Kapitel 6

Unbekannte Fähigkeiten

Emily hatte sich in den Sessel fallen lassen, wenngleich sie nicht einmal genau wusste, was sie dazu veranlasst hatte, Lupin eine Chance zu geben. Die vielen Jahre auf der Straße hatten sie Fremden gegenüber misstrauisch, ja, beinahe feindselig gemacht, und in diesem Moment wunderte sie sich über sich selbst und darüber, warum sie nicht tat, was sie gestern noch ohne zu zögern getan hätte – einfach durch diese Tür zu schreiten und aus diesem Haus zu verschwinden. Zurückzukehren auf die Straße, allein und einsam...und in drei Tagen war Weihnachten, wie sie an dem kleinen Kalender erkennen konnte, der neben dem Kamin hing.

Eine Weile lang starrte sie auf ihre Hände hinab und fühlte sich immer unbehaglicher. Was sie gerade gehört hatte, war seltsam, aber es überraschte sie nicht so sehr, wie sie es erwartet hätte. Andererseits- was hatte sie schon zu verlieren? Sie lebte auf der Straße und wenn eine Hexe zu sein bedeutete, dass sie über Weihnachten ein Dach über dem Kopf hatte, dann wollte sie gerne eine Hexe sein und diesem Fremden die Möglichkeit geben, ihr zu erklären, wie er zu seiner Meinung kam.

Als sie den Blick wieder hob, bemerkte sie, dass er sie ansah. Sie wusste nicht, warum, aber dieser Blick war ihr kaum unangenehm, doch erinnerte er sie an etwas, das sie selbst nur allzu gut kannte...

„Also. Ich...."begann sie. „Was meinen Sie damit, was sie gerade gesagt haben?" Er holte tief Luft. „Ich kann verstehen, wenn dich all das momentan noch verwirrt"hob er an. „Aber ich glaube, dass du weißt, worauf ich gerade angespielt habe. Du weißt, dass du Fähigkeiten besitzt, die du dir selbst nicht erklären kannst."Er machte eine Pause und wartete, bis sie nickte. „Wie äußern sich diese Fähigkeiten, Emily?"

„Ich...es ist ganz unterschiedlich"begann sie. „Ich kann es nicht kontrollieren. Manchmal kann ich mich vor anderen verbergen, wenn ich verfolgt werde, auch wenn das gestern nicht funktioniert hat. Manchmal kann ich Feuer aus einer Funke erschaffen...ich habe das mal gemacht, als mir im letzten Winter kalt war. Wenn ich besonders wütend bin, dann passieren.. Dinge. Ich weiß nicht, warum aber ich glaube, das ist schon so, seit ich etwa 13 oder 14 war."

„Das ist wilde Magie."sagte Lupin.

„Wilde Magie?"

„Ja. Emily, in dieser Welt gibt es mehr, als die meisten Menschen ahnen und heute ist sie unterteilt in die Welt derer, die wir Muggel nennen, das sind die, die keine magischen Fähigkeiten haben, und die, die sie haben. Hexen und Zauberer. Wir haben über die Jahrhunderte hinweg Mittel und Wege gefunden, uns vor den normalen Menschen zu verbergen. Wir haben eine eigene Regierung, eigene Universitäten und Schulen...Krankenhäuser...aber all das ist vor den Augen der Muggel verborgen.

Das, was du bisher nur als Fabelwesen gekannt hast, gibt es wirklich, aber die Menschen wissen nichts davon. Es kommt sogar vor, dass Menschen, die keine Hexen und Zauberer in ihrer Familie haben, diese Fähigkeiten haben. Alle, die Hexen oder Zauberer sind, werden ausgebildet, wenn sie 11 Jahre alt sind gehen sie auf eine Schule. Für England und Großbritannien ist das Hogwarts."

„Hogwarts?"

„Ja. Es ist schwer, dir das alles auf einmal zu erklären. Da du eine wilde Magierin bist, hat man dich natürlich nicht aufspüren können. Du hast erst mit 13 oder 14 deine Fähigkeiten entwickelt und bist deshalb nie auf eine Zaubererschule gegangen."

„Mir hätte es genügt, wenn ich überhaupt auf eine vernünftige Schule gegangen wäre"erwiderte Emily mit einem leicht sarkastischen Unterton.

Lupin schwieg für einen Moment, dann fuhr er fort. „Wie alt bist du jetzt, Emily. Anfang 20?"

„22, ja."

„Wir können dich nicht mehr in der Schule unterrichten, dafür bist du zu alt, aber wir werden dich auch nicht mehr auf die Straße zurück schicken." „Mal langsam jetzt. Sie meinen ich soll hier bleiben? Hier wohnen?" „Du bist ein Teil unserer Welt Emily. Niemand wird dich aufhalten, wenn du gehen willst, aber ich kann dir nicht garantieren, dass du sicher sein wirst. Auch in dieser Welt gibt es Verbrecher. Und manche von denen haben es auf wilde Magier abgesehen." Er beugte sich ein wenig vor uns lächelte sie an. „Ich weiß, wie es ist, wenn man glaubt, dass niemand für einen da ist." sagte er. „Aber ich weiß auch, dass du hier die Antworten finden wirst, nach denen du suchst. Du bist eine Hexe, Emily, du bist eine von uns. Hier wird dich niemand als unnormal ansehen." Sie sah ihm in die Augen und versuchte so trotzig auszusehen wie ihr dies möglich war, doch das amüsierte Funkeln in Lupins Augen sagte ihr, dass ihr dieser Versuch misslang.

„Schön."sagte sie. „Eigentlich gefällt´s mir hier. Beweisen Sie mir also, dass das, was Sie mir gerade erzählt haben, kein Unsinn ist, und ich bleibe gerne hier. Glauben Sie nicht, ich würde endlich gerne ein Zuhause finden? Einen Ort, an dem ich bleiben kann und an dem man mich akzeptiert?"

Er lächelte wieder.

„Remus"sagte er dann.

„Was?"

„Nenn mich Remus, okay?"

„äh...okay."

Er stand von seinem Sessel auf, dann zog er wieder den hölzernen Stab, den sie kurz zuvor in seiner Hand gesehen hatte. „Was ist das?"

„Ein Zauberstab."

Emily musste sich zusammen nehmen, um ein Lachen zu unterdrücken, aber wieder wirkte ihre Neugier. Remus hob den Stab, machte eine sachte Bewegung und streckte die Hand aus. „Candela inflammare"murmelte er und plötzlich erschien auf seiner geöffneten Handfläche ein kleiner, knisternder Ball aus bläulichem Feuer, dass er wie eine schwebende Kugel vor sich trug.

Emily stand auf.

"Wow.. Was ist das?"

„Ein einfacher Zauber."

„Und sowas kann ich auch?"

„Wenn man es dir beibringt...ja. Und das ist noch lange nicht alles."

Fasziniert starrte Emily auf den kleinen Feuerball. „Wer bringt mir das alles bei? Du hast gerade noch gesagt, ich wäre zu alt, um auf eure Schule zu gehen." Remus machte eine weitere, fließende Bewegung mit seinem Zauberstab und die Feuerkugel erlosch. „Ich"sagte er.