Der Sprechende Hut

Niamh blickte beeindruckt zur Fassade von Hogwarts auf. Die Schule war größer, als sie gedacht hatte, und erinnerte eher an eine mittelalterliche Burg. Viel Zeit, sich das Gebäude von außen zu betrachten, blieb ihr allerdings nicht.

„Willkommen in Hogwarts. Ich bin Professor McGonagall."

Niamh erkannte die gestrenge Dame aus dem Zug wieder.

„Ihr werdet mir nun nach drinnen folgen. In der Großen Halle werden wir gleich zu Abend essen, aber vorher findet die Auswahlzeremonie statt, wo sich entscheidet, wer in welches Haus kommt. Es gibt Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin."

Aufgeregtes Geraune und Geschwätz ging durch die Reihen der neuen Schüler.

Hoffentlich findet diese Zeremonie bald statt, dachte Niamh genervt. Dieser kichernde Haufen Zwölfjähriger war so gar nicht nach ihrem Geschmack, ausserdem kam sie sich als die einzig Ältere blöd vor.

McGonagall geleitete die Gruppe Schüler durch schier endlose Gänge und über mehrere Treppen, bis sie eine große Flügeltür erblickten, aus der warmes Licht und Stimmengewirr drangen.

„Wir sind am Ziel, das ist die Große Halle", erklärte die Lehrerin und führte ihre Schar durch die Reihen der langen Tische ganz nach vorne.

Alle Schüler starrten die Neuankömmlinge neugierig an, und Niamh war froh, sich heute sorgfältig zurechtgemacht zu haben.

Unauffällig ordnete sie noch einmal ihr langes, zu weichen, leicht zerzausten Locken gedrehtes blondes Haar, als ein neuer Schüler nach dem anderen nach vorne aufs Podest gerufen wurde und dort auf dem Stuhl Platz nehmen musste.

Immer, wenn der Sprechende Hut- ein hässliches, schmuddeliges Ding, wie Niamh fand- den Namen eines Hauses verkündete, brachen an dem betreffenden Tisch Beifallsschreie und Klatschen los.

Es schien noch eine Weile zu dauern, bis sie an die Reihe kam. Der Sprechende Hut war erst beim Buchstaben D angelangt.

Niamh nutzte die Zeit, um in der Menge nach ihr bekannten Gesichtern zu suchen. Sie entdeckte Draco, der am Slytherin- Tisch saß, sie mit unfreundlichem, finsterem Blick fixierte und dann etwas zu dem neben ihm sitzenden Jungen sagte, woraufhin beide in Gelächter ausbrachen.

Niamh wand sich unbehaglich. So auf dem Präsentierteller zu sein, mißfiel ihr.

Jetzt sah sie auch Parvati und Lavender am Gryffindor- Tisch, die ihr freundlich zuwinkten.

Sie hoffte, nach Gryffindor oder Ravenclaw zu kommen...wenigstens wären ihr dort nicht alle unbekannt.

Und nach Slytherin, zu Malfoy und seinen unangenehmen Kumpanen...nein danke. Schon bei dem Gedanken daran graute es ihr.

„Niamh Kedward!"

Es wurde wieder still in der Halle, nur vereinzelt gab es Getuschel, was sicher darauf zurückzuführen war, dass es nur selten vorkam, dass jemand erst in einer höheren Klasse nach Hogwarts kam.

Niamh nahm mit weichen Knien auf dem Stuhl Platz, damit McGonagall ihr den Hut aufsetzen konnte.

Der Hut regte und wand sich auf ihrem Kopf, murmelte dies, raunte jenes, machte „Ah!" und „Oh!" und fühlte sich alles in allem recht unangenehm an.

Ganz zu schweigen davon, dass er ihre Frisur vermutlich völlig zerdrückte mit seinem Gezappel.

Endlich, nach einer Niamh endlos erscheinenden Zeitspanne, rief er laut: „Gryffindor!"

Ein Stein fiel ihr vom Herzen, sie war also doch nicht nach Slytherin gesteckt worden. Niamh eilte erleichtert an den Gryffindor- Tisch, wo sie freundlich empfangen wurde und sich auf einen Stuhl neben Lavender setzen konnte.

Froh, aus dem Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit entkommen zu sein, verfolgte Niamh den Rest der Zeremonie.

Das anschließende Essen ließ wirklich keine Wünsche offen. Es gab alles, was das Schülerherz begehrte, und war Lichtjahre von dem Essen entfernt, welches bei Niamh zu Hause auf den Tisch kam.

„Wie kommt es, dass du erst im dritten Jahr zu uns kommst?" wollte ein Mädchen mit buschigen braunen Haaren wissen. Niamh erkannte in ihr das Mädchen wieder, welches sie in der Winkelgasse mit den beiden Jungs gesehen hatte.

„Ja, genau. Das ist nämlich sehr sehr ungewöhnlich..." mischte sichder rothaarige Junge, der damals auch dabeigewesen war, mit vollem Mund sprechend ein und stiess dabei den Kürbissaft des Mädchens um.

„Iiiiiiiih! Ron Weasley! Kannst du nicht aufpassen?" schimpfte das Mädchen. „Das ganze Tischtuch ist ruiniert, und schau dir meinen Teller an!"

Auf ihrem Teller schwammen nun Kartoffelpürree und Würstchen in orangenem Kürbissaft.

„Halb so schlimm, Hermine", beschwichtigte sie jetzt ein schwarzhaariger, strubbeliger Junge mit Brille und einer seltsam geformten Narbe auf der Stirn. Auchihn hatte Niamh- besonders anhand der auffälligen Narbe- gleich wiedererkannt.

Der Jungezückte seinen Zauberstab, murmelte einmal beschwörend: „Rescusio!", und schon waren Tischtuch und Teller sauber und der Saft wieder wohlbehalten im Glas.

Niamh staunte offenen Mundes. So etwas würde sie in fünfzig Jahren nicht zustande bringen.

„Danke, Harry", sagte das Mädchen. „Das ist übrigens Harry, der rothaarige Tolpatsch da heisst Ron, und ich bin Hermine Granger!"

Niamh antwortete nicht, sondern beäugte Harry fasziniert. Das also war der berühmte Harry Potter, naja, kein Wunder, dass der es drauf hatte.

Sie hatte ihn sich irgendwie größer vorgestellt, attraktiver, eindrucksvoller.

Aber was machte das schon, immerhin wirkte er nett und freundlich, nicht wie dieser eiskalte Schnösel Malfoy.

„Das ist Niamh", ergriff Lavender das Wort, als Niamh selber keine Anstalten machte, sich vorzustellen. „Wir haben uns bereits im Zug kennengelernt."

„Oh", sagte Hermine. „Willkommen bei den Gryffindors, Niamh. Unser Haus ist das beste. Du hast Glück."

Niamh hätte wetten können, dass die Ravenclaws, Hufflepuffs und Slytherins dasselbe von ihren Häusern sagten.

„Also...warum kommst du erst jetzt?" wiederholte Hermine ihre Frage.

„Meine Eltern wollten es", erwiderte Niamh knapp. Sie hatte keine Lust, näher auf das Familiendrama, welches sich in den letzten vierzehn Tagen bei ihr daheim abgespielt hatte, einzugehen.

Hermine spürte die Abwehrhaltung des blonden Mädchens und drang nicht weiter in sie.

Nach der Nachspeise, die aus verschiedenen Eissorten und Sahne bestand, ergriff Professor Dumbledore das Wort.

„Die Vertrauensschüler werden nun die neuen Schüler in ihre Häuser begleiten und ihnen die Schlafsäle sowie die Gemeinschaftsräume zeigen. Ich wünsche euch allen ein angenehmes und erfolgreiches Schuljahr hier auf Hogwarts!"

Alle begannen zu reden, ihre Stühle zurückzuschieben und aufzustehen. Die Große Halle summte wie ein Bienenstock.

Ein langer Rothaariger, der bisher schweigend neben Ron gesessen hatte, stand auf. „Alle neuen Gryffindors her zu mir", rief er. „Ich bin Percy Weasley und Vertrauensschüler für Gryffindor!"

Er deutete auf das Abzeichen an seiner Brust.

Niamh schob sich in seine Richtung, um nicht den Anschluss zu verpassen, als jemand sich einfach bei ihr unterhakte.

„Hi, ich bin Ginny Weasley", plapperte die kleine Rothaarige drauflos. „Deine Haare sind toll. Ich wäre auch so gerne blond, aber bei uns sind alle rothaarig."

Sie seufzte. „Leider werden wir nicht in einem Schlafsaal sein, ich bin erst in der Zweiten!"

„Wie viele Weasleys gibt es eigentlich?" fragte Niamh verwirrt.

„Also, da wären ich, Ron, Percy, und die Zwillinge. Und dann ist da noch Charly, aber der ist schon lange mit der Schule fertig. Und dann gibt es natürlich noch unsere Eltern...Oh, ich muss los, sonst sind alle guten Betten im Schlafsaal belegt. Wir sehen uns!" Mit einem Winken war Ginny in der Menge verschwunden.

Niamh folgte Percy, der zuerst die Erstklässler auf ihrer Etage ablieferte. Wild kreischend eroberten sich diese ihre Betten und Schränke, so dass Niamh sich die Ohren zuhalten musste.

„So, nun zu dir", sagte der schlaksige Rothaarige und stieg vor ihr eine Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Niamh hatte Mühe, Schritt zu halten.

Oben angekommen, holte Percy tief Luft. „Zur Linken ist der Jungenflügel. Betreten ist für euch Mädels verboten, aber das steht alles in der Schulordnung. Zur Rechten logiert ihr."

Er schritt wieder voran und öffnete dann schwungvoll eine Tür. „Voilá!" verkündete er. „Der Mädchenschlafsaal der dritten Klasse. Ich hoffe, du lebst dich gut ein."

Und weg war er.

Niamh stellte verdattert fest, dass ihr Gepäck, auch der Käfig mit ihrer Katze bereits von irgend jemandem hochgebracht worden war. Sie hatten alle ihr Gepäck in der Eingangshalle zurückgelassen.

„Oh, das waren die Hauselfen", erklärte Hermine. „Schau mal, Lavender und ich haben schon mal dieses Bett für dich reserviert."

Dankbar registrierte Niamh, dass sie zwischen Hermine und Lavender schlief.

„Danke", sagte sie lahm.

„Der Stundenplan dieses Jahr ist echt heftig. Ich werde pausenlos lernen müssen", jammerte Hermine.

Wie wird es dann erst mir ergehen, überlegte Niamh verzagt. Sie kramte ihr Handy aus dem Koffer und lief, auf der Suche nach Empfang, langsam im Schlafsaal auf und ab.

"Das kannst du vergessen", klärte Hermine sie auf. "Die Dinger funktionieren inund um Hogwarts nicht. Deshalb hat keiner von uns ein Handy dabei."

"Warum nur überrascht mich das nicht?" murmelte Niamh frustriert und machte sich daran, ihre Sachen auszupacken.