Leonel und gil-estel : Mit Denedreth geht es erst in einem der nächsten Kapitel weiter. Jetzt muß erstmal Faramir eine wichtige Entscheidung treffen: Korazir verfolgen oder mit Éowyn sprechen.

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Kapitel 11: Auf Messers Schneide

Faramir wusste, dass er wertvolle Zeit verschenkte. Aber er wusste auch, dass er wahrscheinlich nie wieder Gelegenheit haben würde, mit Éowyn zu reden, wenn er es jetzt nicht tat. Die Intrige seiner Tante würde aufgehen.

„Éowyn, hör mir zu,"sagte er ernst. „Mir ist jetzt eingefallen, warum Denedreth einen Vorteil durch eine Verbindung zwischen Maegweth und mir haben könnte. Hauptmann Anborn, Maegweths Vater ist ein Vetter zweiten Grades von Denedreth. Wenn ich Maegweth heiraten würde, dann wird auch ihre Familie hochadelig. Die ganze Sippe, darunter auch Denedreth, würde davon profitieren."

Éowyn verschränkte die Arme und sah Faramir zweifelnd an. Konnten diese blauen Augen, die so flehend ansahen, lügen?

Faramir legte vorsichtig seine Hände auf ihre Schultern.

„Ich muß jetzt los, sonst werden wir Korazir nie wieder einfangen, und Imrahil wird sterben. Was auch immer passieren wird: du sollst wissen, dass ich dich über alles liebe."

Éowyn sah ihn nur tränenverhangenen Augen an. Ihr Herz sagte ihr, dass Faramir nicht gelogen hatte. Doch sie wollte ihm trotzdem noch nicht so recht trauen. Es gab ja immer noch diese junge Frau namens Maegweth, die ihr eine ziemlich glaubwürdige Geschichte aufgetischt hatte.

Faramir warf einen letzten liebevollen Blick auf sie, während er zu seinem Pferd ging.

„Faramir," flüsterte Éowyn kaum hörbar. Die Tränen liefen jetzt offen über ihr Gesicht.

Éomer, der sich im Hintergrund gehalten hatte, trat jetzt zu ihr. Seine Miene war immer noch finster.

„Wenn du willst, können wir jetzt nach Rohan reiten,"erklärte er grimmig. „Es gibt keinen Grund mehr, Minas Tirith zu betreten."

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Korazir hatte die Meinungsverschiedenheit zwischen seinen Bewachern und den Rohirrim eiskalt ausgenutzt: seine Fesseln hatte er sowieso schon fast durch das Messer gelöst. Ein rascher Ruck, und er war frei. Als Mablung und Damrod ein paar Augenblicke nicht aufpassten, weil sie ihrem Herrn zur Hilfe eilen wollten, ergriff er die Zügel seines Pferdes und die vom Pferd des jungen Harek und ritt davon. Er hielt auf die Wälder Ithiliens zu: er wusste, dass dort seine Männern lauerten.

„Ich glaube, wir werden verfolgt!"rief Harek ängstlich.

Korazir fluchte leise und trieb sein Pferd voran. Er konnte jetzt nicht länger Rücksicht auf den immer noch gefesselten Harek nehmen und er ließ die Zügel von dessen Pferd los: damit würde er schneller sein.

„Aber mein Fürst!" stieß der junge Haradhrim entsetzt hervor.

„Wir holen dich später!"Lautete Korazirs knappe Antwort.

Dieser Junge war jetzt nur unnötiger Ballast für ihn.

Damrod und Mablung hatten Harek schnell erreicht. Aber Korazir war für sie wichtiger und sie ließen den immer noch gefesselten Jungen gehen.

Ein Stück hinter ihnen kam Faramir herangeritten. Harek setzte jetzt alles auf eine Karte: wenn er sich dem jungen Truchseß in den Weg stellte, konnte er so seinem Herrn helfen. So gut es ging, lenkte er mit gefesselten Händen sein Pferd Faramir entgegen.

„Aus dem Weg!" schrie Faramir erschrocken.

War der junge Haradhrim vollkommen verrückt geworden? Er ritt mit vollem Galopp auf ihn zu.

Faramir musste jetzt blitzschnell handeln, sonst würde es einen schrecklichen Unfall geben. Er zog rasch seinen Dolch aus dem Gürtel und warf ihn nach Harek. Der junge Haradhrim wich aus – aber zu spät: Faramirs Dolch traf ihn in den Hals und er sank tödlich getroffen vom Pferd.

Faramir tat es schrecklich leid um den tollkühnen Jungen, aber ihm war keine andere Wahl geblieben. Er stieg schnell ab und zog seinen Dolch aus der Wunde.

Harek starrte ihn mit seinen großen dunklen Augen an, sprechen konnte er nicht mehr. Er würde an seinem eigenen Blut ersticken.

„Du bist ein tapferer Junge,"sagte Faramir leise zu ihm.

In den Augen des Haradhrim konnte er so etwas wie Dankbarkeit erkennen. Dankbar, dass er die letzten Augenblicke seines Lebens nicht alleine verbringen musste. Dann erstarrte sein Blick: er war tot.

Faramir drückte ihm seufzend die Augen zu. Mehr konnte er nicht tun.

Als er weiterritt, wuchs seine Wut auf Korazir, der diesen Jungen praktisch in den Tod geschickt hatte.

Damrod und Mablung hatten inzwischen den Wald erreicht. Plötzlich sahen sie keine Spur mehr von Korazir.

„Verdammt,"fluchte Damrod leise. „Ich glaube, der Kerl ist uns entwischt."

„Was sollen wir tun?" fragte Mablung unsicher. „Auf Faramir warten?"

„Ja, das sollten wir,"murmelte Damrod.

Sie stiegen von den Pferden ab. Im gleichen Augenblick brach eine Gruppe Haradhrim aus den Büschen hervor. Die beiden Waldläufer hatten keine Chance gegen diese Übermacht. Sie mussten sich ergeben.

Korazir, der sich bei ihnen befand, frohlockte: nun hatte er den Spieß umgedreht. Faramirs treueste Gefährten waren jetzt in seiner Hand. Es würde eine Leichtigkeit sein, den Truchseß selbst gefangenzunehmen.

Faramir, der inzwischen nahe an den Wald gekommen war, sah schon von der Ferne, was geschehen war. Er wusste, dass er sich ergeben musste, sonst würden seine Freunde sterben.

Er stieg von seinem Hengst. Flammenmähne, der Rotfuchs, schnaubte. Auch er schien die Gefahr zu wittern. Faramir redete beruhigend auf elbisch mit ihm. Diesen Rat hatte ihm Aragorn vor einiger Zeit gegeben.

„Hortha, mellon nin, hortha an Minas Tirith!"1 sagte Faramir leise zu Flammenmähne.

Das kluge Tier spitzte die Ohren und galoppierte davon. Der junge Truchseß sah seinem Pferd

bedrückt nach. Dann ging er tapfer auf den Wald zu.

1 „Eile, mein Freund, eile nach Minas Tirith!"(Übers. aus dem Sindarin)