblick in das Wesen des wahren Tyson erhalten. Nicht des manchmal fast hyperaktiven, fröhlichen und etwas verfressenen Jungen – sondern einem sanften und wunderschönen Wesen mit einer großen Sorge, die auf seiner strahlenden Seele lastete.

‚Oh mein Gott, was denke ich hier?', fuhr es Kai erschrocken durch den Sinn. 'Ich habe eben Tyson nicht wirklich als wunderschön bezeichnet, oder? Aber ich... ich kann kaum leugnen, daß er es ist...wenn er so ruhig ist wie jetzt, merkt man erst, wie erwachsen er eigentlich ist. Ganz im Gegensatz zu dem Bild, welches er ständig von sich vermittelt, ist Tyson gar nicht so unvernünftig und kindisch, wie es auf den ersten Blick scheint. Ich glaube, er verbirgt fast soviel hinter einer fröhlichen Maske wie ich bis jetzt hinter einer eisigen, emotionslosen.'

Kai wurde es seinen Gedanken gerissen, als Tyson kaum merklich zu zittern begann. Es wurde dem älteren Blader klar, daß es ungesund für sie Beide sein würde, weiterhin hier draußen herumzustehen. Vor allem für Tyson, dessen Kleidung vollkommen durchnäßt war.

„Tyson, du mußt raus aus den nassen Sachen, sonst erkältest du dich noch", meldete sich Kai besorgt zu Wort, als Tysons Zittern zunahm und der Jüngere sich unbewußt mit den Armen umschlang, als würde ihm dadurch wärmer.

Bei Kais Worten blickte er seinen Teamchef jedoch mit einem kleinen Lächeln an und nickte. „Ich werde nach Hause gehen", begann er, doch Kai unterbrach ihn mit einem Stirnrunzeln.

„Bis du zurück im Dojo bist, dauert es fast zwanzig Minuten, Ty. Bis dahin hast du dir auf jeden Fall eine Erkältung geholt, so, wie du jetzt schon zitterst. Nein, wir gehen zu mir und dort du kriegst etwas Trockenes zum Anziehen und einen heißen Tee. Vielleicht hast du ja Glück und kommst noch einmal davon."

Während er sprach, zog Kai seine Jacke aus und hängte sie Tyson über die Schultern. Bevor der Blauhaarige protestieren konnte, schenkte ihm Kai seinen ‚Keine-Widerrede-oder-dein-nächstes-Training-wird-die-Hölle'-Blick, der jedes Mal Wirkung zeigte. Die Jacke provisorisch schließend, damit Tyson vielleicht ein wenig wärmer wurde, betrachtete Kai seinen Freund mit besorgtem Blick von oben bis unten.

Tysons normalerweise seidig glänzendes mitternachtsblaues Haar klebte ihm in nassen dunklen Strähnen am Gesicht und Hals und ließ Regentropfen unter Kais Jacke rinnen. Seine eigene Jacke, die um ein Vielfaches dünner war, hatte dem Regen nicht viel entgegenzusetzen gehabt und klebte wie die schwarze Jeans nun wie eine zweite Haut an dem schlanken Körper des Bladers.

Es war wirklich Zeit, Tyson ins Trockene zu bringen. Kai hoffte, daß der Jüngere durch seinen ‚Ausflug' nicht krank werden würde.
„Laß uns gehen, desto eher kriegen wir beide warme Sachen", meinte Kai und als Tyson ihm ohne Widerstand folgte, gingen die beiden Teamgefährten raschen Schritten in Richtung von Kais Mansion.

So, ich habe zwar lange gebraucht, um weiterzuschreiben – doch ich hoffe sehr, der Teil war das Warten wert! Ich verspreche mir, mehr Mühe zu geben, damit das nächste Kapitel schneller herauskommt, doch versprochen kann ich leider nichts!

Vielen, vielen lieben Dank für all die lieben Kommis – weiter so! (smile)

CU, Dragon's Angel