17. Kapitel
Eine Woche später saß Cole trotz der anhaltenden Schwüle im Garten, unter der Kastanie. Seitdem Prue ihm erzählt hatte, dass irgendwo im Haus eine natürliche Kraftquelle existieren musste, hatte er das gesamte Anwesen ausgiebig überprüft und war zu der Überzeugung gekommen, dass es nur die Stelle sein konnte, an der die Kastanie stand. Sie strömte eine Kraft aus, die er fast physisch spüren konnte. Schon vom ersten Tag an, hatte dieser Platz ihn magisch angezogen und er wollte sich die Chance nicht entgehen lassen, seine Kräfte wieder zu erlangen. Er wollte seine Kräfte zurück, seine eigenen Kräfte und zwar so schnell wie möglich. Er benötigte sie nicht nur, um Amy zu helfen, sondern auch, um Danny und sich selbst zu schützen. Er fühlte sich sicherer mit ihnen und er war absolut überzeugt, dass er damit umgehen konnte. Er hatte keinerlei Angst vor ihnen, denn er wusste, dass sie keine Gefahr für ihn darstellen würden.
Als Prue am Nachmittag in den Garten kam, sah er ihr an, dass sie die Sache vollkommen anders sah. Ärgerlich nahm sie Danny vom Boden hoch und sah Cole kalt an. „Wenn du so versessen darauf bist, wieder ein Dämon zu werden, dann ist das deine Sache, aber ich warne dich, Danny damit zu belasten. Das lasse ich nicht zu." Seit Cole ihr von seiner Theorie erzählt hatte, dass der Platz bei der Kastanie die natürliche Kraftquelle sein könnte, hatte sie zu ihrem Schrecken feststellen müssen, wie viel Zeit sie dort zusammen mit Danny verbracht hatte. Es war einer ihrer Lieblingsplätze im Garten und es hatte sie stets beruhigt, auf der Bank unter der Kastanie zu sitzen, wenn sie sich einmal schlecht gefühlt hatte.
„Du übertreibst." teilte Cole ihr mit und eilte hinter ihr her ins Haus. „Es ist völlig ungefährlich für ihn. Es sind nur seine eigenen Kräfte, Phoebes und meine."
Prue blieb stehen und sah ihn durchdringend an. „Und es wird dich wohl kaum wundern, dass genau die letzteren mich beunruhigen."
Cole schüttelte den Kopf. „Es ist nur zu seinen eigenen Schutz, er wird sie beherrschen können, keine Sorge."
„Ich will es aber nicht darauf ankommen lassen." teilte Prue energisch ihm mit. „Und darum wird er nicht mehr dort spielen, ist das klar?"
Da Cole Prue um einen Gefallen bitten wollte, beließ er es dabei und widersprach ihr nicht. „Wie du meinst." erklärte er grimmig.
Prue sah ihn zufrieden von seiner Einsicht an. „Und warum sollte ich heute Nachmittag nun herkommen?" fragte sie versöhnlich.
„Ich denke ich habe die passende Leiche gefunden." teilte er ihr zufrieden mit. „Die Leiche eines Unbekannten ist in der Nähe der Plantage der Wingroves aufgefunden worden. Jetzt musst du ihm nur noch im Leichenschauhaus einen Besuch abstatten."
Prue sah ihn an. „Warum machst du das nicht selber?" fragte sie unwillig.
„Weil sie sich später an mich erinnern könnten." erklärte er und sah sie bittend an. „Also was ist? Du warst mit dem Plan doch einverstanden."
„Mir ist so schnell nichts besseres eingefallen." gab sie zurück.
Trotz Prues Widerwillen machten sie sich schließlich auf den Weg in die Stadt. Es herrschte kaum Verkehr und kurze Zeit später hielt Cole vor einem unscheinbaren Gebäude. Er drehte sich zu Prue um und schärfte ihr ein. „Und merk dir genau wie er aussieht, und versuch herauszufinden, ob er irgendwo Verletzungen hat."
„Das musst du mir nicht extra sagen." erklärte Prue ärgerlich und stieg aus. Ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen ging sie auf das Leichenschauhaus zu.
Kurze darauf führte ein älterer Angestellter sie durch die eiskalten Gänge zu einem Saal. Vor der großen Tür blieben sie stehen.
„Und wie lange vermissen Sie ihren Vater schon?" fragte der Mann höflich, während er sein Schlüsselbund hervorkramte, an dem neben einigen Schlüsseln auch eine Chipkarte hing. Er nahm sie in die Hand und schob sie durch das Schloss neben der Tür.
„Zwei Jahre, und als ich von dem unbekannten Toten gehört habe, wo er gefunden wurde, und was er trug, da bemerkte ich, dass das auf meinen Vater zutreffen könnte, und ich wollte Gewissheit haben." erklärte Prue und blickte den Mann betrübt an. „Und wenn er es nun wirklich ist?" fragte sie aufgebracht und hob ihren Arm, als wolle sie sich ihre Tränen abwischen, dabei hatte diese Geste den einzigen Zweck, den Schlüsselbund des Mannes ein Stück weiter den Gang entlang auf den Boden zu befördern.
Zu Prues Erleichterung bemerkte der Mann davon nichts, denn er kam mit großen Schritten auf sie. Beruhigend legte er seinen Arm auf ihre Schulter und vergaß dabei ganz seinen Schlüsselbund. „Beruhigen Sie sich erst mal," erklärte er sanft. „Viele Leute, die einen Angehörigen vermissen, kommen zu uns um Gewissheit zu bekommen, aber fast immer liegen sie mit ihrer Annahme falsch." Er öffnete die Tür und führte Prue in den Saal.
Prue fühlte sich nicht wohl dabei, den armen Mann zu belügen, aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie folgte ihm in den eisigen Saal und merkte sich genau, auf welche der Schiebetüren in der Wand er zuging. Er warf ihr einen weiteren mitfühlenden Blick zu und zog dann das Fach auf. Ein Toter erschien, der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Prue trat näher und nickte dem Mann gefasst zu. Vorsichtig zog er das Tuch zur Seite und Prue blickte auf das Gesicht eines ihr vollkommen unbekannten Mannes. Er hatte wirres schwarzes Haar und eine Narbe unter dem rechten Auge, die entlang der hohlen Wange bis zu seinem Mund verlief. Sein Alter war anhand seines offensichtlichen Lebenswandels schwer zu bestimmen.
Prue blickte auf und sah den Mann erleichtert an. „Nein, das ist er nicht!" erklärte sie.
Der Mann erwiderte ihren Blick. „Und Sie sind sich ganz sicher, ich meine in den zwei Jahren kann ...." fing er an.
Prue schüttelte den Kopf und sah erneut auf den Toten. Sie nahm ihn aufmerksam in Augenschein und ging an der Längsseite entlang. Dabei erblickte sie seinen rechten Arm, der unter dem Tuch hervorschaute. Auf der Innenseite befand sich eine relativ frische Verletzung. Zufrieden drehte Prue sich zu dem Mann um. „Nein, unmöglich." erklärte sie fest.
Der Mann nickte und schob den Toten zurück in sein Fach. Dann führte er Prue zur Tür und öffnete sie mit einem Knopfdruck.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen solch eine Mühe gemacht habe." erklärte sie entschuldigend.
„Dafür sind wir doch da." meinte er lächelnd und führte sie den Gang entlang. „Ich bin froh, dass es sich nicht um Ihren Vater gehandelt hat."
„Ja ich auch, ich hoffe nur, Sie werden ihn noch identifizieren können."
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, es gibt hier leider viele Tote, die nie einen Namen bekommen werden."
Als Prue an dem Schlüsselbund vorbei kam, bückte sie sich und tat, als würde sie ihren Schnürsenkel zubinden, dabei steckte sie sich die Schlüssel in die Tasche. Der Mann blieb stehen und wartet höflich bis sie fertig war. Gemeinsam gingen sie auf den Ausgang zu und Prue verabschiedete sich von ihm.
Der Mann nickte. „Ich hoffe, Sie werden ihren Vater bald finden, und zwar lebend." rief er ihr hinterher und Prue lächelte ihn dankbar an.
Als sie wieder in Coles Wagen stieg, sah dieser sie erwartungsvoll an.
„Das ist das erste und einzige Mal, das ich dir helfe." teilte sie ihm konsequent mit, sie hatte nicht vor, unschuldige Leute weiterhin zu belügen und zu betrügen.
„Und hast du das Schlüsselbund?" erkundigte sich Cole, den ihre Drohung völlig kalt ließ.
„Natürlich, was denkst du denn?" fragte sie ärgerlich.
„Gut, dann können wir heute Nacht dort einbrechen." erklärte er zufrieden. „Aber gib mir erst einmal seine genaue Beschreibung."
Wenig später wartete Cole im Untersuchungsgefängnis auf Amy. Er hatte sie in der Zwischenzeit nicht gesehen und das nicht nur, weil er damit beschäftigt war, sich einen Plan auszudenken, wie er sie möglichst schnell aus dem Gefängnis holen konnte. Nein, er war auch wütend auf sie gewesen, dieses Mädchen hatte ihn mit der Wahrheitsdroge in eine gefährliche Lage gebracht, aus der er nur mit viel Glück mit einem blauen Auge davongekommen war. Nicht auszudenken, was er hätte ausplaudern können, als der Streifenpolizist ihn angehalten hatte. Cole bezweifelte zwar stark, dass der Polizist irgendetwas von seinem dämonischen Leben geglaubt hätte, aber trotzdem hätte er ihn wahrscheinlich in die nächste geschlossene Anstalt eingewiesen.
Als die Tür aufging und Amy hereingeführt wurde, war Cole immer noch ärgerlich auf sie. Er konnte nicht glauben, dass er so nachlässig geworden war, dass sogar diese junge Frau ihn hatte überlisten können. Er musste in Zukunft wieder vorsichtiger sein, allein schon, wenn er daran dachte, dass ein Dämon Adam Boucher getötet hatte.
Amy setzte sich auf ihren Stuhl und vermied es, ihren Anwalt anzuschauen. Sie hatte sich die ganze Woche Sorgen gemacht, weil sie nichts von ihm gehört hatte. Sie wusste, dass es eine Dummheit gewesen war, ihm ihre Cola zu trinken zu geben, aber sie hatte sich so ausgeliefert gefühlt und da war ihr diese kleine Rache gerade recht gewesen.
Als der Wächter die Tür wieder verschlossen hatte, sah sie Cole zögerlich an. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte, jetzt wo sie dem Mann gegenübersaß, der ihre wohl gehüteten Geheimnisse kannte. Nachdem sie seinen Gesichtsausdruck sah, erklärte sie störrisch. „Ich finde, du hast kein Recht, sauer auf mich zu sein." Es schien ihr unmöglich, ihn weiterhin mit Sie anzureden, nachdem er alles über sie und Adam wusste. „Du hast schließlich dasselbe mit mir gemacht."
„Nur im Gegensatz zu dir, saß ich nicht im Gefängnis, sondern bin ständig Menschen begegnet." teilte Cole ihr mit.
„Und außerdem, wenn du mir gleich die Wahrheit gesagt hättest, dann wäre das alles gar nicht nötig gewesen."
Amy nickte. „Ja ich weiß, aber ich hätte nie gedacht, dass mir jemand glaubt." Sie blickte auf den Tisch und fuhr mit ihrem Zeigefinger eine Rille lang. „Vor allem nachdem ... ich meine weil Adam und ich ...."
„Tja, da hat Edward Wingrove eben genau den richtigen Anwalt ausgesucht." erklärte Cole und lehnte sich zufrieden zurück.
Amy blickte auf. „Du kennst dich also mit solchen Wesen aus?"
Cole nickte. „So könnte man es sagen." meinte er mit einem Lächeln.
Amy spürte, dass er nicht mehr dazu sagen würde und beließ es dabei. „Leider hilft mir das auch nicht viel weiter." erklärte sie seufzend.
„Nein, der Dämon wird uns bei deiner Verteidigung sicherlich nicht helfen." teilte Cole ihr mit und holte einen Zettel aus seiner Tasche. „Darum habe ich mir etwas anderes ausgedacht." er reichte Amy den Zettel und fuhr fort. „Ich werde dafür sorgen, dass dich bald eine Psychologin sprechen wird. Ich werde ihr sagen, dass ich ein psychologisches Gutachten brauche."
Amy sah ihn zweifelnd an. „Und was soll das bringen?"
Cole grinste. „Du wirst dich auf einmal wieder an die Nacht zum ersten Mai erinnern. Du hattest einen Schock, eine Blockade. Und sie wird deine Erinnerungen wieder hervorholen." Erklärte er zufrieden und zeigte auf den Zettel. „Ich habe dir dort aufgeschrieben, an was du dich erinnern wirst."
Amy blickte erneut auf das Blatt Papier. „Ich weiß nicht." meinte sie nach einer Weile. „Selbst wenn ich mich an einen fiktiven Täter erinnere, wie soll mir das helfen?"
„Darum werde ich mich kümmern!" erklärte Cole ihr zuversichtlich. „Du musst ihr nur so gut wie möglich vorspielen, dass du dich wieder erinnerst." Er blickte sie skeptisch an. „Das wirst du doch hinkriegen, oder?"
Amy zuckte mit den Schultern. „Ich denke schon. Ich musste mein Leben lang schauspielern." Sie sah ihn mit traurigen Augen an. „Vor allem in letzter Zeit."
Cole nickte. „Es tut mir leid wegen Adam." erklärte er leise.
„Weißt du, was am schlimmsten ist?" fragte sie und fuhr fort ohne die Antwort abzuwarten. „Dass ich so wütend auf ihn bin, weil er mich so einfach hat fallen lassen. Dass ihm die Kirche wichtiger war als ich." Sie machte eine Pause. „Doch das darf ich nicht, schließlich ist er tot, und das nur wegen mir." Sie blickte Cole hilfesuchend an. „Liebe ist Scheiße."
Cole nickte. „Ich finde auch man sollte sie abschaffen."
Amy lächelte leicht. „Ich wusste, du verstehst mich." meinte sie leise und stand auf. Sie nahm den Zettel in die Hand und die beiden gingen zur Tür. „Ich weiß zwar nicht genau, was das alles soll. Aber ich werde den Kram auswendig lernen." erklärte sie immer noch skeptisch und blickte erneut auf den Zettel. „Hm, aber ich darf doch meine eigenen Worte benutzen?" fragte sie und sah Cole mit einem Lächeln an. „Denn so spreche ich ganz bestimmt nicht."
Cole zuckte mit den Schultern. „So lange es überzeugend wirkt, kannst du sagen, was du willst."
Um Mitternacht standen Prue un Cole erneut vor dem Leichenschauhaus. Sie hatten auf einem Parkplatz ein gutes Stück entfernt geparkt und befanden sich nun vor dem Personaleingang des Gebäudes. Ohne lange zu überlegen schob Cole die Karte des Angestellten durch das Türschloss. Mit einem Summen ließ sich die Tür öffnen. Die beiden traten in den Flur und lauschten. Hinter ihnen fiel die Tür wieder ins Schloss.
„Weißt du, wie wir von hier aus in den richtigen Saal kommen?" fragte Cole und blickte in den Gang. Er war hell erleuchtet, doch es war niemand zu sehen. In der Nacht war nur eine Notteam anwesend, um das Gebäude zu bewachen und um Leichname, die unbedingt nachts eingeliefert werden mussten aufzunehmen.
Prue dachte angestrengt nach. Dann nickte sie. „Das ist kein Problem für mich." erklärte sie und trat in den Gang.
Vorsichtig gingen sie in Richtung des Haupteinganges. Niemand war zu sehen und sie vernahmen keinen Laut. Kurz bevor sie in der Eingangshalle ankamen, stoppte Prue und schaute aufmerksam um die Ecke. Ein Angestellter saß in einem gläsernen Büro neben dem Eingang und blickte aufmerksam auf seine Zeitung und hatte glücklicherweise kaum Augen für den Monitor daneben. Dennoch entschied sich Prue, dass es keine gute Idee wäre, die Halle zu durchqueren. Sie versuchte sich zu orientieren und ging ein Stück zurück, um dann nach links abzubiegen. Am Ende des Ganges kamen sie in einen Korridor, und Prue war sich sicher, dass sie am Nachmittag diesen Weg genommen hatte. Sie durchschritten die leeren Gänge und mussten nur einmal kurz stoppen und sich hinter einem Schrank verstecken, als eine weitere Wache zur Kontrolle langsam durch den Gang gegenüber schritt. Kurz darauf standen sie vor einer der großen Türen.
„Hier ist es." erklärte Prue und nahm Cole die Karte aus der Hand. Sie schob sie durch das Schloss und die Tür entriegelte sich. Cole drückte dagegen und die beiden betraten den Raum.
Da der Saal keine Fenster hatte, war es innen Tag und Nacht stockdunkel. Doch um diese Uhrzeit fiel ein leichter Schein vom Korridor durch die Glasscheiben der Tür. Prue sah sich um. Bei dieser Dunkelheit konnte sie nichts erkennen, aber es war zu gefährlich, das Licht einzuschalten, man würde es vom Flur aus sehen. Noch ganz in Gedanken bemerkte sie, wie es neben ihr heller wurde, verwundert sah sie Cole an.
„Also welches Fach ist es?" fragte Cole neben ihr und leuchtete mit seiner Taschenlampe die Wand an.
„Du denkst aber auch an alles." meinte sie kopfschüttelnd und ging auf die Wand zu. Sie hatte sich den genauen Platz gemerkt und zog zuversichtlich das Fach auf. Ein Leichnam erschien und Prue nahm vorsichtshalber das Tuch von seinem Gesicht. Ein glatzköpfiger Mann starrte ihr entgegen.
Cole, der neben sie getreten war, sah sie fragend an. Prue schüttelte den Kopf. „Das ist er nicht." erklärte sie und legte das Tuch wieder über sein Gesicht.
„Ich dachte, du hättest dir das Fach gemerkt." meinte Cole ironisch und sah sich die Wand mit den unzähligen Fächern an.
„Habe ich auch." erklärte Prue, nachdem sie die Leiche wieder zurückgeschoben hatte und zog das Fach daneben auf. „Aber ich wollte auch nicht zu auffällig erscheinen." Als sie eine dunkle Hand erkannte, schob sie die Leiche gleich wieder zurück. „Gib mir mal die Taschenlampe." forderte sie Cole auf und schritt ein paar Schritte zurück. Als sie genau an der Stelle stand, wie am Nachmittag zuvor, ließ sie das Licht erneut auf die Wand scheinen.
Cole sah ihr ärgerlich zu. „Also was ist nun? Müssen wir jetzt etwa jedes einzelne Fach rausziehen?"
Prue hob ihre Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen und ging erneut auf die Wand zu. Ohne zu Zögern öffnete sie ein weiteres Fach und zog das Tuch zur Seite. Sie blickte auf das Gesicht des unbekannten Toten. „Das ist er." erklärte sie mit einem triumphierenden Lächeln.
„Wurde aber auch Zeit." Cole trat neben sie und blickte auf das Gesicht. „Hm, du hast ihn gut beschrieben." erklärte er anerkennend. Und zupfte dem Mann ein Haar aus. Dann hob er den Arm des Toten und fand auf der Innenseite die noch relativ frische Verletzung. Perfekt! Zufrieden holte er einen schmalen Glasbehälter hervor, in dem sich eine rötliche Flüssigkeit befand.
„Was willst du damit machen?" fragte Prue irritiert.
„Ihm etwas Blut abnehmen." erklärte er und legte das Röhrchen auf die Bahre, neben den Arm des Mannes. Er hoffte, dass ihn seine magischen Fähigkeiten nicht im Stich lassen würden. Er hatte sich gegen einen Schnitt mit dem Messer entschieden, da eine Verletzung nach dem Tod eventuell zu Fragen führen könnte. In den letzten Tagen hatte er tagtäglich seine Fähigkeit, Gegenstände auszutauschen, trainiert. Zuerst war es ihm immer wieder misslungen, vor allem, als er sich an flüssige Substanzen herangewagt hatte. Die Milch aus der Milchtüte hatte einfach nicht ihre Position mit dem Wasser aus dem Glas tauschen wollen, sondern landete auf dem Küchentisch. Nach zahlreichen Putzorgien, war er immer wieder frustriert zu der Kastanie gegangen, bis ihm seine Experimente zum Schluss endlich gelungen waren. Er sah auf die Flüssigkeit in dem Glasröhrchen und atmete tief durch. Dieses Mal durfte ihm kein Fehler unterlaufen. Er hatte nur diesen einen Versuch, ohne lange zu zögern bewegte er seine Hand.
Prue sah ihm angewidert und doch auch ein wenig fasziniert zu. Langsam verflüchtigte sich die hellrote Flüssigkeit und tiefdunkles Blut floss in den Behälter.
Erleichtert lehnte Cole sich zurück, zum Glück hatte alles wie geplant funktioniert. Er hätte es zwar niemals zugegeben, aber er hatte seine Zweifel gehabt, dass es so reibungslos ablaufen würde. Auf der Haut des Toten war keine Wunde zu erkennen. Zufrieden nahm Cole das Gefäß und schob den Leichnam zurück in sein Fach.
Währenddessen betrachtete Prue ihn immer noch skeptisch. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich das alles gut finde." erklärte sie nachdenklich.
„Hey er ist schon tot, ihn stört das nicht mehr." teilte Cole ihr mit.
Dem konnte Prue nicht widersprechen, dennoch fragte sie. „Und wenn es noch Verwandte gibt? Was ist mit denen?"
Cole hob gelangweilt die Schultern. „Du warst doch damit einverstanden." erinnerte er sie, aber als sie nichts sagte, meinte er versöhnlich „Lass uns jetzt erst mal von hier verschwinden."
Sie gingen zurück zur Tür, als sie im Gang plötzlich Geräusche vernahmen. Erschrocken blieben sie stehen. „Die kommen doch hoffentlich nicht hierher?" fragte Prue und sah sich suchend um, doch wie sie es befürchtet hatte, war der Raum vollkommen leer, bis auf die Schrankwand.
Cole lauschte aufmerksam, es war unüberhörbar, dass die Menschen immer näher kamen. „Ich würde sagen schon." erklärte er und sah sich ebenfalls um, genau wie Prue entdeckte er nur die Wand.
„Hier gibt es keinen Platz zum Verstecken!" meinte Prue leise, doch als sie Coles Blick sah, schüttelte sie vehement den Kopf. „Oh nein, vergiss es, ich werde mich bestimmt nicht zu einem Toten legen."
„Tote beißen nicht!" raunte Cole ihr ruhig zu, er konnte nicht verstehen, warum sie sich so anstellte. „Falls hier jemand reinkommt, haben wir keine andere Wahl! Obwohl ich nicht weiß, ob man die Fächer von innen schließen kann."
„Das Problem wird wohl eher sein, ob man sie von innen wieder öffnen kann." Erklärte Prue wütend, sie konnte nicht leugnen, dass sie in der Patsche saßen, dennoch wollte sie sich auf keinen Fall mit einem Toten einschließen lassen.
Die Schritte hielten vor der Tür an und ein leisen Klicken verriet, dass das Schloss der Tür geöffnet wurde. Kurz bevor einer der Männer die Tür öffnen konnte, zog Cole Prue zur Seite. Die Tür schwang auf und versteckte die beiden dahinter. Zwei Männer mit einer Bahre traten in den Raum und einer von ihnen schaltete das Licht ein. Der Saal erstrahlte urplötzlich in grellem Licht und als die Tür wieder zufiel, bot sie Cole und Prue keinen Schutz mehr. Einer der Männer drehte sich um, und Cole fackelte nicht lange. Er nahm Prues Hand und schimmerte die beiden aus dem Saal.
Als sie auf einer einsamen Straße wieder zum Vorschein kamen, erkannte Cole keinerlei Dankbarkeit in Prues Blick.
„Brauchst du etwa diesen Kick?" Fragte sie wütend.
„Nein, das müsstest du eigentlich wissen, den Kick hole ich mir woanders." teilte Cole ihr gelassen mit und sein Blick sprach Bände.
„Ach ja? Und warum mussten wir uns dann unnötig in Gefahr begeben und dort einbrechen, wenn du dich auch ohne Probleme dort hättest hinschimmern können?" erkundigte sie sich in eisigem Tonfall.
„Weil ich es eben nicht kann." erklärte Cole ruhig.
Prue sah ihn spöttisch an. „Und was war dann das hier?" fragte sie und sah sich ärgerlich um. „Wo sind wir überhaupt?"
„Eben das ist das Problem Prue." erklärte Cole nüchtern. „Ich weiß es nicht!"
Sie blickte ihn skeptisch an. „Was willst du damit sagen?"
„Dass ich uns ohne Probleme aus dem Leichenhaus herausschimmern konnte, dass ich uns aber leider nicht hineinschimmern kann." teilte er ihr sachlich mit. „Ich habe noch ein paar Probleme mit der Koordination." gab er unzufrieden zu.
Prue blickte sich um. „Soll das etwa heißen, wir sitzen hier im Niemandsland fest?" fragte sie ungläubig.
„Nein, ich kriege das schon noch hin." erklärte Cole zuversichtlich und reichte ihr seine Hand. „Ich brauche wahrscheinlich nur ein bisschen Übung, das ist alles."
Als sie kurz darauf in einem Wald landeten, hielten sie sich nicht lange dort auf. Es war empfindlich kühl in der hohen Bergregion und Prue fröstelte, doch kurz darauf wehte ihr schon ein heißer Wüstenwind entgegen. Sie sah Cole mit einem skeptisch Blick an, doch bevor sie etwas sagen konnte, hatte er sie schon auf das Dach eines Hochhauses geschimmert. Prue schaute auf die Reklametafel gegenüber und meinte spöttisch. „Du machst Fortschritte - Eine Stadt. Nur leider in Asien."
Cole kümmerte sich nicht weiter darum und versuchte erneut, sie zurück zu schimmern. Das konnte doch nicht so schwierig sein. Er versuchte sich zu konzentrierten und sie landeten in einem Hinterhof. Aus der offenen Tür eines Lokal drangen fremde Laute an ihr Ohr. Prue schüttelte langsam genervt den Kopf.
„Das nächste Mal, ganz sicher." erklärte Cole zuversichtlich und schimmerte sie aus dem Hinterhof.
Bei ihrem nächsten Stop landeten sie in einer abgelegenen Straße. Prue löste sich von Cole und sah ihn ärgerlich an. „Ich habe jetzt langsam genug davon! Streng dich gefälligst mehr an. So eine große Freude ist das hier nämlich nicht, mir wird langsam übel und ich will nach Hause."
„Tut mir leid, ich kann es nicht ändern, es funktioniert einfach noch nicht so richtig." erklärte Cole frustriert, er war nicht weniger ärgerlich auf sich selbst, als sie. Das konnte alles nicht wahr sein, er blamierte sich hier bei einer der leichtesten Übungen. Und als ob das alles noch nicht schlimm genug wäre, fing Prue auf einmal schallend an zu lachen.
Als Prue Coles frustriert Gesichtsausdruck gesehen hatte, hatte sie auf einmal genau gewusst, wie Daniel in ein paar Jahren aussehen würde, wenn seine Sandburg einstürzen würde. Gegen ihren Willen hatte sie anfangen müssen zu lachen.
„Wie schön, dass wenigstens du das lustig findest." Erklärte Cole wütend. „Wir sitzen hier was weiß ich wo fest und dir fällt nichts besseres an, als dich totzulachen."
„Tut mir leid." meinte sie zwischen ihrem Lachanfall, und ging auf eine Bushaltestelle an der Straße zu. Sie setzte sich auf die Bank und wischte sich die Tränen aus den Augen, dann sah sie ihn immer noch grinsend an. „Du hast nur eben so abgrundtief frustriert ausgesehen." Und so abgrundtief süß, dass sie sich beherrschen musste, ihn nicht zu küssen, aber das würde sie ihm lieber nicht sagen.
„Toll!" erklärte Cole aufgebracht und ließ sich neben ihr auf der Bank nieder. „Ganz toll! So was ist mir noch nie passiert."
„Und dabei hockst du doch Tag und Nacht unter der Kastanie! Bringt wohl doch nicht so viel, was?" fragte Prue immer noch amüsiert.
„Wenigstens hat das mit dem Blut funktioniert." erklärte er lächelnd.
Prue sah ihn fragend an. „Soll das etwa heißen, das hätte ebenso in die Hose gehen können, wie deine Schimmerversuche?"
„Ist es aber nicht!" erklärte Cole, er stand auf und hielt ihr die Hand entgegen. „Komm, lass es uns weiter versuchen."
Widerwillig stand Prue auf, ihr Vertrauen in Coles Fähigkeiten, sie nach Hause zu bringen, waren auf dem Nullpunkt. Sie blickte sich um, und stoppte ihn, als er gerade ihre Hand nehmen wollte. „Warte!" hielt sie ihn auf, bevor er sie noch in die letzte Einöde verfrachtet hatte. Sie zeigte auf ein Haus am Ende der Straße. „Ist das nicht ein Hotel von Harry van Berg?"
Cole drehte sich um und sah die Straße hinunter auf ein leuchtendes Schild. „Ja! Du hast recht. Ich habe uns doch nach New Orleans gebracht." erklärte er zufrieden.
Prue blickte auf das Schild der Bushaltestelle. „Hm, diese Straße kenne ich nicht." meinte sie und wollte sich den Fahrplan ansehen, doch wie so oft, war er herausgerissen worden.
Cole folgte ihrem Blick. „Ich glaube sowieso nicht, dass nachts hier Busse fahren."
Prue nickte. „Wir könnten aber von dem Hotel aus ein Taxi bestellen." sie fasste in ihre Hosentasche und musste feststellen, dass sie ihr Geld nicht dabei hatte. „Hast du wenigstens dein Portemonnaie dabei?"
Cole holte es hervor. „Ja keine Sorge, für eine Taxifahrt wird es schon noch reichen."
