44. Kapitel

Amy hetzte die Straße entlang, sie lief, ohne zu wissen wohin, aber sie wollte einfach nicht langsamer werden. Tausend Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum. Dieser Mann, den sie auf den Tod nicht ausstehen konnte, sollte ihr Vater sein, das durfte doch einfach nicht wahr sein. Und das machte Vivian und Charlotte zu ihren Schwestern, oh Gott, ein Albtraum.

Erschrocken stoppte sie, als ein Fahrer sie hupend darauf aufmerksam machte, das sie ihm fast vor den Wagen gelaufen wurde. Amy warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und hörte, wie hinter ihr jemand ihren Namen rief.

„Amy." erklang es keuchend. Josh kam angestrengt die Straße entlanggerannt und blieb nach Luft schnappend vor ihr stehen. „Oh Gott!" entfuhr es ihm und er beugte sich nach vorne. „Bist du gut in Form, da komme ich nicht mit."

„Du solltest mit dem Rauchen aufhören." schlug Amy ihm mitleidslos vor.

„Vielleicht hast du recht." Josh richtete sich wieder auf und hielt sich die Seiten. „Was war denn eigentlich los?"

„Ich habe so ganz nebenbei erfahren, wer mein leiblicher Vater ist." erklärte Amy leise und schüttelte deprimiert den Kopf. „Obwohl sie es wussten, haben sie mir keinen Ton gesagt. Angeblich wollten sie mir nicht wehtun."

„Oh." Josh sah sie forschend an. „Ist der Kerl denn so schlimm?"

„Ja, ich kann ihn nicht ausstehen." erklärte Amy verzweifelt. „Es macht mich krank, mir vorzustellen, dass ich mit jemandem wie ihm verwandt sein soll."

Josh nickte wissend. „Das kenne ich nur zu gut, aber ich kann dir aus Erfahrung sagen, Gene sind nicht das Wichtigste."

„Aber ich habe mir immer mein erstes Treffen mit meinem leiblichen Vater vorgestellt, wie es wäre ihm endlich gegenüberzustehen und was ich dabei fühlen würde." erklärte sie unglücklich. „Selbst wenn es nicht mein Traumvater wäre, sondern nur irgend so ein ehemaliger Student, der aus Panik weggelaufen ist. Dann hätte ich doch gleich die Verbindung gespürt und gewusst, dass ist mein Vater. Aber ich kenne ihn bereits und da ist nichts."

„Vielleicht ändert sich das ja, jetzt wo du es weißt." meinte Josh mit einem leichten Achselzucken.

„Hm." nachdenklich blickte Amy auf die Straße, vielleicht hatte Josh ja recht, vielleicht hatte sie Edward Wingrove die ganze Zeit falsch eingeschätzt, schließlich musste er sich immer verstecken und durfte ihr seine Zuneigung nicht zeigen. Entschlossen streckte Amy die Hand aus, als ein leeres Taxi an ihnen vorbeifuhr.

Sofort hielt der Fahrer an und Amy drehte sich zu Josh um. „Ich werde es gleich erfahren." teilte sie ihm mit einem leichten Lächeln mit. „Was ist, kommst du mit?"

Josh sah sie überrascht an. „Ich? Du willst das ich dabei bin?"

Amy nickte und öffnete die Tür des Taxis. „Ja, ich hätte gern ein wenig Unterstützung." erklärte sie und sah ihn bittend an.

„Na wenn das so ist, gerne." meinte Josh und sie stiegen in das Taxi, um zum Anwesen von Edward Wingrove zu fahren.

Derweil kehrte Prue zurück ins Wohnzimmer. Nachdem sie endlich aufgestanden und zur Straße geeilt war, war von Amy und Josh nichts mehr zu sehen gewesen. Frustriert war Prue zurück ins Haus gegangen und hatte dabei festgestellt, dass Amy keinen der Wagen benutzt hatte. „Ich konnte sie nirgendwo mehr sehen." erklärte sie ärgerlich. „Wir hätten sie aufhalten müssen."

„Es konnte doch keiner ahnen, dass sie so reagiert." meinte Cole achselzuckend und stand auf. „Aber wir müssen sie finden, wir brauchen sie im Kampf gegen Belva."

Zadie schüttelte den Kopf. „Nein, um Amy werde ich mich kümmern, sie wird zurückkommen." erklärte sie mit Gewissheit. Eine tiefe Ruhe und Gelassenheit machte sich in Zadie breit. Sie vertraute der Vorhersage der Götter blind. Amy würde Belva vernichten, davon war sie überzeugt. „Macht euch keine Sorgen, es wird alles so geschehen, wie die Loa es vorausgesagt haben."

„Wie schön, dass du das glaubst." meinte Cole spöttisch. „Aber ich kann hier leider nicht tatenlos herumsitzen und darauf warten, dass Amy ihre Prophezeihung erfüllt."

Zadie nickte. „Das verlange ich auch gar nicht von euch." Sie sah Cole und Prue fest an. „Ich werdet zu dieser Plantage fahren und versuchen, den Jungen zu befreien." erklärte sie bestimmt. Denn wenn sie den Loas auch noch so fest vertraute, dann hieß das noch lange nicht, dass Coles Sohn in Sicherheit war.

Prue sah Zadie skeptisch an. „Bist du dir sicher?" fragte sie noch einmal nach.

Zadie nickte. „Ja, geht und befreit den Jungen, um das übrige werden Amy und ich mich kümmern."

Als das Taxi vor dem Anwesen der Familie Wingrove hielt, bezahlte Amy den Fahrer und stieg aus. Ihr kam der Gedanke, dass, wenn sie weiterhin wie wild mit dem Taxi durch die Gegend fahren würde, sie bald Pleite wäre. Aber was machte das schon, ihr Vater war schließlich steinreich. Nachdenklich blieb sie vor der Gegensprechanlage am Tor stehen und sah Josh fragend an. „Soll ich es wirklich tun?"

„Tu es nur, wenn du es wirklich möchtest." riet er ihr, er hatte keine Ahnung, wie der leibliche Vater von Amy so war, aber er wollte auf keinen Fall, dass sie verletzt wurde. „Wenn du Zweifel hast, dann lass es doch lieber."

Amy schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Nein, sie musste das jetzt hinter sich bringen. Entschlossen drückte sie auf die Klingel und wurde ohne Probleme auf das Grundstück gelassen.

Beeindruckte sah Josh sich um. „Wow." entfuhr es ihn. „Dein Vater muss ja wirklich Kohle haben."

Amy nickte. „Hat er, er ist Anwalt, dein Lieblingsberuf." erklärte sie unruhig, während sie langsam auf das Haus zugingen. „Oh Gott, was sag ich ihm bloß?" murmelte sie vor sich hin.

Doch Josh schien sie gar nicht zu gehört, er war zu vertieft in seine Betrachtung der Villa und des riesigen Anwesens. „Meine Wohnung passt bestimmt spielend in eins von ihren Zimmern." erklärte er überzeugt. „Wie viele Räume haben die denn?"

„Keine Ahnung, ich habe sie noch nie gezählt." entfuhr es Amy genervt, sie hatte jetzt wirklich andere Sorgen. Denn sie waren bereits an der Haustür angekommen, wo eine Bedienstete auf sie wartete und sie in die Halle führte.

Die beiden traten ein, als die Tür von Edward Wingroves Arbeitszimmer aufging und er selbst die Halle betrat. „Amy meine Liebe, schön, dass du uns mal besuchst." erklärte er mit einem aufgesetzten Lächeln, während er auf sie zukam. „Aber Charlie ist leider nicht da, sie ist mit Vivian und ihrer Mutter mal wieder Shoppen gefahren." meinte er bedauernd und sah Josh an. „So sind sie die Frauen."

„Klar." entfuhr es Josh, obwohl das in seiner Familie nun wirklich nicht der Fall war.

„Das macht nichts, ich wollte auch mit ... dir sprechen." Amy betrachtete ihren Vater eingehend und versuchte irgendeine Ähnlichkeit mit ihm festzustellen. Doch ihr Aussehen hatte sie schon immer ihrer Mutter zu verdanken gehabt, der Einfluss ihres vermeintlichen Vaters war verschwindend gering. Vielleicht der Mund überlegte Amy nachdenklich und schaute sofort wieder weg, so genau wollte sie es gar nicht erst wissen.

„Oh, Liebes." Edward Wingrove sah sie entschuldigend an. „Das ist leider gerade ganz schlecht, ich habe zu tun." versuchte er sie abzuwimmeln.

„Selbst am Wochenende?" fragte Josh überrascht, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass dieser unehrliche Schleimer etwas mit Amy zu tun hatte, geerbt hatte sie jedenfalls nichts von ihm, das erkannte Josh sofort.

„Ja als Anwalt, der eine bedeutende Kanzlei am Laufen halten muss, hat man im Grunde nie Ruhe." erklärte Wingrove in einem gönnerhaften Ton.

Amy sah ihn wieder an. „Du wirst doch wohl fünf Minuten Zeit haben, für deine Tochter." meinte sie leise.

Wingrove erstarrte und sein Mund stand entsetzt offen. „Sie haben es dir also tatsächlich gesagt." entfuhr es ihm und er sah sich hektisch um. „Komm mit in mein Arbeitszimmer." erklärte er schnell und sah Josh an. „Der junge Mann kann ja so lange hier warten."

Amy schüttelte den Kopf. „Nein, ich will dass er dabei ist." erklärte sie entschieden.

Wingrove sah sie ungläubig an. „Aber es handelt sich um eine private Angelegenheit, Amy, versteh doch."

Josh zuckte mit den Achseln. „Also ich kann auch hier..."

Doch Amy unterbrach ihn. „Nein, er ist mein Freund und er kommt mit." erklärte sie und nahm seine Hand, um ihn mit in das Arbeitszimmer zu ziehen.

Edward Wingrove folgte ihnen seufzend und schloss hinter sich die Tür. Er umrundete den Schreibtisch und ließ sich auf seinem Stuhl nieder. „Hast du schon mit deiner Mutter geredet?"

Amy schüttelte den Kopf und setzte sich ihm gegenüber auf einen der Stühle. Das Licht, dass durch das Fenster schien, blendete sie, doch sie versuchte dennoch ihn aufmerksam zu beobachten.

Edward Wingrove seufzte. „Das solltest du aber tun, du solltest zuerst mit deiner Mutter reden." versuchte er sich dieser unangenehmen Situation zu entziehen.

„Nein, ich will mit dir reden." erklärte Amy bestimmt. „Du bist mein Vater!" entfuhr es ihr immer noch ungläubig. Da saß er, ihr gegenüber und sie konnte einfach nichts fühlen. Da war keine plötzliche Vertrautheit oder ein instinktives Gefühl der Zusammengehörigkeit. Nein, er bedeutete ihr genauso wenig wie zuvor, erkannte sie enttäuscht, nichts hatte sich geändert. Verzweifelt sah sie ihn an. „Ich verstehe das alles nicht."

„Ach Amy, das alles ist so lange her." begann Edward unwillig. „Deine Mutter kam für kurze Zeit in meine Kanzlei und wir hatten eine Affäre. Es war nichts Weltbewegendes, nicht der Rede wert."

Josh sah ihn schockiert an, wie konnte dieser Typ nur so einen Mist von sich geben. Merkte er denn gar nicht, wie weh er ihr damit tat. „Zu Ihrer Information, Amy ist etwas Weltbewegendes." stellte er wütend klar.

„Es ging lediglich um die Affäre zu ihrer Mutter." teilte Wingrove Josh belehrend mit. „Es ist einfach geschehen und ich habe Shelly keine Hoffnungen gemacht. Sie wusste, dass ich verheiratet bin."

Josh lachte spöttisch. Solche Kerle kannte er zur Genüge. „Ach kommen Sie, Sie waren ihr Boss und sie Ihre Untergebene. Da haben Sie schnell mal ihre Unerfahrenheit ausgenutzt, nur um Sie zu f...." Josh gelang es im letzten Moment, sich zu stoppen.

Amy sah Josh schockiert an, Wingrove und ihre Mutter, sie konnte sich das einfach nicht vorstellen, ungläubig blickte sie erneut zu Edward Wingrove. Sie wollte irgendetwas sehen, irgendein Gefühl für sie. Sie wollte spüren, dass sie ihm etwas bedeutete und nicht nur ein Problem war. Doch das Einzige, was er ausstrahlte, war Angst. Angst, dass sie sein kleines Geheimnis ausplaudern würde.

„Was erlauben Sie sich." meinte Wingrove gerade ärgerlich zu Josh. „Wer sind Sie überhaupt? Die ganze Angelegenheit geht nur mich und meine Tochter an."

„Deine Tochter?" Amy sah ihn an. „Bin ich das wirklich?" Amy konnte es einfach nicht glauben, da war einfach nichts zwischen ihnen.

Wingrove zuckte leicht mit den Schultern. „Deine Mutter hat es jedenfalls behauptet." erklärte er, als wäre auch er nicht sonderlich überzeugt davon.

Diese Aussage gab Amy den Rest. „Rede nicht so über sie." fuhr sie ihn wütend an, wie konnte er andeuten, dass ihre Mutter mehrere Männer gleichzeitig gehabt hatte, dass sie ihn angelogen hatte. „Wie kannst du es wagen." Amy war den Tränen nahe.

Wingrove hob beschwichtigend die Hände. „Ich habe es nie bestritten." erklärte er großmütig.

Enttäuscht blickte sie an ihm vorbei aus dem Fenster. Sie hatte sich immer einen Vater gewünscht, aber dies war keine idyllische Familienzusammenführung es war einfach nur schrecklich. „Du schuldest mir etwas." meinte sie schließlich kalt.

Wingrove sah sie wohlwollend an. „Was immer du möchtest, ich bin für dich da."

„Fein." erklärte Amy und kramte in ihrer Hosentasche herum. Schließlich fand sie den Zettel, den sich suchte und warf ihn auf den Schreibtisch. Wenn er ihr keinen Funken Liebe entgegenbringen konnte, dann konnte er ihr wenigstens das geben, was er hatte. Geld! „Ich will, dass du mir dieses Geschäft kaufst." teilte sie ihm entschieden mit und stand auf. „Dort steht die Telefonnummer von dem Vermieter. Versuch es ihm abzukaufen. Ich will es haben."

Verwundert nahm Wingrove den Zettel entgegen. „Nun, wenn dein Herz daran liegt." meinte er unwillig, er hätte nie gedacht, dass die kleine Amy so materialistisch war. Aber wenn er sie damit zum Schweigen bringen konnte, würde er es tun.

„Tu es!" bestätigte Amy und sah ihn ein letztes Mal an. Sie fühlte sich sterbenselend dabei, festzustellen, dass sie ihrem eigenen Vater nichts bedeutete. Doch es war Realität und sie musste sich eingestehen, dass es ihr genauso ging. Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum.

Josh sah ihr verwundert hinterher und stand schleunigst auf.

„Warten Sie!" hielt Edward Wingrove ihn zurück. „Wenn Sie denken, dass Sie Kapital aus der Sache schlagen können, dann werden Sie das bitter bereuen."

Josh sah ihn spöttisch an. „Mir geht es nur um Amy, im Gegensatz zu Ihnen." erklärte er wütend und verließ den Raum.

Als er in die Halle kam, war von Amy nichts mehr zu sehen. Josh beeilte sich zur Tür zu kommen und sah sie bereits in der Nähe des Tores. „Amy!" rief er und lief auf sie zu. „Mann, mit dir muss man wohl ständig Sport treiben." meinte er, als er sie atemlos erreichte.

Amy lächelte traurig. „Scheint wohl so."

Josh nickte, er wusste sofort, was sie bedrückte. Mitfühlend legte er seinen Arm um sie. „Der ist zwar reich und gebildet, aber trotzdem ist er ein widerlicher Mistkerl, Amy." erklärte er leise, auch nicht viel besser als sein eigener Vater. „Naja wenigstens kein Verbrecher."

Amy schnaubte spöttisch. „Da wäre ich mir nicht so sicher." meinte sie unglücklich.

„Nur du bist wichtig, nicht er. Vertrau' mir ich weiß das." teilte Josh ihr beschwörend mit. „Er ist es nicht wert, dass du dir über ihn Gedanken machst."

„Ich weiß!" meinte Amy und seufzte. Langsam gingen sie auf das Tor zu. „Ich bin nur so enttäuscht, ich hätte gedacht ihm liegt etwas an mir."

„Das tut es bestimmt." erklärte Josh nicht sonderlich überzeugt.

Sie traten auf die Straße und sahen sich um. „Ich glaube ich habe ihn viel zu billig davonkommen lassen." überlegte Amy ärgerlich. „Aber das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen."

„Stimmt, wenigstens um ein Auto hättest du ihn noch bitten können." meinte Josh grinsend. „Wie kommen wir hier jetzt bloß weg?"

Amy sah unglücklich zum Haus zurück. „Aber jetzt kann ich nicht noch mal zurückgehen."

„Das würde ich nie von dir verlangen." erklärte er bestimmt. „Hast du dein Telefon nicht dabei?"

Amy schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin leider gerade erst draufgetreten." gab sie zu.

Josh zuckte mit den Schultern. „Was soll's gehen wir halt zu Fuß, ich habe sowieso gerade nichts Besseres vor."

Amy nickte. „Ich muss zurück zu Prue und Cole." überlegte sie unwillig. Sie war noch immer wütend auf die beiden, doch sie machte sich unbeschreibliche Sorgen um Danny. Aber was sollte sie ihnen schon nutzen, sie war nicht annähernd so stark wie sie und hatte bisher eher im Weg rumgestanden. Also war ein kurzer Spaziergang eine herrliche Ausrede, um das Treffen mit ihnen noch ein wenig herauszuzögern.

Zufrieden mit ihrer Entscheidung nahm sie Joshs Hand. „Und dabei können wir uns überlegen, um was ich Edward Wingrove noch alles bitten kann." Ihn Vater zu nennen, kam ihr einfach nicht aus dem Mund. „Was ist, soll er dir einen Plattenvertrag verschaffen?"

Josh schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich will keine teuren Geschenke von dir." erklärte er bestimmt.

Amy zuckte mit den Schultern. „Es ist ja nicht von mir, sondern von ihm und er hat massenhaft Geld."

Zur selben Zeit kamen Cole und Prue auf der Plantage an. Das Tor stand von ihrem letzten Besuch immer noch offen und sie fuhren unbehelligt auf das Gelände. Nachdem sie den Wagen abgestellt hatten, sahen sie sich aufmerksam um.

„Nichts!" meinte Prue und lauschte angestrengt. „Hier ist alles ruhig, vielleicht war es doch nur ein blöder Traum."

Cole sah sie überrascht an. „Du zweifelst doch sonst nicht an dir."

„Bei Fieberwahnträumen von Schlagen bin ich mir da nicht so sicher." erklärte Prue unzufrieden.

„Zadie hat das anders gesehen und wir haben sonst keinen Hinweis." meinte Cole und sah sie an. „Also komm, lass uns zum Herrenhaus gehen und uns umsehen. Das wolltest du doch schon seit unserem ersten Besuch hier."

Prue nickte. „Ja und vielleicht habe ich darum auch davon geträumt." meinte sie nachdenklich und folgte ihm den Weg entlang, der zum Herrenhaus führte. Sie war sich nicht im Klaren, was sie von ihrem Traum und der hölzernen Schlangenstatue halten sollte, vielleicht führte sie das alles nur in die Irre. Wenn sie nur sicher wüsste, dass sie Danny so ein Stück näherkommen würden.

Schweigend erreichten sie den Hügel, von dem aus man einen beeindruckenden Blick auf die Ruine des Herrenhauses hatte.

„Nichts!" erkannte Cole enttäuscht, von ihrem Platz aus hatten sie einen guten Überblick über das Gelände und er konnte nichts Auffälliges entdecken. „Es sieht nicht danach aus als wäre da unten irgendjemand."

„Lass es uns erst einmal überprüfen." erklärte Prue bestimmt. Schon bei ihrem ersten Besuch hatte das Haus sie wie magisch angezogen und jetzt brannte sie darauf, es sich näher anzusehen. Sie stolperte die kurze Böschung hinunter und kam auf der Straße, die zum Haupteingang führte, wieder zum Stehen.

Früher war es sicher eine imposante Allee gewesen, aber heute stand nur noch jeder zweite Baum und diese strecken ihre traurigen Äste auf die andere Seite, wo kein Baum mehr stand, um sie mit seinen Ästen aufzufangen. Energisch schüttelte Prue bei diesen Gedanken den Kopf, sie war eindeutig zu oft mit Amy zusammen. Sie blickte wieder zum Hügel hoch, den Cole gerade passiert hatte und gemeinsam gingen sie langsam auf den Innenhof der Ruine zu.

Von nahem sah man, dass es sich tatsächlich nur noch um die letzten Bruchstücke des einstigen Herrenhauses handelte. Einige Säulen und Teile von Wänden aus rotem Backstein waren noch übrig von denen der Verputz schon lange abgefallen war. Sie gaben einen ungefähren Eindruck davon, wie die Räume früher aufgeteilt worden waren und wie weitläufig das Gebäude gewesen sein musste. Das Laub und der Dreck der letzten Jahrzehnte lagen herum, sowie abgebröckelter Verputz und Schotter. Es sah nicht so aus, als hätte sich in der letzten Zeit irgendjemand um die Ruine gekümmert.

Unglücklich sahen Prue und Cole sich an. „Was soll's!" meinte Prue schließlich. Je schneller sie hier fertig waren, desto eher konnten sie nach Hause zurückkehren und über einen anderen Plan nachdenken. „Check du den linken Teil, ich sehe mich rechts um." entschied sie und umrundete eine der baufälligen Mauern.

„Aber pass auf, dass dir kein Stein auf den Kopf fällt." rief Cole ihr hinterher.

Prue blieb stehen und sah skeptisch an einer der baufälligen Mauern nach oben. „Keine Sorge, solange du dich von keiner Mauer erschlagen lässt." rief sie zurück. Die Mauern und Säulen sahen wirklich nicht sehr stabil aus, aber dass sich einzelne Backsteine lösen würde war höchst unwahrscheinlich, da fiel eher die ganze Wand in sich zusammen.

Cole grinste und ging weiter in den linken Bereich des ehemaligen Herrenhauses. Ein Raum löste den anderen ab, aber nirgendwo waren irgendwelche auffälligen Spuren zu entdecken. Als er schließlich in die hintere Ecke kam, befand er sich offensichtlich in der früheren Küche, denn dort waren noch die Reste einer Kochstelle und eines Schornsteins zu erkennen.

Neugierig sah er sich um und entdeckte schließlich eine schmale Treppe, die in den Vorratskeller des Gebäudes führte. Nachdenklich stieg Cole einige Stufen hinunter. Mit jedem Schritt wurde es dunkler und als er schließlich in dem alten Vorratsraum ankam, war es fast stockdunkel, das einzige Licht kam von der schmalen Treppe. Cole sah sich in der Finsternis um. Er konnte nur ein paar zerbrochene Regale erkennen, ansonsten war der Raum leer. Doch rechts ging ein anderer Gang ab, der weiter in das Kellergeschoß des Hauses führte.

Ob wohl das ganze Haus unterkellert war, überlegte Cole und schaute in den Gang. Dort war es so finster, dass er nichts erkennen konnte. Seufzend trat er wieder auf die Treppe zu und ging zurück in die Eingangshalle, um Prue zu suchen.

Als sie kurze Zeit später gemeinsam vor der Kellertreppe standen, hatte Prue eine winzige Taschenlampe hervorgezaubert. Sie stiegen langsam die Treppe hinunter und sahen sich in dem ersten Raum um, doch Prues Taschenlampe spendete kaum Licht.

„Wozu soll diese Taschenlampe noch mal gut sein?" fragte Cole ironisch.

„Notbeleuchtung, falls man nachts das Türschloss nicht findet." erklärte Prue und ging entschlossen auf den düsteren Gang zu. „Das war mal ein Werbegeschenk, und es ist doch besser als nichts."

„Naja ich weiß nicht." meinte Cole wenig überzeugt. „Also hinter dir hilft sie mir kein bisschen."

Prue zuckte mit den Schultern. „Etwas anderes haben wir nicht. Also lass es uns so versuchen." sie trat in den finsteren Gang und ging langsam vorwärts. „Au, du trittst mir in die Hacken." fluchte sie, nach einer Weile.

„Entschuldige, aber wie ich schon sagte, ich sehe nichts hinter dir." erklärte Cole wütend. „Sollte ich nicht besser vorgehen?"

Prue ging auf diese Frage gar nicht erst ein, sondern ging weiter, bis sie in einem weiteren Raum ankamen. Kurz bevor Cole erneut in sie hineinlaufen konnte, sah er den leichten Lichtstrahl und stoppte. Gemeinsam gingen sie die Wände ab, aber außer Spinnenweben und Staub war auch hier nichts weiter zu entdecken. Nur hinten war ein weiterer Gang, der aber um einiges schmaler war, als der vorherige. Cole musste seinen Kopf einziehen und bemühte sich im Dunkeln hinter Prue herzukommen, als er plötzlich ihre Stimme hörte.

„Da vorne ist Licht." stellte sie erleichtert fest und ging auf die Lichtquelle zu.

Es handelte sich um einen weiteren Saal, dessen Decke schon einige Löcher aufwies und dadurch Licht in das Kellergeschoß ließ. „Wir müssen genau unter der Eingangshalle sein." erkannte Prue und blickte nach oben. „Ganz schön baufällig. Warum sind uns die Löcher nur oben nicht schon aufgefallen?"

Cole zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich hoffe nur, die ganze Decke fällt uns nicht gleich auf den Kopf."

Die gleichen Befürchtungen hatte Prue auch, aber davon durfte sie sich jetzt nicht aufhalten lassen, denn sie hatte gerade einen Eingang zu einem weiteren Raum gefunden. Entschlossen ging sie darauf zu und Cole folgte ihr. Durch das Licht, das von der Halle in den Raum zuvor fiel, konnten sie schemenhaft die Umrisse dieses Raumes erkennen. An den Wänden standen lange Regale, auf denen sich zahlreiche Flaschen befanden.

„Die Flaschen aus Zadies Keller." stellte Prue zu ihrer Freude fest und eilte darauf zu. Sie nahm die erste in die Hand und nahm den Korken ab. Sofort stieg ein blendendes Licht daraus hervor. Es erhellte den gesamten Umkreis und suchte sich seinen Weg in die Freiheit. Glücklich sah Prue der befreiten Seele hinterher und wendete sich dann der nächsten Flasche zu. „Los hilf' mir." rief sie Cole zu.

Cole trat neben sie und verzog das Gesicht. „Prue, wir haben jetzt wirklich keine Zeit hier jede Seele zu befreien." erklärte er entschlossen. Obwohl Belva offensichtlich an diesem Ort gewesen war, war es klar für ihn, dass sie Danny und Belva hier nicht finden würden. Prues Traum hatte sie nur zu den Seelen geführt. „Wir können uns später darum kümmern, jetzt müssen wir erst einmal zurück. Hier ist nichts."

Prue sah ihn verwundert an, ohne damit aufzuhören, die Seelen zu befreien. „Ich habe es ihnen versprochen und die fünf Minuten machen wohl kaum einen Unterschied." erklärte sie bestimmt.

„Fünf Minuten?" Cole sah skeptisch die Regalreihe hinunter.

„Ja, wenn du dich endlich dazu bequemen würdest, mir zu helfen." fuhr sie ihn ärgerlich an, doch er rührte sich nicht von der Stelle. „Wie kannst du nur so gefühllos sein?"

„Oh, tut mir leid, aber das Leben meines Sohnes ist mir wichtiger als Seelen von Toten, die ich noch nicht einmal gekannt habe." erklärte er wütend und drehte sich zum Eingang, als dort auf einmal in rasender Geschwindigkeit ein Backstein nach dem nächsten den Ausgang versperrte.

„Was ist das?" fragte er verwirrt und auch Prue hörte auf, die Flaschen zu öffnen und blickte ungläubig zu dem geschlossenen Ausgang.

Doch bevor einer der beiden sich darüber im Klaren war, was passiert sein könnte, geschah etwas, was Prue schon aus ihrem Traum kannte. Die Backsteine wurden durchsichtig und gaben den Blick auf den gegenüberliegenden Raum frei, der auf einmal von zwei Lampen erhellt wurde.

Vor dem Eingang stand Belva, die unwillig ihren Kopf schüttelte. „Also habt ihr es doch geschafft, aus der Villa zu entkommen." meinte sie und seufzte demonstrativ. „Das dachte ich mir bereits, als ich nichts mehr von Zadie gehört habe. Aber keine Sorge, ich habe euch erwartet." erklärte sie mit einem höhnischen Grinsen.

Wütend ging Cole auf die gläserne Wand zu, doch er verzog keine Miene. „Ich will meinen Sohn!" forderte er sie in schneidendem Tonfall auf.

„Ich auch." erklärte Belva kalt. „Ich denke es ist nur fair, euren Sohn für meinen."

Darauf ging Cole gar nicht erst ein. „Wo ist er?" fuhr er sie an.

„In Sicherheit. Ich habe ihn gerade auf seinen großen Tag vorbereitet, als mich euer Eindringen hier gestört hat." meinte sie unzufrieden und sah Prue spöttisch an. „Ich wusste, dass du versuchen würdest, die Seelen der Zombies freizusetzen und habe Vorsorge getroffen. Die Flaschen sind so präpariert, dass ich darüber in Kenntnis gesetzt werde."

„Mach dir keine Hoffnungen Belva, wir werden auch aus diesem Gefängnis entkommen." teilte Prue ihr kalt mit, obwohl sie sich totärgerte, dass sie in Belvas Falle getappt waren.

„Das glaube ich kaum. Ihr werdet meine Zeremonie nicht noch einmal stören, ich weiß nun, dass ich äußerst vorsichtig bei euch sein muss." meinte sie ruhig. „Die Wände sind immun gegen eure Zauberkräfte, probiert es aus." forderte sie sie mit einer Handbewegung auf, aber weder Prue noch Cole taten ihr den Gefallen.

Belva zuckte mit den Schultern. „Nun, schön dass ihr auch so mir glaubt." meinte sie zufrieden. „Und wenn der Dämon vorhat, euch aus dem Raum zu schimmern, dann werdet ihr hier landen." erklärte Belva und griff in die Tasche ihres weiten Gewandes. Sie holte zwei Donnersteine heraus und postierte einen auf der rechten Seite des Eingangs. Sie murmelte einige Worte und streute ein Pulver über den Stein, bevor sie den anderen auf die linke Seite stellte und ihr Ritual wiederholte.

Cole und Prue sahen ihr wie gebannt zu. „Das wird dir nichts nutzen." stellte Cole unmissverständlich klar.

Belva lachte auf. „Oh gerade du weißt doch, wie gut es funktioniert, und noch einmal wirst du mir nicht entkommen, dafür ist gesorgt." erklärte sie und sah Prue an. „Wenn du versuchen solltest, mit ihm den Raum zu verlassen, dann werden ihr getrennt und du landest hier." Sie zeigte auf den linken Donnerstein. „Und selbst wenn du eine Fähigkeit hast, dich selbst du teleportieren, dann landest du dort, das macht keinen Unterschied." fügte sie achselzuckend hinzu und zeigen auf den rechten Donnerstein. „Und der Dämon landet dort."

„Wir werden einen Weg finden, um hier herauszukommen, verlass dich darauf." erklärte Cole überzeugt. Er musste einfach daran glauben, er durfte nicht zweifeln. Sein Gesicht war nach außen hin vollkommen ausdruckslos, er würde Belva nicht die Genugtuung geben, daraus Schlüsse zu ziehen. „Und das wird nicht angenehm für dich werden, verlass dich darauf." teilte er ihr kalt mit mit.

„Nun ich wünsche euch viel Spaß bei dem Versuch." erklärte Belva unbeeindruckt. „Ich bin zuversichtlich, dass wir uns bei der Zeremonie wiedersehen werden, denn ich habe mir nette Aufgaben für euch ausgedacht."

„Die wir aber niemals ausführen werden, wir sind stärker als dein Zauber." teilte Prue ihr im Brustton der Überzeugung mit.

„Da bin ich gespannt, also versucht es nur." meinte Belva und lachte höhnisch. „Ich bin euch weit überlegen. Ich werde meinen Spaß haben." erklärte sie.

„Natürlich, aber Ayida wird dein Opfer nicht annehmen." versuchte Cole es erneut und suchte in seiner Jackentasche nach dem Röhrchen mit Dannys Haarsträhne. Doch bevor er es Belva zeigen konnte, wurde die Mauer wieder undurchsichtig und verwandelte sich in eine normale Backsteinmauer.

„Mist!" meinte Cole und sah auf das Fläschchen in seiner Hand. In der wiederkehrenden Dunkelheit konnte er es kaum erkennen. Doch vielleicht war es besser gewesen, es Belva nicht zu zeigen, denn so war Danny wenigstens bis Mitternacht in Sicherheit.