Kapitel 6: Die schmerzliche Wahrheit

Es war zum verrückt werden!

Genervt drehte sich Lumiere auf die Seite und schloss die Augen, doch es hatte keinen Sinn, er konnte einfach keine Ruhe finden. Und das lag vor allem an der Tatsache, dass er genau spürte dass irgendetwas nicht stimmte. Von Unruh hatte ihn keinen Moment alleine gelassen als er noch schwer krank war und jetzt, wo es Lumiere deutlich besser ging, hatte sich der Haushofmeister nicht ein einziges Mal sehen lassen. Und als ob das nicht ungewöhnlich genug war, benahmen sich alle anderen absolut merkwürdig. Prinz Adam, Prinzessin Belle, Madame Pottine, sie alle wichen seinem Blick aus, drucksten herum oder wechselten plötzlich das Thema, sobald Lumiere nach dem Verbleib seines Freundes fragte.

„Aber bestimmt nicht Plumette!"

Ja, Lumiere war sich sicher das seine geliebte Plumette ihm sagen würde was los war. Schließlich war sie doch extra losgegangen um zu sehen wo von Unruh steckte.

Wie auf ein Stichwort klopfte es an der Tür und nur einem Moment später betrat Plumette das Zimmer, ein Tablett mit Essen in den Händen.

„Lumiere, mon amour! Ich bringe dir… Lumiere, sacre bleu, was tust du?"

Sie hätte vor Schreck fast das Tablett fallen lassen, als sie sah, das Lumiere gerade im Begriff war aufzustehen.

„Oh, mon cherie! Solch obszöne Worte aus deinem entzückenden Mund?"

Die Frau hielt ob dieser Worte völlig perplex inne, ehe sie empört fortfuhr: „Lumiere! Ich meine es ernst! Du sollst noch nicht aufste'en! Der Doktor 'at gesagt…"

„…das ich ihm Bett bleiben soll, bis er sich sicher ist, das ich kräftig genug bin.", beendete Lumiere den Satz seiner Liebsten, wobei er theatralisch die Augen verdrehte. Doch als er ihr wütendes Gesicht sah, lächelte er und lenkte mit sanfter Stimme ein: „Mon amour… Ich werde den Raum nicht verlassen bis der Doktor es erlaubt, du 'ast mein Wort."

Plumette schnaufte verächtlich, stellte das Tablett ziemlich lautstark auf einem nahen Tisch ab und meinte bestimmt und mit vor der Brust verschränken Armen: „Das will ich dir auch geraten 'aben, Monsieur!"

Lumiere lachte, ehe er sich mit sichtlicher Mühe erhob und einen Moment damit kämpfte das Gleichgewicht zu halten. Schon war Plumette an seiner Seite und stützte ihn, den besorgten Blick nicht von ihrem Liebsten lassen. Er lächelte, ehe er einen sanften Kuss auf ihren Lippen hinterließ.

„Aber ich muss mich ein paar Schritte bewegen, bevor meine Beine noch völlig vergessen wozu sie gut sind."

Jetzt war es an Plumette mit den Augen zu rollen, auch wenn sie sich ein leises Lachen nicht verkneifen konnte.

„Nun gut, aber wirklich nur ein paar, oui?"

„Oui.", flüsterte er liebevoll, bevor er sich mit langsamen und sehr wackeligen Schritten zum Tisch bemühte. Es gefiel ihm überhaupt nicht, doch als er den Tisch erreicht hatte und sich mehr auf den Stuhl fallen ließ als sich zu setzen, musste er doch zugeben, dass ihn die wenigen Schritte sehr angestrengt hatten. Lumiere musste ein paar Mal tief durchatmen, bevor er sich dem Essen widmen konnte. Plumette sah ihn fast schon strafend an.

„Siehst du, ich 'abe es dir gesagt! Du bist noch zu schwach um 'ier 'erum zu laufen!"

Lumiere sagte nichts, lächelte nur beschwichtigend und begann zu essen. Er bemerkte selbst dass ihm die Energie fehlte, von der er normalerweise fast schon zu viel zu haben schien. Und auch wenn ihm das Atmen deutlich leichter fiel und seine Hustenattacken deutlich zurückgegangen waren, er würde sich wohl eingestehen müssen, das es noch etliche Tage dauern würde, bis er wieder ganz der Alte war. Doch er hatte Zeit, es gab also keinen Grund sich darum Sorgen zu machen. Etwas anderes machte Lumiere aber sehr wohl Sorgen. Oder besser gesagt, jemand anderes.

Aber sollte er Plumette wirklich fragen? Würde sie ihm Rede und Antwort stehen, oder würde sie genauso ausweichend und abwehrend reagieren wie die anderen? Die Sorge um seinen besten Freund war nicht mehr auszuhalten. Er zögerte, aber er musste einfach wissen was los war.

„Plumette… 'ast du... 'ast du eigentlich das Versteck unseres 'aus'ofmeisters gefunden?"

Er lachte, doch als er ihren Gesichtsausdruck sah, verging ihm das Lachen schlagartig. Sie war plötzlich blass geworden, die Haltung steif und angespannt. Einen Moment starrte sie ihn an, ehe sie den Blick abwand und nervös an ihrer Schürze herumzupfte.

„Plumette, was…"

„Es… Es tut mir leid…"

Sie sah Lumiere für einen Augenblick an, tränen ihn den Augen, dann drehte sie sich plötzlich auf dem Absatz um und stürzte zur Tür.

„Plumette!"

Noch ehe Lumiere überhaupt reagieren konnte war sie verschwunden und hatte die Tür mit so viel Schwung hinter sich zugezogen, dass diese lautstark ins Schloss fiel.

Lumiere blieb wie vom Donner gerührt sitzen und wusste nicht was er tun, oder auch nur denken sollte. Verwirrt starte er auf den Teller vor sich und versuchte zu begreifen was eben geschehen war, doch es gelang ihm nicht. Nur eines war ihm absolut klar: Etwas war geschehen, etwas das mit von Unruh zu tun hatte. Und so, wie alle um ihn herum reagierten, musste es etwas schlimmes sein. Doch warum sagte ihm niemand etwas? Warum ließen ihn alle ihm Ungewissen?

Jeder im Schloss wusste, das der Koch und der Haushofmeister wie Hund und Katze waren.

Jeder wusste, dass es unweigerlich zum Streit kam, wenn die beiden in einem Raum waren.

Jeder wusste, dass die beiden Männer einfach nicht in Frieden miteinander leben konnten.

Und jeder wusste, dass keiner der beiden ohne den anderen Leben konnte.

Jeder wusste, dass die beiden eine innige Freundschaft verband.

Jeder wusste, dass sie sich liebten wie Brüder.

Jeder wusste, dass die beiden alles für den jeweils anderen tun würden.

Also warum? Warum sagte ihm niemand was geschehen war? Hatten sie einfach Angst er war noch zu schwach für schlechte Nachrichten? Und wenn ja, hieß das, das nicht nur einfach etwas Schlimmes, sondern etwas wirklich Schlimmes passiert war?

Lumiere begann zu zittern. War sein bester Freund etwa in Gefahr? Er merkte wie sein Herzschlag und damit auch seien Atmung immer schneller wurde. Er musste wissen was los war! Sofort!

Schon sprang er auf die Beine und wäre in selben Moment gestürzt, hätte er sich nicht auf dem Tisch abgestützt. Er kniff die Augen zusammen und versuchte das Gleichgewicht zu halten, während sich der ganze Raum um ihn zu drehen schien. Erst nach einer ganzen Weile legte sich der Schwindel und Lumiere wagte es, die Tischplatte loszulassen. Einen Moment noch bliebe er stehen, ehe er wankend zur Tür schritt. Also er nach einer gefühlten Ewigkeit dort ankam, hielt er wieder inne, nicht nur um wieder zu Atmen zu kommen, sondern auch um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Doch er hatte keine Zeit zu verlieren! Schon ergriff er die Klinke, als ihn ein Gedanke innehalten lies. Hatte er nicht eben gerade erst Plumette das Versprechen gegeben, das er den Raum nicht verlassen würde? Seufzend ließ er den Arm sinken. Er konnte doch nicht…

Aber andererseits…

Sie belogen ihn. Jeder seiner Freunde belog ihn, in dem ihm niemand die Wahrheit sagte.

War es da nicht recht und billig, wenn er ein Versprechen brach um die Wahrheit zu erfahren?

Er zögerte immer noch, wobei er bemerkte wie er mehr und mehr zitterte, ob vor Aufregung oder Anstrengung, konnte er nicht sagen.

Schließlich schüttelte Lumiere entschlossen den Kopf, ergriff die Klinke, öffnete die Tür und trat auf den Flur. Er konnte Plumette später immer noch um Verzeihung bitten…

Lumiere wusste zunächst nicht wohin.

Er schaute den Flur entlang, in dem sich Zimmer an Zimmer reihte, die meisten waren Gemeinschaftsräume, die auf diesem Flur aber nur von männlichen Angestellten bewohnt waren. Er selbst hatte als Koch und damit höher gestellter Bediensteter das Privileg einen Raum für sich allein zu bewohnen, auch wenn dieser eine recht überschaubare Größe hatte.

Die weiblichen Angestellten hatten ihre Quartiere ebenfalls auf der unteren Etage des Schlosses, aber auf der anderen Seite des Flügels.

Lumiere überlegte. Es war still im Schloss, wahrscheinlich war das Mittagessen gerade vorüber und wer nicht mit Aufräumen in der Küche beschäftigt war ging anderorts seinen Pflichten nach, oder hatte sich zu einer kleinen Mittagspause zurückgezogen. Auch von Unruh pflegte eine solche Pause zu machen, meist in seinem Büro, das sich direkt neben seinen privaten Räumlichkeiten befand. Dort trank er bisweilen eine Tasse seines Lieblingstees und schaute aus dem Fenster, während er die Stille genoss, bevor er sich wieder in die Arbeit stürzte. Lumiere lächelte, während er sich langsamen Schrittes auf den Weg machte. Ja, er kannte seinen besten Freund und dessen Gewohnheiten nur zu gut.

Immer an der Wand abstützend schaffte es der junge Mann schließlich bis zur großen Treppe, die er langsam und nur mit größter Mühe empor stieg. Er musste wirklich kämpfen, doch schließlich schaffte er es bis in das obere Stockwerk. Am Anfang des Flures, an dessen Ende sich die privaten Räume des Prinzenpaares befanden, war auch das Quartier des Haushofmeisters. Schon wollte Lumiere an die Tür klopfen, hinter der sich von Unruhs Büro befand, als sein Blick auf die nächste Tür fiel.

Verwundert hielt Lumiere inne, denn die Tür, welche zu den Privaträumen des Haushofmeisters führte, stand einen Spalt weit offen. Das war mehr als nur ungewöhnlich, den von Unruh lies diese Tür niemals offen stehen! Also musste jemand dort gewesen sein, aber… Niemand durfte diese Räume ohne ausdrückliche Erlaubnis betreten, jeder im Schloss wusste das! Und auch wenn die Bediensteten die Befehle des Haushofmeisters gerne mal außer Acht ließen, an diese Regel hielten sich alle, ohne Ausnahme, Lumiere eingenommen. Ja selbst der Prinz hielt sich daran, also wer hatte die Frechheit besessen die Regel zu brechen und noch dazu die Tür offen zu lassen? Noch während Lumiere nachdachte hörte er eine Stimme im Raum, die sich der Tür näherte. Der Koch machte sich bereit der Person die so offensichtlich in die Privatsphäre seines Freundes eingedrungen war eine gehörige Standpauke zuteilwerden zu lassen, ganz egal wie schwach er sich fühlte. Denn er war, so musste er mit schrecken erkennen, bereits am Ende seiner Kräfte. Er lehnte mehr an der Wand als das er stand, der Atem schnell und angestrengt, die Hand auf seiner Brust in sein Hemd gekrallt. Doch das war ihm egal! Und so raffte er sich auf und versuchte eine aufrechte Haltung einzunehmen, als die Tür sich schließlich öffnete.

„Wie können sie es wagen in die Privaträume…"

Weiter kam Lumiere nicht, als die Person sich erschrocken zu ihm umdrehte und er erkannte wer es war.

„'err Doktor? Mon dieu, was wollen sie…"

Mitten im Satz verschlug es ihm die Sprache, als sein Blick auf die Arme des Arztes fiel. Diese waren voller gebrauchter Verbände, zerschnitten, zerknüllt und… Blutig.

Lumiere starrte auf die Verbände, auf das Blut. Von Unruh's Blut…

„Monsieur, ich denke es ist besser wenn sie… Monsieur, wo wollen sie… HALT!"

Doch Lumiere war nicht mehr zu halten. Mit einer Kraft, von der nicht wusste woher sie plötzlich kam, stürmte er am Arzt vorbei in das Zimmer, durch den Raum, der als Wohnzimmer eingerichtet war, durch die nächste Tür in das Schlafzimmer. Vor Aufregung geriet er ins Stolpern und konnte sich gerade noch am Fußende des Bettes festhalten. Dort kam er zum Stehen und rang nach Atem, ehe er auf das Bett sah.

Er war für einen Moment wie erstarrt, ehe er wie ferngesteuert um das Bett herum ging, bis er neben der Person stand, die dort regungslos lag.

„Von Unruh…"

Er bemerkte nicht wie der Arzt an ihn herantrat, hörte nicht die beruhigenden Worte oder spürte die Hände, die ihn sanft, aber bestimmt wegziehen wollten.

Er ließ den Blick über seinen besten Freund gleiten, die blasse Haut, die tiefliegen Augen, die eingefallenen Wangen, den dicken Verband, auf dem sich erneut ein tiefroter Fleck ausbreitete.

Es war, als würde die Zeit stillstehen. Für einen Moment wusste Lumiere nicht was er denken, sagen, tun, oder auch nur fühlen sollte. Doch dann fühlte er, wie sein Herzschlag immer schneller wurde und sein Atem immer kürzer und hastiger. Dann ein Keuchen, welches schnell zu einem Husten wurde, der mit jedem Atemzug heftiger und schmerzhafter wurde, bis Lumiere das Gefühl hatte keine Luft mehr zu bekommen. Panisch rang er nach Luft, eine Hand auf seine Brust gepresst, die andere Krallte sich in das Bettlacken. Doch er ließ den Blick nicht von seinem Freund, auch nicht, als seine Sicht immer verschwommener und dunkler wurde. Er hörte nicht sein eigenes keuchen, oder die Worte des Arztes, nur das Rauschen seines Blutes klang in seinen Ohren.

„Von… Unruh…"

Seine Beine gaben seinem Gewicht nach und noch während er fiel wurde es schwarz um ihn.

„Henry…"